Dresden.

[56] Wohin? Schuch hatte einen italienischen Ballettmeister mit seiner Frau verschrieben, Curioni, die kamen von Dresden. Mein Vater traf mit dem Kutscher einen billigen Akkord, und der war froh, seine Rückreise nicht leer zu machen. So reisten wir also ab und kamen zu Ende des Julius in Dresden an. Mein Vater hatte dort einen alten Bekannten aus Wien, mit Namen Canzacchi. Der war zu der Opera comique, die der Hof hielt, dort engagiert. Den suchte mein Vater auf und fand ihn. Er entdeckte ihm seine Umstände und ob er nicht vermitteln könnte, daß wir Kinder auf dem Königlichen Theater zu denen Balletts engagiert würden. Der Mann tat seinen möglichsten Fleiß, und Karl und ich wurden in der Tanzakademie, der Monsieur Jaen vorstand, aufgenommen. Aber da hatten wir keinen Gehalt; der war zugesagt erst auf den Winter, wenn wir mit in den Opernballetts würden gebraucht werden. Unterdessen wollten wir leben. Bis zum Winter war lange hin.

Mein Vater erkundigte sich nach dem Prinzipal von der deutschen Komödie. Dieser hieß Kirsch, spielte den Arlequin, seine Frau (wie es zu der Zeit Mode war) eine gute Aktrice – und nur brauche ich zu sagen, eine Schülerin von der berühmten Neubertin –, ja, unter der Kirschin betrat die nachher so berühmte Madame Seyler zuerst das Theater. Was aber mehr als all das ist, waren Kirsch mit seiner Frau rechtschaffene Leute. Das Zeugnis bin ich ihnen schuldig, und immer hat es mich gekränkt, wenn von diesen Leuten geschrieben[56] oder was gesagt worden, daß es in einem so niederen verächtlichen Ton war. Freilich fehlte es ihnen an Glück, freilich spielte er nur den Arlequin. Aber trotz Arlequinspieler hätte er sich geschämt, an seinen Nebenmenschen solche Bosheit auszuüben, deren sich mancher in der Welt großbezeichneter Schauspieler schuldig gemacht hat. Doch, ich lenke wieder ein. Dieser Kirsch spielte im Winter in Dresden und im Sommer im Radeberger Bad. Mein Vater ging mit meinem Bruder nach Radeberg zu Kirsch und trug sich ihm an. Der Mann war außer sich vor Freude; denn seine Gesellschaft war sehr schlecht bestellt, besonders mit Frauenzimmern; denn seine Frau und eine Mad. Witzmann, waren's alle. Der Akkord war geschlossen, und nach kurzer Zeit kam Kirsch mit seiner Gesellschaft nach Dresden. Wir spielten im August eine Komödie. Der Zuspruch war nicht groß, den zweiten Abend war gar niemand da. Und wer konnte es verdenken: die Preußen waren im Land, der Krieg nahm seinen Anfang. Da saßen wir wieder, hatten Brot gefunden, und der, der es mit so vielem Dank noch obendrein gegeben hätte, hatte selbst nichts. Zum Glück waren wir in einem Wirtshaus, wo der Mann uns noch gutwillig Wohnung und Essen gab, und sich damit tröstete, wir würden ihn gewiß bezahlen, wenn wir könnten.

Der Herbst kam; Preußen hatte Dresden in Besitz. Kirsch kam mit seiner Frau und weinten, baten uns um Geduld, und daß wir sie nicht verlassen sollten. Mein Vater sagte, er wollte ihnen den Rat geben, daß sie ersuchen sollten um die Erlaubnis, zu spielen. Kirsch sagte: »Ich bekomme sie vom Hof nicht.« »Nun, so wenden Sie sich an den König von Preußen!« »Ja, ich bin hier Bürger; wenn es mir der König erlaubt und es wird Friede, so tut es mir am sächsischen Hofe zu großen Schaden.« »Ja, gibt Ihnen denn jetzt der sächsische Hof was zu tun?« »Nein.« »Nun, können Sie denn hungern, bis Friede wird? Und dazu sieht es nicht aus.« Also, Kirsch, um keinen Fehl zu begehen, gibt ein Memorial am sächsischen Hof ein. – Abgewiesen, wie vorher gesagt! Und wo auch spielen? Denn das Hoftheater, das Gewandhaus, wo wir einmal gespielt, und noch ein Schauspielhaus,[57] das Locatelli im Zwinger erbauen lassen, da lag Proviant von der preußischen Armee. Also bedurfte man immer des Königs von Preußen. Kirschs also faßten Mut auf das Zureden meines Vaters, ließen sich ein Memorial machen und überreichten es dem Monarchen selbst. Er nahm es, las und sagte: »So, ist eine Komödie hier? Das ist gut. So haben meine Offiziere den Winter einen Zeitvertreib. Er kann spielen.« »Ja, Ihro Majestät, aber wo? Wir haben keinen Ort.« »Wo habt ihr sonst gespielt?« »Im Gewandhaus.« – »Das geht nicht! Das liegt zu bequem für meine Leute des Proviants wegen. Ist sonst kein Platz da?« »Ja, im Zwinger ist ein Komödienhaus, aber auch das ist voll.« – »Nein, das ist besser; es liegen nur Fässer mit Mehl darin. Ist ohnedies weit abgelegen. Die Fässer sollen heraus; ich werde gleich Befehl erteilen, und so könnt Ihr anfangen zu spielen, wenn Ihr wollt.« Kirschs waren durchdrungen von der Güte des Monarchen, konnten nicht danken, standen da und wollten sich ihm zu Füßen werfen. Er ließ es nicht zu, reichte jedem eine Hand, sie küßten solche, und er sagte noch: »Heute soll noch Anstalt gemacht werden, macht Eure Sache nur gut!«

Kirsch kam gleich mit ihr nach unserm Haus, ganz außer Atem, fielen meinen Eltern um den Hals. »Oh, Gott sei Dank und Ihnen, bester Mann, für Ihren Rat!« »Nun, sagte ich es nicht?« antwortete mein Vater. »Aber nun vor allen Dingen muß das mein ehrlicher Hauswirt wissen. Gottlob, nun hoffe ich, ihn bezahlen zu können.« Wir fingen also an zu spielen, und Kirsch nahm Geld ein; keinen Abend war es leer. Wir arbeiteten mit Lust, und wir bekamen alle Woche richtig unser Geld, und unsere Wirtschaft war so sparsam eingerichtet, daß wir auch ziemlich unsern Wirt abzahlten, zwar für uns nichts ersparen konnten, aber doch auch keine Schulden hatten.

