Kaisersgeburtstag.

[107] Heute war auch Kirche. Ich meldete mich unwohl, denn der Anstaltsgeistliche konnte mir keinen Knüppel mehr zwischen die Beine werfen. Doch diese Krankmeldung war erheuchelt.

Der Herr Werkmeister sagte zu mir bei meiner Entschuldigung: »Sie können doch in die Kirche gehen?«

»Nein, ich habe während meines bisherigen Aufenthalts immer die Kirche besucht, ein halbes Jahr lang, bei mir ist jede Simulation ausgeschlossen,« war meine Antwort. – »Treten Sie aus«, erwiderte der Herr in Uniform.

Vor zehn Wochen brauchte dieser Herr einen Kalfaktor, ich meldete mich, wurde aber nicht angenommen.

Wir wurden also in unseren Arbeitssaal eingesperrt. Die Leute, die sich krank meldeten, waren meist alte Männer. Alte Speckjäger, wie sie im Volksmund genannt werden. Leute mit Fußschäden, erfroren Füßen. Aus Angst vor der Polizei hatten sie draußen im Winter biwakiert, im Fusel sich vollgetrunken. Während ihre Sinne betäubt, hatte die Kälte ihnen ein lebenslanges schmerzhaftes Gebrechen zugefügt. Mancher, der Altersrente bezog, war dabei – der aber keine Rente während seines Hierseins bekam. Früher bekamen die Leute, wenn sie entlassen wurden, die nicht ausbezahlte Rente nachträglich; dieses war vom Staat beschnitten worden. So wie sie kamen, so arm wie eine Kirchenmaus wurden sie entlassen.

Fast jeder hatte frostkranke Füße. Da war ich unter diesen Leuten doch noch der Glücklichste; bis jetzt hatte ich noch nicht ein einziges von Frost beschädigtes Glied – und im Stillen dankte ich es meiner Organisation, dem deutschen Metallarbeiterverband. Er war immer meine zweite Mutter gewesen.[107]

Die Kirche war aus und ihre Besucher kamen wieder in ihre Abteilungen. Meine Gedanken beschäftigten sich nicht mit dem patriotischen Wert dieses Tages; ich bin kein Mensch, der jeder Regimentsmusik nachläuft – ich habe meinen eigenen Kopf, und dieser sagt mir: In Deutschland ist wohl die Luft in Zellen verpachtet – aber es gibt noch – eine Gedankenfreiheit – wie Schiller in seinem Don Carlos es schrieb. Für mich bleibt selbst der »höchste Herr« Mensch und ein Produkt seines Milieus und seiner Umgebung. – Ich denke an einen guten Menschen und Genossen: »Albert Schmidt,« Redakteur der Magdeburger Volksstimme. Ihm brachte einst eine von ihm gedichtete Fabel drei Jemmchen und nach seiner Entlassung eine – Neurasthenie ein.

Quelle:
Schuchardt, Ernst: Sechs Monate im Arbeitshaus. Erlebnisse eines wandernden Arbeiters, Berlin [1907], S. 107-108.
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