Jugendjahre und erste Anstellung

1784–1802


Mein Vater Karl Heinrich Spohr, Dr. med., später Medizinalrat, war der Sohn eines Predigers zu Woltershausen im Hildesheimischen. Er hatte sich am 26. November 1782 mit Ernestine Henke, Tochter des Predigers an der Ägidienkirche zu Braunschweig, verheiratet und die erste Zeit im Pfarrhause dort gewohnt. Ich war das älteste Kind dieser Ehe und wurde am 5. April 1784 geboren; zwei Jahre nachher ward mein Vater als Physikus nach Seesen versetzt. Meine frühesten Erinnerungen reichen bis zu jenem Umzuge hinauf, indem mir stets der Eindruck gegenwärtig geblieben ist, den das Weinen meiner Mutter, als sie nach dem Abschied von ihren Eltern in dem einfachen und etwas ländlichen Hause zu Seesen ankam, auf mich machte; auch erinnere ich mich noch des Geruchs frisch geweißter Wände, der mich selbst unangenehm berührte, wie mir denn stets eine ungewöhnliche Empfänglichkeit und Feinheit der Sinne eigen geblieben ist. In Seesen wurden mir vier Brüder und eine Schwester geboren. Die Eltern waren musikalisch; der Vater blies Flöte, die Mutter, Schülerin des Kapellmeisters Schwanberger in Braunschweig, spiel te sehr fertig das Klavier und sang die italienischen Bravourarien der damaligen Zeit. Da sie sehr oft des Abends musizierten, so wurde der Sinn und die Liebe zur Tonkunst schon früh bei mir geweckt. Zuerst begann ich, mit einer klaren Sopranstimme begabt, zu singen und im vierten oder fünften Jahre schon durfte ich in Duetten mit der Mutter an den Abendmusiken teilnehmen. Um diese Zeit war es, daß mir der Vater meinem Wunsche nachgebend auf einem Jahrmarkte eine Geige kaufte, auf der ich nun unaufhörlich spielte. Zuerst versuchte ich die früher gesungenen Melodien herauszubringen und war überglücklich, wenn die Mutter mir dazu akkompagnierte.[1]

Bald darauf bekam ich Unterricht beim Rektor Riemenschneider, und noch ist mir erinnerlich, daß ich nach der ersten Stunde, in der ich den G-Dur-Akkord auf allen vier Saiten der Geige hatte greifen lernen, im Entzücken über den Wohlklang des Akkordes zur Mutter in die Küche eilte und ihr so unaufhörlich den Akkord vorharpeggierte, daß sie mich hinausjagen mußte. Als ich nun die Griffe der Geige nach Noten erlernt hatte, durfte ich auch als Geiger des Abends mitmusizieren, und besonders waren es drei Trios von Kalkbrenner für Piano, Flöte und Violine, die eingeübt und dann vor den Freunden des Hauses vorgetragen wurden.

Etwa um das Jahr 1790 oder 91 kam ein französischer Emigrant namens Dufour nach Seesen, der, obgleich nur Dilettant, doch ein sehr fertiger Geiger und Violoncellist war. Er fixierte sich dort, erhielt Freitische bei den wohlhabenderen Einwohnern und ernährte sich durch Sprachunterricht. An den Tagen, wo er zu meinen Eltern kam, wurde nach Tisch jedesmal musiziert, und noch ist mir erinnerlich geblieben, daß ich bis zu Tränen gerührt war, als ich ihn zum ersten Male spielen hörte. Nun ließ ich den Eltern keine Ruhe, bis ich bei ihm Unterricht erhielt. Dufour, erstaunt über meine schnellen Fortschritte, war der erste, der die Eltern zu bereden suchte, mich ganz der Musik zu widmen. Der Vater, der mich früher für das Studium der Medizin bestimmt hatte, ging bei seiner Vorliebe für die Musik bald darauf ein, hatte aber einen harten Kampf deshalb mit meinem Großvater, der sich unter einem Musiker nur einen Bierfiedler, der zum Tanze spielt, denken konnte. Später wurde mir die Genugtuung, nach meiner so frühen Anstellung als Kammermusikus in Braunschweig, dem alten Großvater, der mich sehr lieb hatte, eine bessere Meinung von der erwählten Künstlerlaufbahn beibringen zu können.