Ich war nun mein elftes Jahr passiert, spielte Rollen, die sich freilich für mein Alter nicht schickten, als z.B. eine Laura im »Blinden Ehemann«. Ein großer Reifrock, hohe Absätze und Frisur, machten mich nun freilich eine Viertelelle länger. Aber im Ballett, das nur in drei Personen bestand,[58] war ich dann wiederum so viel kleiner. Also, um kein Aergernis zu geben, weil ich schon Weiber und junge Witwen spielte, gaben mich meine Eltern für 3 bis 4 Jahre älter aus. Ich selbst, die eben keine kindische Erziehung gehabt, gab mir in Gegenwart von Leuten ein ziemlich ernsthaftes Wesen. Doch gab ich oft noch heimlich, wenn ich meiner großen Puppe im Koffer ansichtig wurde, derselben einen Kuß. Und wenn ich ein Mädchen von gleichen Jahren mit mir fand, trug ich sie heimlich unter meiner Schürze nebst der ganzen Küche fort und spielte damit. Wenn ich so über mich selbst nachdenke, Gott, so freue ich mich noch meiner Jugend. Welch liebes Geschöpf war ich! Mein Betragen gegen jeden war so, daß man mich lieben mußte. Vielleicht wird es, wenn jemand diese Blätter lesen sollte, eitel klingen, wenn ich von mir selbst sage: die Natur hatte mich verschwenderisch schön gebildet. Es blieb auch nicht unbemerkt. Man denke nicht, daß ich nun anfangen will, einen Liebesroman von allen meinen Verehrern zu schreiben. Nein, nur insofern, als es zu meiner Geschichte unumgänglich gehört. Wer würde nicht alle diese Blätter nur für eine Erzählung und nicht wahre Geschichte nehmen, wenn ich den Leuten weismachen wollte, ich hätte nicht eher geliebt, als bis ich meinen Mann sah und den heiratete. Das wäre eine offenbare, unverzeihliche Lüge. Natürlich, so wenig ich auch damals wußte, was Liebe ist, so dachte ich doch, daß es so was geben müßte in der Welt. Die Schmeicheleien, die man mir sagte, die Rollen, die ich spielte, die Komödien, die ich las, das war die einzige Lektüre, die mir mein Vater gestattete, der meinen Hang zum Lesen merkte, mir ja alles, was Roman hieß, als schädliche Lektüre vorenthielt. Und wirklich hatte ich zu der Zeit nur erst einen gelesen, und das heimlich, in Braunschweig, nämlich, wenn es bekannt ist: »Der getreuen Prinzessin Bellamire wohlbelohnte Liebesprobe oder die triumphierende Treue«. Zweifle, ob je einer, der das Buch las, so viele Tränen dabei geweint hat wie ich, wenn ich so ihre Klagen über die Verfolgung, die sie erlitt, las. Doch alles, was man mir Schönes vorsagte, rührte mich nicht. Unmöglich kann ich umhin, noch eine Anmerkung mit einzustreuen. Daß wohl[59] kein Frauenzimmer in der Welt mehr Verdienst hat, wenn es ganz tugendhaft bleibt, wie ein Frauenzimmer bei dem Theater. Noch ehe es einen Unterschied weiß, ob außer ihrem auch ein anderes Geschlecht ist, lehrt man es die Liebe, schwatzt solchem die Süßigkeiten vor. Man lese z.B. viele Kinderrollen. Was läßt man nicht alles Kinder sagen, wird bewundert und beklatscht! Man sollte lieber weinen, so jung die Knospen von schädlichem Wurm anfressen zu lassen. Doch, was schwatz ich. Denk', lieber Leser, ich versetze mich in den Anfang des Jahres 1757, und nun sind wir, da ich dieses schreibe, am Ende des Jahres 1782. Was konnten 26 Jahre nicht ändern! Nun ist all mein Schnack Pedanterie, oder vielleicht denkt man gar von mir, ich bin eine Betschwester geworden. Nein, gewiß nicht. Wartet nur, bis ich in meiner Geschichte auch 26 Jahre älter bin. Dann sollt ihr finden, wie wenig Anspruch ich auf den Titel zu machen habe. Doch es ist Zeit, einzulenken.

