Potsdam, Stettin, Frankfurt a.O.

[53] Wir kamen in Magdeburg an. Schuch, der sich wegen dem Wochenbett seiner Liebsten etliche Tage länger aufgehalten und die Gesellschaft bereits voraus nach Potsdam geschickt, reiste nun mit uns auch nach Potsdam. Noch war ich nicht lange da, als ich einen Brief an meine Mademois. Günther heimlich schrieb. Die Ursache, warum ich heimlich schrieb, war, ich wollte mein Herz reden lassen, all seine kindische Empfindung sagen. Hätte ich es meinem Vater gesagt, würde er mir den Brief freilich vernünftiger stilisiert haben, aber es wär doch das nicht gewesen, was ich zu sagen hatte. Kurz, ich schrieb heimlich, ließ von meinem Wirt die Adresse schreiben und durch solchen bestellen. Auch durch ihn sollte die Antwort an mich zurückkommen. Es erfolgte aber keine. Mir tat's weh, wollte wieder schreiben, doch bald kam die Nachricht von unserer Abreise, und wir reisten mit der Gesellschaft nach Stettin.

Es traf sich, daß wir an einigen Tagen keine Komödie hatten. Die wendeten meine Eltern zu einer kleinen Lustreise an, nämlich nach dem Wohnsitz, wo Mutters Schwester[53] verheiratet gewesen. Wir ließen uns die Kirche öffnen, und man zeigte uns den Leichenstein, unter welchem mein Großvater, meine Tante und ihr Mann begraben lag. Meine Mutter ward bei diesem Anblick ohnmächtig; mein Vater, mein Bruder und ich standen um sie und weinten. Die Leute, die uns die Kirche geöffnet, konnten sich in den Auftritt nicht finden. Meine Mutter erholte sich und erkundigte sich weiter. Da hörte sie, daß Frau v.F. bald im Tode ihrem Vater gefolgt. H. v. F. aber wieder verheiratet, wo die Witwe nebst zwei Kindern, einem Sohn und einer Tochter, noch dort lebten. Wir gingen nach der Frau v.F. Haus, nahmen den Vorwand, weil meine Mutter nicht wohl geworden, ob sie ihr nicht etwas zur völligen Erholung reichen könnte. Sie tat es mit vieler Freundlichkeit. Die Kinder waren da, der Sohn mochte sieben, die Tochter im sechsten Jahre sein. Sie war noch in Trauer, da H. v. F. noch kein Jahr tot war. Sie reichte uns verschiedene Erfrischungen, und ohne daß sie frug und wir sagten, wer wir wären, nahmen wir Abschied. Meine Mutter ging im Dorf mit uns herum, zeigte uns jede Stelle, die ihr noch merkwürdig war, und suchte das Haus, wo die Bäuerin gewohnt, die ihr vor so vielen Jahren zur Flucht half. Sie fand das Haus, erblickte eine bejahrte Frau und sagte: »Gott, ich glaube, das ist meine Bäuerin.« Wir ließen uns Milch geben und setzten uns in ihren Garten. Meine Mutter lenkte bald das Gespräch dahin, wo sie es wollte. Die Alte wurde treuherzig und erzählte, wieviel die liebe Schwester von der seligen gnädigen Frau und ihrem Herrn hätte leiden müssen. »Ach, Gott! Sie ist wohl lange tot, nie haben wir mehr was von ihr gehört. Lebt sie aber, so muß es ihr gut gehen; denn sie war ein rechter Engel, schön, und so ein gut Herz. Wenn eines krank und in Not war, wie hat sie gesorgt und gegeben! Ach, es war gar nicht, als ob sie der gnädigen Frau Schwester gewesen.« Die Alte plauderte weg und erzählte alles, was ich bereits schon gemeldet. Meiner Mutter standen Tränen in den Augen, drückte der Frau einen Gulden in die Hand und sagte ihr: »Sie lebt noch, und es geht ihr wohl, ich habe sie gekannt.« »Wo?« »Ein andermal, liebe Frau! Es ist spät, wir müssen[54] fort. Ein andermal komme ich wieder, und dann will ich Ihr alles sagen.« Die Frau war voll Freude, und wir verließen ihr Haus und reisten wieder fort nach Stettin.

Schuch blieb mit der Gesellschaft nicht lange mehr dort, und wir reisten wieder zu Wasser ab nach Frankfurt a.O. Auf dieser Reise ereignete sich ein Unglück, das meiner Mutter bald das Leben gekostet hätte. Wir landeten bei Schwedt. Der Schiffer sagte, man müsse hier Proviant mitnehmen, weil wir zu keinem Dorf kämen, und die, wo wir auch vorbei kämen, hätten selbst nichts. Mein Vater ging mit meinem Bruder in die Stadt, und ich blieb bei der Mutter im Schiff. Mein Bruder kam mit einem Tuch voll Vorrat, dabei aber eine gewaltige Menge Salz war. Meine Mutter saß auf dem Rande des Schiffes, und da Karl eben fortgegangen, sagte sie: »Mein Gott, wo soll ich mit all dem Salz hin?«, bog sich verdrießlich zurück, verliert das Gleichgewicht und stürzt rücklings ins Wasser. Ich erwischte zwar einen Zipfel von ihrem Kleid, war aber zu schwach, sie zu halten, und stieß nun erschreckliches Geschrei aus. Alles lief herbei.

Ein Schiffer, der auf der nahen Brücke stand, sprang in einen Kahn und rettete sie glücklich.

In Frankfurt fing Schuch einen Zank mit meinem Vater an, der, wie man im Sprichwort pflegt zu sagen, wie vom Zaun gebrochen. Denn wer den Mann gekannt, wußte seine Art. Schon verschiedene ausfallende Grobheiten hatte mein Vater gelassen erduldet. »Schuch ist ein Narr!«, so dachte er und ließ ihn gehen. Der Gedanke, du bekommst alle Woche richtig dein Geld, ließ ihn manche Beleidigung übersehen. Wahr! Solange man bei Schuch war, hatte man sein gewisses Brot, aber ein guter Magen gehörte dazu, solches zu verdauen. Doch in Frankfurt machte er es bei einer Probe so arg, daß mein Vater gezwungen war, zu sagen: »Herr Schuch, Sie wollen mich mit meiner Familie los sein? Sagen Sie es nur, und wir sind von heute an geschiedene Leute. Aber, Herr, als Männer, nicht als Buben. Schämen Sie sich! Alle, die von Ihnen weg sind, sind Ihrer Grobheiten halber weg – und so gehe ich auch.« »Ja, das weiß man wohl,« sagte Schuch, »der Herr ist stolz.« »Wie es ein vernünftiger Mann[55] sein muß, um nicht niederträchtig zu sein. Sie sind glücklich, und das macht Sie hochmütig und grob, und glauben dadurch privilegiert zu sein, einen redlichen Mann, der weniger hat, schlecht zu behandeln. Ich habe meinen ehrlichen Namen, mein Weib und meine zwei Kinder, die gut sind und Talente haben. Hoffe also, mit Gottes Hilfe wieder Brot zu bekommen.« Und er verließ ihn, kam mit meiner Mutter nach Hause und kündigte uns die Abreise an.

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 53-56.
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