Während des Unterrichts bei Herrn Dufour machte ich auch meine ersten Kompositionsversuche, bevor ich irgendeinen Unterricht in der Harmonie erhalten hatte. Es waren Duette für zwei Violinen, die ich mit meinem Lehrer in den Abendmusikpartien vortrug und damit die Eltern im höchsten Grade überraschte. Noch erinnere ich mich des stolzen Gefühls, nun auch als Komponist vor den Freunden des Hauses auftreten zu können. Als Honorar erhielt ich von den Eltern einen Prachtanzug, bestehend in einer roten Jacke mit Stahlknöpfen und einem gelben Beinkleid nebst Schnürstiefeln mit Quasten, worum ich schon lange, wiewohl vergebens, sollizitiert hatte. Die Duetten, die der Vater sorgfältig aufgehoben hat, sind zwar inkorrekt und kindisch, haben[2] aber doch eine Form und fließenden Gesang. Dieser erste glänzende Erfolg in der Komposition hatte mich so begeistert, daß ich von nun an fast alle Stunden, die mir die Schule frei ließ, ähnlichen Versuchen widmete; ja ich wagte mich sogar an eine kleine Oper, deren Text ich aus dem Weißeschen Kinderfreund nahm. Charakteristisch möchte es sein, daß ich bei dem Titel begann und diesen vor allen Dingen mit Tusche erst recht schön ausmalte; dann folgte die Ouvertüre, dann ein Chor, dann noch eine Arie, bei der aber die Arbeit ins Stocken geriet. Da ich noch nie einer Opernaufführung beigewohnt hatte, so entnahm ich die Form zu diesen Musikstücken den Opern von Hiller »Die Jagd« und »Lottchen am Hofe«, die die Mutter im Klavierauszuge besaß und oft mit mir und dem Vater gesungen hatte. Ich fühlte jedoch bald, daß es mir für ein solches Unternehmen noch an Wissen und Geschick fehle, und wandte mich zu andern Versuchen. Dabei hatte ich aber einen harten Strauß mit dem Vater, der fest darauf bestand, jede begonnene Arbeit müsse erst vollendet sein, bevor eine andre angefangen werden dürfe, und nur, weil der Vater sich überzeugte, daß ich so bedeutenden Arbeiten noch nicht gewachsen sei, durfte diesmal eine Ausnahme gemacht werden; später nie wieder. Dieser Strenge habe ich meine Ausdauer in der Arbeit zu danken und bin der väterlichen Lehre stets eingedenk gewesen.

Da der Vater liebte, meine Arbeiten zu beaufsichtigen, so gestattete er mir, mich in seiner Studierstube zu etablieren, und ließ sich durch das Singen, Brummen und Pfeifen des kleinen Komponisten nicht stören. Hatte dieser dann etwas Falsches aufgeschrieben, was oft genug geschah, und war genötigt es auszustreichen, so hörte dies der Vater sogleich und sagte halb ärgerlich: »Nun, macht der dumme Junge wieder Fenster?« So nannte er die Querstriche durch die Notenlinien beim Ausstreichen. Dies war mir empfindlich und ist wohl die Veranlassung, daß ich mich zeitig gewöhnte, eine reinliche Partitur, in der nichts ausgestrichen sein durfte, zu schreiben.