Es war nach Neujahr, da wurde ein Stück gegeben, das hieß der »Karneval zu Venedig«. Ich spielte die Liebhaberin, bin in einer Szene maskiert und muß die Maske während des Spiels abnehmen, um mich meinem Liebhaber kenntlich zu machen. Ich soll hinaus und hatte vergessen, der Mama ihren Ring mitzunehmen, die solchen auch nicht am Finger hat. Wer war in größerer Angst wie ich? Papa war strenge, wenn man so was vergessen hatte; ich fürchtete ihn, wie ich ihn liebte. Mich öffentlich von ihm ausschelten zu lassen, das war mir zu schimpflich. Ich jammerte mit halbverweinten Augen: »Ach, wer hat einen Ring? Wer leiht mir einen Ring, nur auf einen Augenblick?« Ein Offizier, der mich hörte, sagte zu mir: »Hier, Mademoiselle Karolinchen, habe ich einen Ring, wenn der gut genug ist.« »O ja, ja, geben Sie nur, ach, wie danke ich Ihnen, und so steckte ich den Ring in die Maske und hielt solchen im Mund fest.« Nachdem der Auftritt geendigt war und ich in die Szene trat, gehe ich wieder zu dem Offizier, danke ihm und überreiche ihm den Ring. Er sagte: »Machen Sie mir die Freude und behalten solchen, wenn die Komödie wieder sollte gemacht werden. Mir ist es leid, daß er nur von so geringem Wert ist, aber im Krieg[60] nimmt man keine Juwelen mit.« (Der Ring war Gold und die Steine 9 Topasen.) Ich wollte solchen nicht annehmen und sagte, Papa litte so was nicht. »Nun, sagen Sie nur Papa die Art, wie Sie ihn bekommen, so wird er nicht böse werden; allenfalls will ich mich selbst bei ihm entschuldigen.« »Ich nehme ihn nicht.« »Die Sache ist an sich so unbedeutend, daß Sie mich beleidigen, wenn Sie ihn nicht behalten; ich würde ihn wegwerfen.« Der Ton und das Gesicht, mit dem er das sagte, erschreckte mich, und ich verneigte mich, ohne antworten zu können, und ging mit dem Ring in der Hand fort in meine Loge, wo ich mich umkleiden mußte, und spielte meine Rolle fort. Den Abend, als ich nach Hause gekommen war, sah ich, wie mein Vater gestimmt war, denn das kam darauf an, ob wir ihm zum Dank gespielt hatten oder nicht Er war mit uns zufrieden und also in der besten Laune. Ich erzählte ihm alles, was vorgefallen, und zeigte ihm meinen Ring. Mein Vater wurde mit einemmal ernsthaft, schon zitterte ich, und Tränen standen in meinen Augen. »Diesmal mag es hingehen, aber ein andermal nichts vergessen, was man in seiner Rolle braucht.« »Gewiß, Papa! Habe noch niemals eine Rolle gespielt, wo ich einen Ring brauchte, und meinen, wissen Sie ja, habe ich nicht mehr. (Ich hatte in Würzburg von dem ältesten Fräulein von Greiffenklau einen Ring bekommen.)« Diesen, mit meinen hin und wieder geschenkt bekommenen Schau-Münzen, gab ich meinem Vater zu verkaufen, als meine Mutter den Sommer in Dresden gefährlich krank wurde, mein Vater gern nach einem Doktor schicken wollte und sagte: »Gott, womit soll ich ihn bezahlen?« Stillschweigend holte ich meinen Rubinring vom Finger, küßte seine nassen Augen und sagte: »Damit, lieber Papa! Schaffen Sie nur Hilfe, daß Mama nicht stirbt!« »Mädel, mußt du denn immer deinem Vater aus der Not helfen? Gott wird dir's lohnen.« – Einen, mir gleich vorher begegneten Vorfall muß ich doch mit anmerken. Es war im vorhergehenden Jahr, nämlich 1756, den 8. November, als am Geburtstag meines Vaters. Er sagte des Morgens bei dem Frühstück zu uns: »Kinder, heute ist euer Vater 63 Jahre alt, nun trete ich in mein größtes Stufenjahr.[61] Lebe ich noch ein Jahr, so habt ihr Hoffnung, euren Vater noch einige Jahre zu behalten. Ich zweifle! Habe zu viel Sorgen gehabt; doch wünschte ich, nur solange zu leben, bis ich mein Weib, meine Kinder versorgt sehe. Doch, Herr, dein Wille geschehe, nicht der meine. Du wirst dann ihr Vater sein.« Diese Rede erschütterte mich. Der letzte Geburtstag meines Vaters vielleicht, und kannst ihm heute nichts schenken. Wenn Gott dir auch noch so viel gäbe, und Papa lebte nicht mehr, was könnte dir das alles helfen? Ich ging mit mir selbst zurate. Geld! Woher nehmen, ohne zu borgen, und wie wieder bezahlen? Ich suchte unter meinen Sachen, ob ich nichts fände. Auf einmal fällt mir meine ausgezupfte Seide in die Hände. Hurtig borgte ich mir eine Wagschale. Kein Lot! Gleich wurde meiner Jacke beste schwarze Salob nebst einem Unterrock zerschnitten und solange fortgezupft, bis das Lot sein volles Gewicht hatte. Nun lief ich zu einer Leutenantin, die mit ihrem Mann und zwei Kindern in dem nämlichen Hause wohnte und Fr. v. Bonnarz hieß. Von der hatte ich es gesehen, daß sie von solcher Seide Strümpfe strickte. Die frug ich: »Oh, Frau von Bonnarz, was geben Sie für ein Lot ausgezupfter Seide?« »Sechs Pfennig.« Wie froh war ich. »Da habe ich ein Lot! Wollen Sie mir die wohl abkaufen?« »O ja!« »Sie ist richtig gewogen, wiegen Sie solche nur nach!« »Glaub' es Ihnen, Kind, aber ich habe kein Kleingeld.« »Will Ihnen wechseln, denn ich brauche die sechs Pfennige gleich.« »Da also,« sie gab mir ein 4-Groschen-Stück; ich damit in den Laden und kaufe ein Lot Schnupftabak, bitte den Kaufmann, es mir doch in ein weißes Papier zu füllen. Nun im größten Frohlocken nach Hause; erst der Frau von Bonnarz ihre 31/2 Groschen wieder, dann in des Wirts Küche, mir einen blank gescheuerten Zinnteller geben lassen, meinen Tabak auf den Teller, etwas grüne Petersilie auf den Rand des Tellers herumgestreut, die Treppe wie toll hinaufgerannt, in das Zimmer hinein, und stellte mich mit meinem Präsent an den Schreibtisch meines Vaters hin. Sagen konnte ich nichts, denn ich hatte keinen Atem. Da ich immerfort stand, sah endlich mein Vater hin. »Mädel, was willst du?« »Da, da, Papa!« und ich fing bitterlich an zu[62] weinen, fiel ihm um den Hals und bedeckte ihn mit Küssen. Er hob mich auf seinen Schoß, drückte mich an seinen Busen. »Meine Lina, mein gutes Kind. Gott wird ja deinen Vater dir noch erhalten. Weine nicht, aber bleibe fromm und gut!« Mein Bruder hat mir wiedererzählt, daß, wie ich aus dem Zimmer weg war, mein Vater die Mutter gefragt, ob sie mir die sechs Pfennige gegeben. »Nein.« »Wo mag sie solche her haben?« Karl sagte ihm, er hätte mich die Seide zupfen sehen, und auf die Art erfuhr er es durch die Frau v. Bonnarz. Von der Zeit an bekam ich alle Woche einen Groschen Taschengeld, sonst hatte mein Bruder nur immer allein Geld bekommen. Ich hoffe, man wird über die Züge, die Einfluß auf meinen Charakter haben, der nun immer mehr und mehr anfängt, sich zu entwickeln, nicht übel denken. So fing ich an, Schlüsse zu machen, denen ich dann immer, so viel wie möglich war, auch Festigkeit zu geben und sie auszuführen suchte.

