Kleine Erlebnisse.

[95] Mein Schlafpartner, der als Färber von Kokosfasern außer der Anstalt arbeitete, wurde entlassen. In dieser Woche, am Sonntag vor seiner Entlassung, habe ich ihm seinen letzten Rest von geliehenem Tabak gegeben; seit einigen Wochen konnte auch ich mir jede Woche Viktualien schreiben lassen. Sieben Pfennig pro Tag war mein Lohn. Für 21 Pfennig konnte ich jede Woche schreiben lassen – von meiner vierzehnten Woche an. Als mein Freund am Morgen ging, wünschten wir uns Glück gegenseitig. Wir trafen uns niemals wieder.

Die Tage dieser Woche gingen schablonenmäßig, langweilig zu Ende ohne jedes besondere Ereignis.


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Seit ein paar Wochen war ein kleiner, bulliger Kerl in meiner Schlafsaalabteilung; zwei Betten von mir entfernt lag er. Von Beruf war er Uhrmacher, ein geschickter und flinker Mensch. Für sämtliche Beamten reinigte er die Taschenuhren[95] und auch Wanduhren. Selbst die alte Kirchenuhr setzte er wieder in eine leichtere Gangart. Dieser Mensch hatte sich Spiritus verschafft – wer weiß von wo, vermutlich aus der Hospitalabteilung – trank ihn und litt nun an Alkoholvergiftung. Die Beamten, die den Schlafsaal revidierten, hatten ihn gesucht. In einem Winkel fanden sie ihn auf. Taumelnd betrat er den Saal. Er kippte hin und her und seine nicht schlanke Gestalt sah wie ein Häufchen Unglück aus. Wir zogen ihn aus und legten ihn in sein Bett. Aber der Spiritusteufel ließ ihm dann keine Ruhe. Er schimpfte wie ein Rohrspatz noch im Bett und kroch wie ein Krebs wieder heraus, um seine Notdurft zu verrrichten. Beim Aufsetzen auf den Kübel verlor er das Gleichabwicht und rutschte hinein. Einer von den Leuten, die nicht weit von den Abortkübeln schliefen, half dem armen Teufel wieder aus seiner traurigen Lage, selbstredend unter dem Gelächter des gesamten Saalpersonals. Erst löschten sie seinen riesigen Durst; in großen Zügen trank er Wasser. Unter großem Gelächter brachten wir ihn gleich einem kranken Affen zu Bett. Am andern Tag mußte er zum Direktor und erhielt seinen Verweis – wurde aber nicht bestraft.


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In 14 Tagen ist Weihnachten. Es waren nicht viel Decken zu scheren und vor Neujahr sollte Inventur sein. Wir räumten die Lager auf, zählten die Decken, wogen Garn und Wolle. Der Meister in der Fabrik beaufsichtigte uns. Die Natur hatte sich verändert. Schnee lag im Terrain des Arbeitshauses und Frost war eingetreten. Wenn wir nach dem Lager mit einem Handwagen fuhren und kein Aufseher uns beobachtete, warfen wir uns wie Buben mit Schnee. Natürlich zog ich immer den kürzesten; M. war so flink wie eine Katze und der Meister hielt sich seinen Bauch vor Lachen, wenn M. mich mit Schnee beschüttete.

M. war ein vorzüglicher Arbeiter und packte schwer zu, auch im Abzählen von Stückware kam ihm nicht so leicht einer[96] nach. Den Krauter veranlaßt er, daß die Firma extra Wurstgeld bewilligte. Die Wurst vom Meister teilte M. gerecht.

Den Schauspieler, der auf dem Lager beschäftigt war, konnte M. nicht leiden – und mehr als einmal gab es kleine Anrempelungen. Der Kerl war zu futterneidisch, obwohl er wußte, daß wir fünf in der Deckenschererei ganz anders zufaßten, als er.

So vergingen die 14 Tage vor dem Weihnachtsfest. In der Adventszeit war auch einmal in der Woche für uns Kirche. Eine vorbereitende Zeit zu Christi Geburt, denn auch für uns sollte der Heiland geboren, gelebt und gekreuzigt worden sein. – –


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Am 23. Dezember kam ein Aufseher und teilte uns mit, der Herr Direktor habe für jeden Mann 30 Pfennig aus seiner Privatschatulle bewilligt, um uns Korrigenden eine kleine Weihnachtsfreude zu machen. Wir nahmen es mit bestem Dank an. Ich hätte am liebsten darauf verzichtet, denn die vergangene Woche teilte mir der Schlafsaalkalfaktor mit, der Herr Direktor habe gesagt, ich würde bestraft, wenn ich mein Bett nicht ordnungsmäßiger machte. Der Schlafsaalkalfaktor sagte: »Der Direktor muß Dich schwer gefressen haben, denn andere machen ihre Fallen noch bedeutend schlechter als Du! Aber ich will schon aufpassen, daß Du keine Strafe erwischst. Frei und offen sagte ich es auch zu ihm, daß Du jeden Tag Deine Matratze wendest und Deine eingezogenen Decken glatt legst. Da hat mich der Direktor nicht schlecht angeschaut. Er kann die roten Brüder nicht leiden!« Der Schlafsaalkalfaktor war ein guter Kerl, mir tat er manche Gefälligkeit. Wegen meines großen Mundes war ich ja auch bei manchen von den alten Leuten nicht beliebt.

Der Schlafsaal wurde nicht geheizt und wir mußten bei der Kälte unsere manchmal noch leicht dämpfige Wäsche wechseln. Wir beschwerten uns und der Hausvater erlaubte uns, unsere Hemden erst mit unserer Körperwärme, also im Bett, durchzuwärmen.[97]

Er dachte, es sei gesund, die Hemden kalt in einem eisigen Raum anzuziehen. Ich danke dafür, – doch was der Mensch nicht selbst fühlt, dafür fehlt auch der Begriff. Was dies für eine Quälerei war, läßt sich nicht niederschreiben. Eine extra wollene Jacke wollte ich mir nicht kaufen, – ich konnte es ja auch nicht, – sonst hätte ich fast gar kein Geld mehr bei meiner Entlassung erhalten.

Quelle:
Schuchardt, Ernst: Sechs Monate im Arbeitshaus. Erlebnisse eines wandernden Arbeiters, Berlin [1907], S. 95-98.
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