Als es nun auf Herrn Dufours Zureden beschlossen war, daß ich mich ganz der Musik widmen sollte, drang dieser darauf, daß ich nach Braunschweig gesandt werde, um weitern, namentlich theoretischen Unterricht in der Musik zu erhalten. Dies konnte jedoch nicht geschehen, bevor ich konfirmiert war. Nach einem streng befolgten Gesetz durfte die Konfirmation im Herzogtum Braunschweig nicht vor dem vierzehnten Jahre stattfinden. Um nun keine Zeit zu verlieren, wurde ich im zwölften Jahre zum Großvater in das Hildesheimische geschickt, wo es[3] der Entscheidung der Prediger überlassen war, wie bald die Kinder zur Konfirmation zugelassen werden sollten. Hier erhielt ich während eines Winterhalbjahres von dem gelehrten Großvater nicht nur in der Religion, sondern auch in manchen andern Dingen Unterricht; nur für Musikunterricht war nicht gesorgt, da weder der Großvater noch die Oheime etwas davon verstanden. So mußte ich denn zweimal in der Woche mit meiner Geige nach der Stadt Alfeld wandern und mit dem dortigen Kantor musizieren. Wie beschwerlich auch diese Wege bei der häufig unfreundlichen Winterwitterung waren, so freute ich mich doch stets darauf, hauptsächlich wohl deshalb, weil ich mich dem Lehrer überlegen fühlte und diesen durch mein fertiges Notenlesen in Verlegenheit setzte, ja nicht selten den heimlichen Triumph hatte, ihn steckenbleiben zu sehen.

Auf der Hälfte des Wegs nach Alfeld lag eine einsame Mühle. Dort war ich bei einem starken Regenguß einmal eingetreten und hatte die Gunst der Müllerin so sehr gewonnen, daß ich von da an stets vorsprechen mußte, mit Kaffee, Kuchen und Obst gelabt wurde und ihr dann zum Dank etwas auf der Violine vorphantasierte. Noch ist mir erinnerlich, daß ich sie einst mit Variationen von Wranitzky über das Thema »Du bist liederlich«, worin alle die Kunststückchen vorkamen, womit Paganini später die Welt entzückte, so außer sich setzte, daß sie mich an dem Tage gar nicht wieder von sich lassen wollte.

Nach der Rückkehr von Woltershausen wurde ich nun bald nach Braunschweig geschickt und in dem Hause des reichen Honigkuchenbäckers Michaelis, wo der Vater früher Arzt gewesen war und einst die Frau von der Wassersucht kuriert hatte, wie ein Kind des Hauses aufgenommen und von allen Bewohnern desselben mit Liebe behandelt.

Mit Eifer begann ich meine musikalischen und andern Studien. Den Violinunterricht gab mir der Kammermusikus Kunisch, ein gründlicher und freundlicher Lehrer, dem ich viel verdanke. Nicht so freundlich war der Lehrer in der Harmonie und im Kontrapunkt, ein alter Organist namens Hartung, und noch erinnere ich mich, wie dieser mich einst bös anfuhr, als ich ihm bald nach Beginn des Unterrichts eine Komposition zur Ansicht vorlegte. »Damit hat es noch lange Zeit; erst muß man was lernen!« Nach einigen Monaten munterte er mich jedoch selbst auf, nun Versuche in der Komposition zu machen, korrigierte dann aber so unbarmherzig und strich so viele nach meiner Meinung herrliche Gedanken, daß ich alle Lust verlor, ihm wieder etwas vorzulegen. Nicht lange nachher hörte wegen Kränklichkeit des alten Mannes der Unterricht[4] auf und ist der einzige geblieben, den ich je in der Theorie gehabt habe. Ich war nun genötigt, Belehrung in theoretischen Werken zu suchen; hauptsächlich aber half mir das Lesen guter Partituren, die ich durch Vermittlung meines Lehrers Kunisch aus der Theaterbibliothek geliehen bekam. So gelang es mir bald, korrekt in der Harmonie schreiben zu lernen, und ich wagte es nun zum erstenmal, in Braunschweig mit einer Violinkomposition öffentlich aufzutreten. Es geschah dies im Schulkonzert der Katharinenschule, die ich als Sekundaner besuchte. Diese Konzerte waren zur Übung des Schulchors von dem Präfekten desselben errichtet, wurden aber durch die Teilnahme mehrerer Mitglieder der Hofkapelle, der Stadtmusiker und geschickter Dilettanten so bedeutend, daß man immer größere Werke aufführen konnte, wie Kantaten, Symphonien und Instrumentalkonzerte. Von nun an wurde alles genau eingeübt, und die Aufführungen, die in Prima, einem ziemlich großen Saal, stattfanden, erlangten bald so viel Ruf, daß man ein kleines Eintrittsgeld zur Bestreitung der Kosten erheben durfte. In einem dieser Konzerte trat ich also zum erstenmal in meiner Vaterstadt auf und erwarb so viel Beifall, daß ich nun auch zur Mitwirkung in den Abonnementskonzerten des Deutschen Hauses aufgefordert wurde und das dafür übliche Honorar empfing. Diese erste Einnahme, die ich mir als Künstler erwarb, machte mich sehr glücklich, und noch erinnere ich mich des stolzen Gefühls, mit welchem ich es den Eltern meldete. Nun spielte ich auch in den Abonnementskonzerten öfters Solo und in der Regel eigene Kompositionen. Auch in dem Theaterorchester durfte ich zu meiner Übung mitwirken und lernte dadurch viel gute Musik kennen.