Nun wieder zu dem Ring! Mein Vater frug: »Was für ein Offizier gab dir ihn?« »Oh, Papa, es ist noch nicht lange, daß er aufs Theater kommt; Sie müssen ihn gesehen haben. Er ist blessiert am Arm, trägt solchen in der Binde. Ein großer, schöner Mann, ist immer sehr bescheiden und höflich; auch habe ich ihn heute von einem nennen hören, der nannte ihn Graf Nostitz.« »Graf Nostitz?« sagte mein Vater, »doch wohl nicht ein Sohn von einem Grafen Nostitz aus Breslau, bei dessen Vater ich so oft mit dir war, Mama und seiner Gemahlin? Will ihn morgen fragen, wenn er aufs Theater kommen sollte.«

Den andern Tag kam der Graf aufs Theater. Mein Vater zu ihm hin, entschuldigte mich wegen meiner Unvorsichtigkeit, bat für mich um Vergebung. »Oh, sprechen Sie doch nicht davon, Herr Schulze, ist wohl den albernen Ring wert!« Mein Vater lenkte das Gespräch auf seine Familie, und wie groß war seine Freude, als er hörte, daß er derselbe Graf ist, den damals, als mein Vater in Breslau war, er oft auf seinem Arm hatte. »Auch meinen älteren Bruder sollen Sie in einigen Wochen sehen. Er ist in einem andern Regiment, kommt aber auch hier ins Winterquartier zu liegen.« Der Graf bat meinen Vater, ihn besuchen zu dürfen. »Meine[63] Blessur erlaubt mir nicht, viel in Gesellschaft zu gehen; noch muß ich mich sehr schonen, denn ich bin in der Schlacht bei Lowoschütz von Kroaten, die ihr Gewehr mit gehacktem Blei geladen hatten, blessiert worden, und noch immer werden mir Stücke davon aus dem Arm genommen. Es würde mir also sehr lieb sein, hier ein Haus zu haben, wo ich zuweilen hinkommen könnte.« Mein Vater sagte: »Herr Graf, ich habe meines Mädchens wegen jede Gelegenheit vermieden, Besuch in meinem Hause zu gestatten. Zwar ist sie noch sehr jung, und erst elf Jahre alt. Aber nie kann ein rechtschaffener Vater vorsichtig genug sein.« »Sie haben recht, ich lobe Sie darum. Doch von mir sollen Sie nichts zu befürchten haben.« »Ihr Vater, Herr Graf, war ein edler, rechtschaffener Mann; der Sohn wird es nicht minder sein. Kommen Sie an einem Tag, wo keine Komödie ist, wann Sie wollen! Aber die Tage, wenn gespielt wird, wissen Sie selbst.« »Weiß es, ich werde also kommen, und das den ersten Nachmittag.« Ich hörte in meiner Loge von Wort zu Wort dem Gespräch zu, freute mich darüber, ohne zu wissen, warum. Alle Nachmittage, wenn keine Komödie war, kam der Graf und blieb bis gegen 7 oder 8 Uhr des Abends. Mein Vater gewann ihn sehr lieb, konnte mit ihm von dem Krieg schwatzen, denn er war ganz preußisch. Doch mitten in den kriegerischen Gesprächen sah mich der Graf mit Augen an, die einen ganz andern Krieg im Herzen bedeuteten. Denn, wenn er mich so anstarrte, schlug ich meine Augen nieder, mein Blut drang sich ans Herz, ich wurde rot, und wußte nicht, warum. Einmal, als mein Vater ausgehen mußte, sagte der Graf zu meiner Mutter: »Nicht wahr, Madame, unser Karolinchen ist älter als 11 Jahre?« »Gewiß nicht, Herr Graf.« »Oh, schweigen Sie, das sagen Sie nur meinetwegen!« »Ihretwegen, Herr Graf?« »Ja, ja, meinetwegen.« Er stand auf, ging im Zimmer auf und nieder und wischte sich Tränen aus den Augen. Wir alle drei waren mit einmal still. Endlich sagte meine Mutter: »Herr Graf, was ist Ihnen? Nichts, Madame, meine Wunde schmerzt mich.« »Ach Gott, Ihr Arm!« schrie ich auf und fing an zu weinen. »Bestes Kind,« kam der Graf auf mich zu, nahm meine Hand und drückte sie[64] an seinen Mund; ich zog sie zurück. »Ach, Herr Graf, der Papa leidet das nicht.« »Auch nicht den Mund?« »Bewahre, das ist Sünde.« »Mädchen, Mädchen, du machst mich noch rasend.« Meine Mutter sagte: »Herr Graf, besinnen Sie sich, ich wollte nicht, daß das mein Mann gehört hätte. Sie würden mir und meinem Kinde viel Verdruß machen.« »O ja, Madame, sagen Sie es nur Ihrem Mann, damit er mir die Tür weist!« »Herr Graf?« »Um Vergebung, ich werde mich nie vergessen, nie wieder. Aber sehen Sie den Engel!« Mein Vater kam, und das Gespräch nahm wieder seinen gewöhnlichen Weg. Von Geschichten, Anekdoten, Wissenschaften u. dgl., wo denn keiner aufmerksamer war wie ich. Den ersten Augenblick, wo meine Mutter mit mir allein war, sagte sie: »Nicht wahr, der Graf kann auch spaßen?« »Ja, Mama, spaßen?« – und ich unterdrückte einen Seufzer, der so unwillkürlich kam, aber ich doch sehr fühlte. »Nur Spaß?« »Oh, so was wirst du noch öfter hören müssen, aber denk immer, daß es Spaß ist!« »Ja, Mama!« »Ich würde es auch Papa sagen, aber du weißt, er ist immer sehr ernsthaft, mag keinen Spaß leiden.« »Ja, Mama, ich weiß es.« »Je vornehmer der Mann ist, desto weniger mußt du ihm glauben. Vornehme glauben, das steht ihnen an, mit andern, die nicht von gleichem Range mit ihnen sind, scherzen zu können. Merk dir das!« »Will's nicht vergessen.« Ohne Zweifel würde dieses Gespräch länger gedauert haben, wenn wir länger allein gewesen wären.

Den Abend darauf war Komödie, der Graf, wie gewöhnlich, auf dem Theater, sprach mit mir sehr wenig, doch ehe ich's mich versah, steckte er mir ein Papierchen mit einem sehr ernsthaften Blick in die Hand. Der Blick machte mich zittern, so daß ich bald das Papier hätte fallen lassen. »Karolinchen, ich sterbe, wo Sie mich verraten.« Er ging von mir, und schon dachte ich, daß er tot sei, so wurde mir zumute. Nachdem die Komödie aus war und ich nach Hause kam, ging ich, ohne daß man mutmaßen konnte, aus dem Zimmer und las mein Papierchen, das denn auch ein sehr zärtliches Liebesbriefchen war. Bat mich um Antwort, und zugleich, daß ich solches verbrennen sollte, denn wenn meine Eltern[65] es erführen, dürfte er nicht mehr ins Haus kommen, und das würde sein Tod sein. Ich wußte nicht, was ich anfangen sollte. Noch nie hatte ich meinen Eltern was verheimlicht. Gern wollte ich's ihnen sagen, aber daß ich den Grafen sollte sterben lassen, nein, das konnte ich nicht übers Herz bringen. Richtig schrieb ich den Morgen eine Antwort, und ich stellte den Abend darauf dem Grafen, als er mir selbst einen Becher mit Schokolade reichte, die Antwort zu. Nie sah ich ihn so heiter, und nie kam er mir schöner, als in diesem Augenblick vor. Denn er war in allem Verstande der schönste Mann, den man sehen konnte. Hellbraun von Haaren, ein paar große, vielsagende blaue Augen, die Blässe seines Gesichts gab ihm so was Sanftes, Liebreiches, dabei sein ehrerbietiges Betragen! Sein Alter mochte ungefähr 26 Jahre gewesen sein, also nichts Flüchtiges mehr. Ich liebte ihn und hatte Ehrfurcht zugleich für ihn wie vor einem Vater. Das weiß ich von seinen Briefen mich noch gut zu erinnern, daß er, wenn er von meinem Alter sprach, sagte, daß, wenn ich wirklich noch so jung wäre, er warten würde, wenn er mich nur in Sicherheit hätte, daß mir das alles böhmische Dörfer waren und ich ihn nicht verstand und, vermöge meines Alters und der Art wie ich mit der strengsten Aufmerksamkeit erzogen wurde, auch nicht wohl verstehen konnte, auch viel zu schüchtern war, ihn darum zu fragen. Hätte ich's in meiner Unschuld getan, vielleicht wäre das das einzige Mittel gewesen, den Grafen von seiner Schwachheit zu heilen. Das Mädchen, das mir gewöhnlicherweise meinen Korb mit den Theatersachen ins Komödienhaus trug, wurde bald vom Grafen bestochen und ward unsere heimliche Briefträgerin. Noch habe ich von ihm ein Gedicht, das er aus von Kleists Werken gezogen, »An Doris«, das er nun änderte auf meinen Namen und von der dritten Strophe anfangen läßt: »Dort liegt der Hirt beim nahen Wasserfall usw.« Das stellte er mir selbst zu, als er wohl in 14 Tagen (seines Armes wegen, der wieder aufgebrochen und wo man abermals spitzes Blei herausnahm) nicht bei uns war. »Das war meine Beschäftigung, bestes Kind, die 14 Tage, als ich nicht bei Ihnen war, so hab ich an Sie gedacht, und mit dem lahmen Arm nur alle[66] Tage eine Strophe geschrieben und schreiben können.« Auch brachte er uns seinen Bruder mit, der sich meiner Eltern noch sehr wohl erinnerte, denn er war viel älter als mein Graf. Doch mochte ich ihn nicht leiden. Er war so wild, hatte nichts Sanftes, war nur Soldat. Ich sagte es auch dem Grafen, und bat ihn, seinen Bruder nicht wieder zu bringen, »ich kann die wilden Leute nicht leiden.« Das er denn auch versprach.

Unser Briefwechsel dauerte fort und war ein immerwährender Streit. Den Grafen liebte ich; nun wußte ich nur so viel, daß, wenn sich zwei Personen liebten, so müßten sie von einem Geistlichen getraut werden, dann wären sie dadurch Mann und Frau. Wenn sie aber so zusammen lebten, so wär das Frauenzimmer nicht Frau, sondern Mädchen, und das wär eine Sünde, und die würde, wo nicht ins Gesicht, doch hinter dem Rücken von allen Menschen verachtet. Ich erinnerte mich denn an manche solche Maitresse, die ich gesehen hatte. Schuch seine sogenannte Frau war auch eine von ihnen, denn seine rechte Frau lebte in Prag, und die hatte ich gekannt. Und dann pflegte mein Vater zu sagen: »Solch ein Weibsbild ist mir ein Greuel in meinen Augen.« Das alles wußte ich, und mich scheute also vor dem Gedanken: »Auch ein Greuel in meinen Augen« genannt zu werden. Das alles sagte ich und schrieb's dem Grafen. So lieb wie er mir war, hätte ich ihm nie einen Kuß erlaubt, noch viel weniger gegeben. Er wußte es, und ich weiß nicht, aus wirklicher Ehrlichkeit, oder nur, um mich nicht abzuschrecken, hielt er sich in der strengsten Ferne. Auch was Eifersucht ist, lehrte er mich zuerst, und durch diesen unschuldigen Vorfall hätte er beinahe selbst unser ganzes Geheimnis verraten. Meine Mutter stellte eines Abends eine verkleidete Mannsrolle dar. Es war sehr kalt, ich setzte mich auf ihren Schoß, hatte sie um den Hals gefaßt und küßte sie, und sie und mich halb in einen Pelz gewickelt. Der Graf machte unsere Loge, die etwas offen stand, ganz auf, sah uns, glaubte, meine Mutter, die den Hut auf hatte und nicht erkennbar, sei wirklich eine Mannsperson. »Ha,« schrie er, »Schurke! Und Sie – ein Kuß ist Sünde! Das ist zum Rasendwerden!« Ich sprang[67] auf: »Herr Graf!« Meine Mutter: »Graf, was wollen Sie?« Da stand er wie versteinert, wußte nicht, was er sagen sollte. Endlich kam ein: »Bitte um Vergebung, können Sie mir verzeihen, Karolinchen – Madame –?« »Nun, Herr Graf, was ist's?« »Ach, Madame, so oft war ich in Ihrem Haus – nie unterstand ich mich, Karolinchen zu küssen, und nun kam ich, kannte Sie nicht und sah, sah – sah – Sie wissen, was ich sagen will. Um Gottes willen, Madame, daß es nur nicht Papa erfährt!« »Auch das soll er nicht, nur vergessen Sie sich nicht zum dritten Mal!« Das ging über ohne Examen, und niemand war fröhlicher wie ich.