In dieser Zeit, wo ich noch meine klare, hohe Sopranstimme besaß, gewährte es mir auch viel Freude, mich dem Schulchor bei seinen Wanderungen durch die Stadt anzuschließen. Der Präfektus, der später als Bassist berühmt gewordene Theatersänger Strohmeyer, übertrug mir sehr gern die Sopransoli, da ich sie fehlerfrei a vista sang.

Mein Lehrer Kunisch, der mir väterlich wohlwollte, drang nun darauf, daß ich bei dem besten Geiger der Braunschweiger Kapelle, dem Konzertmeister Maucourt, Unterricht nähme. Der Vater willigte gern ein, obgleich es ihm sehr sauer wurde, das für diesen Unterricht höhere Honorar anzuschaffen, um so mehr, da ich das Michaelissche Haus hatte verlassen müssen, weil man mir kein besonderes Zimmer einräumen konnte und ich mit den Kindern des Hauses in derselben Stube ohnmöglich ruhig spielen und komponieren konnte. Eine weitere Folge dieses[5] Auszugs war, daß mir der Vater bei seinen früheren Bekannten Freitische ausmachen mußte, was seinem ehrgeizigen Sohne sehr empfindlich war. Doch wurde ich von allen diesen Leuten freundlich behandelt, und so verlor sich das Drückende meiner Lage bald. Ich bewohnte nun mit einem andern Sekundaner ein Zimmer im Hause des Kantor Bürger, konnte dort aber ungestört üben und komponieren, da mir der Hauswirt, der sich für mein Musiktreiben interessierte, sein Musikzimmer mit dem Pianoforte zur Verfügung gestellt hatte.

Durch den Unterricht des Herrn Maucourt wurde ich nun zu einem für meine Jahre ausgezeichneten Solospieler ausgebildet, und nach etwa einem Jahre, als es dem Vater beim Heranwachsen der übrigen Kinder nicht mehr möglich war, die Kosten für den teuern Aufenthalt in Braunschweig zu erschwingen, hielt er mich für weit genug fortgeschritten, um nun als reisender Künstler mein Glück in der Welt versuchen zu können. Er beschloß daher, mich zuerst nach Hamburg zu schicken, wohin er mir Empfehlungen an frühere Bekannte mitgeben konnte.