Unser Briefwechsel und die Unterredungen wurden immer ernsthafter. Er schwur bei dem Wort eines ehrlichen Mannes (den andern Schwüren glaubte ich nicht, denn Papa hatt's gesagt), wenn er sich meinem Vater entdeckte, würde er entweder meine Jugend zum Vorwand nehmen, mich ihm zu versagen, oder auf einer öffentlichen Verbindung bestehen. Er wolle sich mit mir trauen lassen, aber heimlich. Er könne seine Verbindung mit mir nicht eher bekannt werden lassen, als bis nach dem Tode seiner Mutter, die sehr schwächlich sei und gar nicht mehr gehen könnte. Auch dürfe er nicht ohne Bewilligung des Königs. Noch zweifelte er, daß er je wieder fähig sein würde, zu dienen. Auch würde er gern seinen Abschied nehmen, um mit mir auf seinen Gütern zu leben. Dann wollte er für meine Eltern und Bruder sorgen. Kurz, er redete mir so überzeugend zu, daß ich ihm völlig glaubte.

Die Fasten war bereits eingetreten, und Ostern nahe, und wir hatten aufgehört zu spielen. Kirsch, der nun nichts einnahm, gab auch keine Gage, und was er hatte im Winter erworben, glaubte er im Sommer für sich und seine Frau nötig zu haben, wo denn freilich bei den Unruhen des Kriegs an keine Komödie konnte gedacht werden. Witzmann nebst einem Herrn Arnold und seiner Frau waren in Freiberg, vier Meilen von Dresden, mit noch einigen Leuten, die in der Fasten abgegangen waren. Die luden meine Eltern zu sich ein, den Sommer über dort zu spielen. Jede Einnahme wurde nach abgezogenen Unkosten gemeinschaftlich in gleiche[68] Teile geteilt. Da dann doch immer auf uns vier Teile kamen, nahm mein Vater an und versprach, in der ersten Osterwoche zu kommen. Kirsch, der es nicht wagen wollte, nach Ostern wieder anzufangen, da eben keine zu starke Besatzung in Dresden geblieben, und die, die da war, keiner Gesellschaft Unterhalt geben konnte, sagte zu meinem Vater: »Sie haben recht, ich kann's nicht verlangen, daß Sie den ganzen Sommer so, ohne wovon leben zu können, aushalten sollten.«

Der Graf stellte mir nun alles vor. Alles mögliche Elend, das ich noch zu erwarten hätte. Gott, es war, als ob er mein Prophet hätte sein sollen. Mit Tränen in den Augen bat er mich, ihm zu folgen. »Gleich nachdem wir getraut sind, schreibe ich's Ihrem Vater. Auf Kavaliersparole!« »Ach, Herr Graf, machen Sie mich, meine Eltern durch mich, nicht unglücklich! Wir sind arm, aber ehrlich.« »Mein Kind, gewiß nicht, bei Gott nicht!« »Schwören Sie nicht, ich folge Ihnen.« Der Graf küßte meine Hand. »Mädchen, wie gern drückte ich dich an mein Herz – aber nein, deine Jugend, deine Unschuld ist mir heilig. Keinen Kuß, als bis du ganz mein bist. Uebermorgen früh also –, es war der zweite Osterfeiertag –, wenn Sie nach der Kirche gehen, wird ein Wagen für Sie an der Kirche halten mit einem von meinen Bedienten. In den setzen Sie sich, Sie kommen, wie Sie gehen und stehen. Der bringt Sie an Ort und Stelle, ich werde schon da sein und komme meiner kleinen Braut entgegen. Wir werden getraut, und dann sollen Ihre Eltern in wenigen Tagen alles wissen.«

Alle diese Abreden wurden in dem Zimmer genommen, wo das Mädchen wohnte, die die Briefe trug. Doch wußte sie nichts von dem, was gesprochen wurde, und wurde gewiß vom Grafen so gut bezahlt, daß sie wohl schwieg. Nie hatte sich der Graf unterstanden, mir Geschenke zu machen. Nur eines Abends kam er, und das im Schlafrock; es war sein erster Ausgang, wie er 14 Tage krank gewesen. »Vergeben Sie es dem Kranken, lieber Vater, daß er im Schlafrock kommt! Sehen Sie, da hat mir der Schneider noch so viel Litz übrig gebracht, da soll sich Karolinchen auch einen Schlafrock[69] von machen lassen.« Und wirft ein halbes Stück Litz aufs Bett. »Und nun ja kein Wort weiter davon, lieber Vater, ich kenne Ihre Grundsätze!« Nun dachte ich nach. Das ganze Betragen des Grafen: Ein edler Mann. Schön – Gräfin, seine Frau – meine Eltern versorgt – dachte an all den Jammer und Not, die ich mit ihnen erlebt. Kurz, mein Kampf war groß und würde einem Frauenzimmer von mehr Jahren zu schaffen gemacht haben, viel weniger einem Kind, wie ich war.