Gewohnt, dem Vater in allem zu gehorchen, und gern geneigt, mich bereits für ein großes Licht zu halten, hatte ich dagegen nichts einzuwenden. Erscheint es nun höchst abenteuerlich, einen Knaben von vierzehn Jahren sich selbst überlassen auf gut Glück in die Welt zu schicken, so findet dies seine Erklärung in dem Charakter und in den Schicksalen des Vaters. Dieser, im höchsten Grade kühn und unternehmend, hatte sich im sechzehnten Jahre auch schon emanzipiert. Um einer Schulstrafe zu entgehen, war er von der Schule zu Hildesheim entflohen, hatte sich auf höchst kümmerliche Weise in Hamburg anfangs als Sprachlehrer, später als Lehrer an der Büschingschen Handelsschule ernährt, dann mehrere Universitäten besucht, sich immer ohne alle Unterstützung von Haus bei großen Entbehrungen durch Unternehmungsgeist und angestrengte Tätigkeit durchgeschlagen und endlich nach einer höchst abenteuerlich verlebten Jugend zum praktischen Arzte in Braunschweig emporgeschwungen. Er fand es nun sehr natürlich, daß sich der Sohn auf gleiche Weise versuchen müsse, obgleich die Mutter bedenklich den Kopf schüttelte. Dürftig mit Reisegeld, aber mit vielen guten Lehren versehen, wurde ich auf der Post nach Hamburg spediert. Noch ganz voll von dem Eindruck, den die lebhafte Handelsstadt und die zum erstenmal gesehenen Seeschiffe auf mich gemacht hatten, ging ich wohlgemut und voller Hoffnungen zum Professor Büsch, an den mich der Vater adressiert hatte. Aber wie bald sollten diese vernichtet[6] werden! Der Professor, nachdem er den Brief mit immer wachsendem Erstaunen gelesen hatte, rief aus: »Ihr Vater ist doch immer noch der Alte! Welche Tollheit, einen Knaben so auf gut Glück in die Welt zu senden!« Dann setzte er mir auseinander, daß, um ein Konzert in Hamburg zustande zu bringen, man bereits einen berühmten Namen oder wenigstens die Mittel besitzen müsse, die bedeutenden Konzertunkosten riskieren zu können; daß aber im Sommer, wo alle reichen Leute auf ihren Landsitzen außerhalb der Stadt wohnten, ein solches Unternehmen vollends ganz unausführbar sei. Durch diese Erklärungen wie vernichtet, wußte ich keine Silbe zu erwidern und konnte kaum die Tränen zurückhalten. Ich empfahl mich stumm und rannte, ohne an die Abgabe der anderen Empfehlungsbriefe zu denken, voller Verzweiflung nach Haus. Hier meine Lage überdenkend, erschreckte mich der Gedanke, daß meine Barschaft kaum noch für ein paar Tage ausreichen werde, dermaßen, daß ich mich in Gedanken schon in den Klauen der Seelenverkäufer sah, von denen mir der Vater ein warnendes Bild entworfen hatte. Ich entschloß mich daher kurz, packte meine Geige und meine Sachen wieder in den Koffer, schickte diesen, mit einer Adresse nach Braunschweig versehen, auf die Post, bezahlte meine Rechnung und wanderte mit dem kleinen Rest meiner Barschaft in der Tasche, der allenfalls zur Zehrung ausreichen konnte, zu Fuß nach Braunschweig zurück.

Einige Meilen vor der Stadt kam mit ruhigerer Überlegung zwar bald die Reue dieser Übereilung, doch nun zu spät; sonst wäre ich wohl umgekehrt. Ich sagte mir, daß es töricht gewesen sei, nicht wenigstens erst die übrigen Briefe abzugeben. Sie konnten mir ja vielleicht die Bekanntschaft eines Musikkenners verschaffen, der mein Talent zu würdigen und doch noch Rat zu einem Konzert zu schaffen gewußt hätte. Dazu kam der beschämende Gedanke, daß der Vater, der selbst so unternehmend gewesen, mich kindisch, mutlos, unüberlegt schelten würde. So in tiefster Seele betrübt, wanderte ich weiter und sann unaufhörlich darüber nach, wie ich mir die Beschämung ersparen könnte, so ganz unverrichteter Sache in das elterliche Haus zurückzukehren.

Endlich kam mir der Gedanke, mich an den Herzog von Braunschweig zu wenden und diesen um die Mittel zu weiterer Ausbildung anzugehen. Ich wußte, daß der Herzog früher selbst Violine gespielt hatte, und hoffte daher, daß dieser mein Talent erkennen werde. Hat er dich nur erst eines deiner Konzerte spielen hören, dachte ich, so ist dein Glück gemacht. Mit neu belebtem Mut schritt ich nun weiter und legte in heiterster Stimmung den Rest des Weges zurück.[7]

Kaum in Braunschweig angelangt, entwarf ich eine Bittschrift an den Herzog, worin ich ihm meine ganze Lage darlegte und schließlich um Unterstützung zu weiterer Ausbildung oder um eine Anstellung in der Kapelle bat. Da mir bekannt war, daß der Herzog jeden Morgen im Schloßgarten spazierenzugehen pflegte, so suchte ich ihn mit meiner Bittschrift in der Tasche dort auf und war so glücklich, daß er mir das Papier abnahm. Nachdem er es flüchtig überlesen und über Eltern und bisherige Lehrer Fragen gestellt hatte, die ich furchtlos beantwortete, erkundigte er sich auch, wer die Bittschrift entworfen habe. »Nun, wer anders als ich? Dazu brauche ich keinen andern!« antwortete ich, fast beleidigt über den Zweifel an meiner Geschicklichkeit. Der Herzog lächelte und sagte: »Nun, komm morgen um elf Uhr aufs Schloß; dann wollen wir weiter über dein Gesuch reden.« Wer war glücklicher als ich! Präzis elf Uhr stand ich vor dem Kammerdiener und verlangte, beim Herzog angemeldet zu werden. »Wer ist Er?« fuhr mich dieser ziemlich unfreundlich an. »Ich bin kein Er. Der Herzog hat mich hierherbestellt und Er hat mich anzumelden«, antwortete ich ganz entrüstet. Der Kammerdiener ging mich zu melden, und bevor sich meine Aufregung gelegt hatte, wurde ich eingeführt. Mein erstes Wort zum Herzog war daher auch: »Durchlaucht, Ihr Kammerdiener nennt mich Er; das muß ich mir ernstlich verbitten!« Der Herzog lachte laut und sagte: »Nun, beruhige Dich nur, er wird's nicht wieder tun!« Nachdem er mich dann noch über manches befragt hatte, worüber ich die unbefangensten Antworten erteilte, sagte er: »Ich habe mich bei Deinem bisherigen Lehrer Maucourt nach Deinen Fähigkeiten erkundigt und bin nun begierig, Dich eine Deiner Kompositionen spielen zu hören; dies kann im nächsten Konzert bei der Herzogin geschehen. Ich werde es dem Kapellmeister Schwanberger sagen lassen.«

Überglücklich verließ ich das Schloß, eilte nach Hause und bereitete mich auf das sorgfältigste zum Konzerte vor.

Diese Hofkonzerte bei der Herzogin fanden jede Woche einmal statt und waren der Hofkapelle im höchsten Grade zuwider, da nach damaliger Sitte während der Musik Karten gespielt wurde. Um dabei nicht gestört zu werden, hatte die Herzogin befohlen, daß das Orchester immer piano spiele. Der Kapellmeister ließ daher Trompeten und Pauken weg und hielt streng darauf, daß nie ein Forte zur Kraft kam. Da dies in Symphonien, so heimlich auch die Kapelle spielte, nicht immer ganz zu vermeiden war, so ließ die Herzogin auch noch einen dicken Teppich dem Orchester unterbreiten, um den Schall zu dämpfen. Nun hörte man das[8] »ich spiele, ich passe« der Kartenspieler usw. allerdings lauter als die Musik.