Nun dachte ich an keine Puppen mehr, die ich bereits mit der ganzen Aussteuer verkauft hatte und meinen Eltern die 10 Taler gab, die mir für alles gegeben wurden, gleich zu Anfang der Fasten, da wir nichts mehr einnahmen. Der Graf kam den Tag vor der angesetzten Flucht nur auf ein paar Stunden, nur bloß, um mir mit Blicken Mut zu machen und in meinen zu lesen, ob ich auch nicht anderen Sinnes geworden. Als er weg ging, sah er mich an, ergriff die Hand meines Vaters und sagte: »Rechtschaffener Mann, Sie haben vieles Unglück erlebt, nach dem, was Sie mir gesagt haben und seitdem wir uns kennen. Aber vielleicht stehen Ihnen noch größere bevor. Doch wenn Ihnen das größte begegnet, das Sie sich denken, erlebt zu haben, so fassen Sie sich und hoffen, daß eben das Ihr, Ihrer Frau und Kinder künftiges Glück sein wird. Auch Sie denken das, Madame!« Er küßte die Hand meiner Mutter, warf mir heimlich einen Kuß zu, umarmte meinen Vater und eilte zum Zimmer hinaus. – »Welch ein vortrefflicher Mann,« sagte mein Vater, »ist der Graf Nostitz! Ich liebe ihn wie einen Sohn. Wenn alle jungen Leute so wären, wie ruhig können dann die Väter und Mütter sein!« Ich wurde wie eine Leiche im Gesicht und bebte, daß ich mich niedersetzen mußte. Ich glaubte zu versinken. Wir hatten nur ein Zimmer, in dem standen zwei Betten. Mein Vater legte sich nieder zu meinem Bruder, ich wollte zu meiner Mutter ins Bett steigen, besann mich, kniete vors Bett meines Vaters nieder und sagte: »Papa, Sie haben heut vergessen, Ihre Line zu segnen.« »Oh, du hast den Segen von Gott, doch hier hast du auch den meinigen.« Ich küßte ihn mit Tränen, dann seine Hand und legte mich zu meiner Mutter.[70]

»Auch Sie, Mama, müssen mich noch segnen.« Sie tat es; ich küßte sie auch, drückte ihre Hand an meine Brust und lag so stille wie möglich. Die erste Nacht, die ich im Kampfe mit mir selbst zubrachte. Ich weinte bitterlich, rief Gott und alle Heiligen an, sie sollten mich nicht verlassen, mir raten, mir helfen. Alles lief ich durch, alles. Meine Eltern betrüben? Gott, wenn mein Vater auf der Stelle stürbe? Was hilft ihm dann das Versprechen des Grafen! Was würde mir den Vorwurf wegreißen: »Ich habe ihn umgebracht?« Meine Phantasie führte mich aus dem Haus, den Weg nach der Kirche, ich stieg in den Wagen, stand im Zimmer, wo die Trauungszeremonie vor sich gehen sollte. Trauung?! Trauung?! Hast du schon jemals eine Trauung mit angesehen? Nein! Sollte von einem lutherischen Geistlichen getraut werden, von keinem katholischen? Kennst du den? Ein katholischer ist zu kennen an der geschorenen Platte auf dem Kopf. Das hat kein lutherischer. Mein Gott, wenn ein verkleideter Bedienter, du kennst nicht alle von des Grafen Leuten, – du wärst statt Frau, Maitresse des Grafen. Gott! Heilige Maria! Mein Schutzengel! Gebt ihr mir den Gedanken ein? War mein Gebet nicht fruchtlos? Nein, nein, der Gedanke kommt von Euch, dank, dank, ich will ihm folgen! Du gehst nicht. Liebt dich der Graf, wie er sagt, so wird er dich mit Bewilligung deiner Eltern zu erhalten suchen. Sie lieben mich zu sehr, als daß sie mir an meinem Glück hinderlich sein sollten. Ach! Wär es nur schon Tag, willst dem Grafen schreiben, in aller Frühe, daß er nicht fortfährt vergebens. Ich fühlte eine Art von Beruhigung, die ich lange nicht gefühlt, mir ward leicht, doch konnte ich nicht schlafen.

Kaum war der Tag angebrochen, stand ich auf. Meine Eltern und Bruder schliefen noch sehr fest, nach meinem Wunsch. Ich ging nach dem Boden, wo ich alle meine Briefe immer geschrieben hatte, und schrieb an den Grafen ohne Verstellung, was ich dachte; meine Zweifel, und daß ich nicht kommen würde. Nun lief ich mit meinem Brief zu Friederike, so hieß das Mädchen. Sie schlief noch, mußte auf, sich anziehen und mit dem Brief zum Grafen laufen. Die Uhr[71] war noch nicht sechs des Morgens. Ich war nun wohl und so glücklich wie eine Prinzeß in meinen Gedanken. Verfertigte das Frühstück, daß, wenn meine Eltern aufstünden, alles fertig wäre, und ich sogleich einen Vorwand hätte, warum ich so früh aufgestanden war. Einen Vorwand, warum ich den Morgen nicht nach der Kirche ging, fand ich auch bald, und niemand konnte Arges denken. Meine Friederike hatte mir unterdessen Nachricht gebracht. So wie ich ihr befohlen, hatte sie den Brief an des Grafen Jäger gegeben, der gesagt, sein gnädiger Herr hätte befohlen, ihn gegen sechs Uhr zu wecken. Eben wollte er zu ihm hinein, sie gab ihm den Brief, sah solchen hineintragen, lief fort, ohne auf Antwort zu warten, wie ich ihr geheißen.

Nun war in meiner Einbildung alles gut, und ich dünkte mich recht groß. Aber jeder Laut an der Tür erschütterte mich und machte mich blaß oder rot. Es war der Mittwoch nach Ostern, meine Mutter packte bereits ein, denn den Freitag wollten wir abreisen. Mein Vater packte gleichfalls seine Bücher, als mit einem Mal sehr stark angeläutet wurde an unserm Vorhaus. Es war eben nach vier Uhr des Nachmittags. Ich war so, und wir alle, erschrocken, daß mein Bruder, der es von uns am wenigsten war, aufstand, um die Tür zu öffnen. Des Grafen Jäger stürzte ins Zimmer, seine Augen standen voll Wasser. »Ach, Herr Schulze, mein Graf verlangt nach Ihnen, will Sie sprechen; er ist sehr schlecht, alles zweifelt, ob er den Morgen noch überleben wird.« Ich stieß ein lautes Geschrei aus und fiel meiner Mutter in die Arme. Mein Vater eilte, sich anzukleiden, und rannte fort. Meine Mutter sprach mir zu, ich hatte und fand an allem keinen Trost. Meine Mutter, die zwar mein empfindliches Herz kannte, das niemand leidend konnte wissen, argwohnte doch, daß ich mehr für den Grafen fühlen müßte, als bloß Mitleid, doch hütete sie sich sorgfältig, es mich nicht merken zu lassen, mich nicht zu bestärken, daß ein Mädchen von meinem Alter Liebe zu einem Mann fühlen könnte. Selbst die Trostworte, die sie mir gab, waren Lehren und Verweise! »Du weißt, liebe Line, daß ich den Grafen wie einen Sohn liebe; aber, Kind, du machst es zu arg. Was würdest du denn beginnen, wenn[72] Papa – oder ich stürbe? Siehe, Gott nimmt uns erst Freunde, Bekannte, um uns auf größere Verluste vorzubereiten. Gott könnte dich strafen und dir einen von uns nehmen, und was wäre dir der Verlust des Grafen gegen den unsrigen? Fasse dich ja, daß Papa, wenn er nach Hause kommt, sieht, daß du ruhiger bist! Seine Befürchtung ließ ihn vielleicht nicht die deinige gewahr werden.« Ich schwieg, suchte meinen Schwerz, so viel als möglich, zu verbergen; aber meinen stillen Tränen konnte ich nicht gebieten. Stirbt Nostitz, so bist du seine Mörderin. Der Gedanke lag vor mir wie ein Gespenst, das mich schreckte. Mit Angst wartete ich auf Vaters Nachricht, gern wäre ich fortgelaufen, die Furcht für meine Eltern hielt mich zurück.