An dem Abend, wo ich dort zum erstenmal spielte, waren aber Spieltische und Teppich verschwunden; die Kapelle, unterrichtet, daß der Herzog anwesend sein werde, hatte sich gehörig vorbereitet, und die Musik ging vortrefflich. Da ich damals noch ohne alle Befangenheit auftrat und wohl wußte, daß von dem heutigen Erfolg mein ganzes künftiges Geschick abhängig sei, spielte ich mit wahrer Begeisterung und mußte wohl die Erwartungen des Herzogs übertroffen haben, denn dieser rief mir schon während des Spiels wiederholt bravo zu. Nach Beendigung des Spiels kam er zu mir, klopfte mir auf die Schulter und sagte: »Das Talent ist da; ich werde für Dich sorgen. Komm morgen zu mir.« Überselig kam ich zu Haus, meldete sogleich den Eltern mein Glück und konnte lange vor Freude und Aufregung nicht einschlafen. Am andern Morgen sagte der Herzog zu mir: »Es ist eine Stelle in der Kapelle erledigt, die werde ich Dir geben. Sei fleißig und führe Dich gut auf. Bist Du nach einigen Jahren tüchtig fortgeschritten, so werde ich Dich auch zu irgendeinem großen Meister senden; denn hier fehlt es Dir an einem Vorbilde.« Diese letzte Äußerung setzte mich in Erstaunen; denn ich hatte bis jetzt das Spiel meines Lehrers Maucourt für das Höchste gehalten, was zu erreichen sei.

So wurde ich mit Beginn meines fünfzehnten Lebensjahres als Kammermusikus angestellt. Das Reskript, welches später ausgefertigt wurde, ist vom 2. August 1799 datiert. Obgleich der Gehalt nur 100 Thlr. betrug, so reichte er doch bei großer Sparsamkeit und mit Hilfe kleiner Nebenverdienste aus, und ich bedurfte von nun an keiner weitern Unterstützung von Haus. Ja, ich war so glücklich, den Eltern die Erziehung der andern Kinder dadurch erleichtern zu können, daß ich meinen acht Jahre jüngern Bruder Ferdinand, der Neigung und Talent für Musik zeigte, zu mir nahm und ihn zum Künstler bildete.

Von nun an war der junge Kammermusikus in großer Tätigkeit. Seine Berufsgeschäfte bestanden in dem Mitwirken bei den Hofkonzerten und im Hoftheater, für welches seit kurzem eine französische Sänger- und Schauspielergesellschaft engagiert war. Ich lernte daher die französische dramatische Musik früher kennen als die deutsche, was auf meine Geschmacksrichtung und damaligen Kompositionen nicht ohne Einfluß blieb. Endlich, als für die Zeit der beiden Messen auch eine deutsche Operngesellschaft aus Magdeburg verschrieben wurde, ging mir die Herrlichkeit der Mozartschen Opernmusik auf und nun war für[9] meine ganze Lebenszeit Mozart mein Idol und Vorbild. Noch erinnere ich mich deutlich der Wonneschauer und des träumerischen Entzückens, mit welchem ich zum ersten Male »Zauberflöte« und »Don Juan« hörte, und wie ich nun nicht ruhte, bis ich die Partituren geliehen bekam und dann halbe Nächte darüber brütete.

Aber auch bei allen andern Musikpartien der Stadt fehlte ich nicht; namentlich gehörte ich allen Quartettzirkeln an. In einem derselben, der von zwei Sängern der französischen Oper, die Violine spielten, errichtet war, lernte ich auch die ersten Quartetten von Beethoven kennen und schwärmte von nun an nicht weniger für sie wie bisher für die Haydnschen und Mozartschen. Bei solchem steten Musiktreiben konnte es nicht fehlen, daß mein Spiel und mein Geschmack sich immer mehr ausbildeten. Günstig wirkte auch die Anwesenheit zweier fremder Geiger, die in dieser Zeit Braunschweig besuchten. Es waren dies Seidler aus Berlin und der Knabe Pixis. Ersterer imponierte mir durch seinen schönen Ton und sein sauberes Spiel, letzterer durch eine für seine Jahre außerordentliche Fertigkeit.

Mit den Brüdern Pixis musizierte ich sehr häufig in Privatgesellschaften und spielte auch in deren zweitem Konzert mit dem Geiger öffentlich ein Doppelkonzert von Pleyel. Nach solchen Aufmunterungen wurde dann immer mit verdoppeltem Eifer studiert.

Der Herzog, der seinen Schützling nicht aus den Augen verlor, hatte mir erlaubt, ihn jedesmal zu benachrichtigen, wenn ich eine neue Komposition im Hofkonzert vortrüge, und erschien auch einigemal zum großen Verdruß der Herzogin, die dadurch in ihrer L'hombrepartie gestört wurde. Eines Tages, als der Herzog nicht anwesend war und daher auch niemand auf die Musik achtete, das Verbot jeden Fortes vor Anfang der Musik erneuert und der verhängnisvolle Teppich wieder ausgebreitet war, probierte ich ein neues Konzert von mir; denn eine Probe nur konnte man diese Vorträge nennen, da nie eine solche vorher stattfand, ausgenommen an den Tagen, wo man wußte, daß der Herzog erscheinen würde. Begeistert von meinem Werk, welches ich zum erstenmal mit Orchester hörte, vergaß ich ganz des Verbots und spielte mit aller Kraft und allem Feuer der Begeisterung, so daß ich selbst das Orchester mit fortriß. Plötzlich wurde ich mitten im Solo von einem Lakai am Arm gefaßt, der mir zuflüsterte: »Die Frau Herzogin läßt Ihnen sagen, Sie sollen nicht so mörderlich darauf streichen!« Wütend über diese Störung spielte ich womöglich nur noch stärker, mußte mir aber auch nach geendigtem Spiel einen Verweis vom Hofmarschall gefallen lassen.[10]

Der Herzog, dem ich am andern Tage mein Leid klagte, lachte herzlich, erinnerte sich aber auch bei dieser Gelegenheit seines frühern Versprechens und forderte mich sogleich auf, mir unter den berühmten Geigern der damaligen Zeit einen Lehrer zu wählen. Ohne Bedenken wurde Viotti von mir genannt und diese Wahl vom Herzog gebilligt. Es ward auch gleich an diesen, der sich damals in London aufhielt, geschrieben. Leider antwortete er aber ablehnend: »Er sei Weinhändler geworden, beschäftige sich nur noch selten mit Musik und könne daher keinen Schüler annehmen.«

Nach Viotti war Johann Friedrich Eck in Paris der berühmteste Geiger. An diesen wurde daher zunächst geschrieben. Aber auch er wollte keinen Schüler annehmen. Er hatte kurz vorher eine reiche Gräfin aus München, wo er Mitglied der Hofkapelle war, entführt, sich mit ihr in der Schweiz verheiratet und führte nun ein vornehmes Leben teils in Paris, teils auf einem von dem Vermögen der Gräfin erworbenen Gute bei Nancy. Er schlug aber seinen jüngern Bruder und Schüler Franz Eck als Lehrer vor. Da dieser eben Deutschland bereisete und in Berlin, wie die Zeitungen berichteten, mit großem Beifall aufgetreten war, so wurde an ihn geschrieben und er für den Fall, daß er den Antrag annähme, nach Braunschweig eingeladen. Eck kam, spielte bei Hofe und gefiel dem Herzog sehr. Da er auf einer Kunstreise nach Petersburg begriffen war, so wurde ich ihm auf ein Jahr als Schüler mitgegeben und ausgemacht, daß ich die Hälfte der Reisekosten zu tragen habe und Eck nach Beendigung des Unterrichts ein angemeßnes Honorar vom Herzog empfangen werde.

Quelle:
Spohr, Louis: Lebenserinnerungen. Tutzing 1968, S. 1-11.
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