Um 8 Uhr kam mein Vater, ich hatte nicht das Herz, zu fragen. Meine Mutter suchte in seinen Augen zu lesen. »Nun, wie ist's?« Mein Vater zuckte die Schulter: »Ach, der arme Graf! Seine Wunden sind wieder aufgebrochen; er hat sich stark verblutet. Doktor und Feldscher zweifeln, daß er davonkömmt.« »Was solltest du denn bei ihm?« »Noch weiß ich selbst nicht recht. Als ich zu ihm trat, sagte er zu mir: ›Mich hat nach Ihnen verlangt, Sie sollten mich sehen.‹ Er war sehr unruhig. Die Medizis baten ihn, nicht zu sprechen. Er fiel in einen matten Schlummer, so lag er weg bis halb acht Uhr. Darauf sah er sich nach mir um und bat mich, die Nacht bei ihm zu bleiben. Er hätte mir noch einige Aufträge zu sagen, die er nicht gern Fremden vertrauen möchte. Ich habe es ihm zugesagt. Nur bat ich ihn, mich einen Augenblick von sich zu lassen, weil ich euch Nachricht geben wollte. Die wahre Ursache aber, warum ich nach Hause gekommen bin, ist, ich will Johann Arends Gebetbuch zu mir nehmen, ihm diese Nacht, soweit es seine Kräfte erlauben, vorbeten, und ihn vorbereiten, daß er morgen einen Prediger kommen läßt und das Abendmahl empfängt. Er läßt euch grüßen – und besonders dich, Karoline!« sagte mein Vater in einem so vielbedeutenden Ton und schüttelte den Kopf, wischte sich aber auch zugleich eine Träne aus dem Auge. Ich war weder imstande, für den Gruß zu danken, noch viel weniger, einen Gegengruß mitzuschicken, und so ging mein Vater fort.[73]

Was ich die Nacht begonnen, kann jeder leicht denken, wenn er sich in meine Verfassung setzt. Ich weinte und konnte nicht einen Augenblick schlafen. Des Morgens gegen 10 Uhr kam mein Vater ziemlich heiter; sein erstes Wort war: »Gottlob, nun ist der Prediger bei ihm. Nun mag Gott mit ihm machen, wie sein heiliger Wille ist. Ich habe ihm diese Nacht verschiedene Briefschaften und andere Schriften siegeln müssen, auch eine Verordnung aufsetzen müssen, wie er es nach seinem Tode gehalten wissen will. Auch einen Brief an seine Mutter, den er mir in die Feder gesagt. Sein Bruder ist auf Kommando, der soll und wird alles besorgen. Wenn er eher stirbt, bis ich wegreise, so bat er mich, solches zu tun. Wie er mit allen seinen Geschäften fertig war, sagte ich: ›Lieber Graf, Ihre zeitlichen Angelegenheiten hätten Sie besorgt, aber die ewigen.‹ ›Ich bin Soldat, scheute den Tod nicht, ging ihm entgegen, das zeigen meine Wunden.‹ ›Wahr, lieber Graf, aber zeigen Sie nun auch, daß der Soldat ein Christ ist.‹ ›Sie haben recht, Freund, habe ich Sie nicht rufen lassen? Sie sind mein Vater, beten Sie mit Ihrem Sohn! Mein Zutrauen zu Ihnen ist stärker als gegen alle Pfaffen. Sie kenne ich als einen redlichen Mann, bereiten Sie mich vor, um vor Gottes Thron zu treten.‹ ›Lieber Graf, Ihr Zutrauen rührt mich, ich will auch mit Ihnen beten, und habe Bücher zu mir gesteckt, wenn meine Worte allein nicht kräftig genug sein sollten, Ihr Herz zu stärken. Aber Sie wissen, wir sind von verschiedener Religion. Sie können sterben, also wünsche ich zu Ihrer, zu meiner Rechtfertigung, daß Sie morgen einen Prediger kommen lassen, der Ihnen das heilige Abendmahl reicht.‹ ›Sie haben recht, lieber Vater! Leiten Sie Ihren Sohn.‹ So habe ich die Nacht im Gebet mit ihm zugebracht. Er hat wenig geschlafen. Da der Prediger kam, ging ich fort. Nun will ich es versuchen, zu schlummern, um den Nachmittag wieder bei ihm zu sein.« Oft sah mein Vater mich an, und sah traurig dabei aus. Auch merkte ich, daß, wenn ich aus dem Zimmer ging, dann die Rede von mir sein müsse, denn, sobald ich wiederkam, schwiegen sie still.

So ging der Donnerstag hin und der Freitag. Der Tag der Abreise war da. Des Nachmittags ging die fahrende Post,[74] mit der wir fort sollten. Mit welchem Herzen ich in den Wagen stieg! Wie ich meinen Vater ansah, der vom Grafen noch zuletzt kam und Abschied genommen, der keine Worte hatte, uns solchen wieder zu sagen, das weiß Gott.

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 56-75.
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