Der erste Schultag

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Der erste Schultag

spielt in der Familie eine bedeutende Rolle, da der Vater den Knaben in die Schule bringt, um ihn vor den Gefahren, von denen die Kinder überall bedroht werden, zu schützen. Der unerfahrene Vater weiß gewöhnlich nicht, daß die Schuljungen dem öffentlichen Leben häufiger gefährlich werden, als diese ihnen.

Der Vater sieht mit Stolz und Rührung auf den mobil gemachten Sohn, der neben ihm mit Tornister und Frühstückstrommel in der Besorgnis trabt, daß nun eine Leidenszeit beginne. Obschon der Vater sich erinnert, daß er mit demselben Bedenken den Weg zum ersten Schultag antrat, versichert er doch seinem geliebten Sohn, daß jetzt eine schöne Zeit, die schönste Zeit des Lebens, beginne.

Da der Knabe sich in der Frühstückspause mit seinen neuen Freunden tüchtig geprügelt und außer einer unbedeutenden Hautabschürfung den Sieg davongetragen hat, so glaubt er seinem Vater auch, er kommt aber, da er dann mit der ersten Aufgabe belastet wird, weinend nach Hause.

Familien, denen nichts daran liegen sollte, daß der Knabe jeden Mittag weinend nach Hause komme, haben sich sehr zu hüten, das erste Weinen durch Schokolade zu beseitigen, da er sonst schlau genug sein dürfte, das Weinen als eine regelmäßig wiederkehrende Institution einzuführen, und weil dann so viele Schokolade nicht anzuschaffen sein wird.

Ein Vater, welcher keine Geduld hat, – es soll dies kein Vorwurf sein, denn er kann ja die Geduld in der Ehe ohne eigene Schuld verloren haben, – helfe seinem Kinde nicht bei der Arbeit, aus welcher dann nichts würde, und überlasse die Mithilfe auch nicht der Mama, welcher wahrscheinlich gleichfalls die angeborene Geduld abhanden gekommen ist.[91]

Bringt der Knabe eine Censur nach Hause, in welcher sein Betragen getadelt wird, so freue sich der Vater darüber, daß der Junge kein Duckmäuser ist. Aus lammfrommen Knaben wird selten Tüchtiges. Der Tadel ist auch vielleicht eine Folge erblicher Belastung, denn der beste Vater hat es einst in der Schule wahrscheinlich genau so wie der Sohn getrieben.

Man freue sich auch nicht zu sehr, wenn der Knabe ein gutes Zeugnis im Aufsatzschreiben bekommt. Man ist nicht sicher, daß er nicht einst Journalist wird, und dann hat man sich zu früh gefreut. Leistet der Knabe etwas im Zeichnen, so gewöhne man ihn zeitig an schmale Kost und wenig Geld, denn er wird vielleicht Maler. Ist er dagegen ein guter Rechner, so darf man getrost in seine Zukunft blicken, denn er wird nicht auf Abwege in unpraktische Berufe geraten, ja wahrscheinlich ein künftiger Bankdirektor wer den und sein Geld nicht in Aktien seiner eigenen Bank anlegen. Von dem Augenblick an, wo er ein perfekter Leser geworden ist, verstecke man sorgfältig vor ihm die Bücher und Zeitungen, welche von den Damen des Hauses mit Vorliebe gelesen werden.

Die Tochter giebt den Eltern während ihrer Schulzeit weniger zu klagen. Wenn sie, um einst auch weitere Kreise als Dilettantin zur Verzweiflung bringen zu können, Klavierunterricht nimmt und mit Fingerübungen ihre Angehörigen und die Nachbarschaft unheilbar nervös macht, so ist dies die Schuld der Eltern, ohne deren Zustimmung der unschuldige Backfisch ja doch nicht Hand an die Tasten gelegt haben würde. Dasselbe Schuldbewußtsein möge das Elternherz erfüllen, wenn das Töchterlein Fortschritte im Klavierspiel macht und dieses gar durch Gesang verschärft, aber die Lehrer oder Lehrerinnen sind freizusprechen und um so einstimmiger, je weniger sie zum Vergnügen oder gar aus Übermut zu dem Entschluß gekommen[92] sind, Anfänger in die Kunst des musikalischen Haberfeldtreibens einzuführen.

Sorgsame Mütter, welche für Frauenemanzipation kämpfen und der Überzeugung leben, daß der Trieb nach Unabhängigkeit, Freiheit und Gleichheit nicht früh genug in der weiblichen Seele erweckt werden könne, werden selbstverständlich ihre eigenen Töchter von dieser Agitation, welche nach ihrer Überzeugung das ewige Weibliche fördert, vorsichtig ausschließen. Denn erstens müssen ganz junge Mädchen nicht von allem haben, und (wir lassen nun achtzehn ebenso triftige Gründe fort) zwanzigstens treiben sie ohnedies Allotria genug.

Für den Fall aber, daß frauenführende Damen nichts besseres zu thun wissen, als ihre Töchter für die Emanzipation zu begeistern, mögen sie ihnen doch nicht zu früh den Hausschlüssel anvertrauen, sie nicht für ärztliche Studien begeistern, in den Damenklub und in das Skatspiel einführen und Pfeiferauchen lehren. Auch wären sie für manches Buch noch nicht reif genug. Überhaupt sollten derlei Mütter nicht zu eifrig das Ledigbleiben ihrer Töchter befördern, das sich in der Neuzeit ja ohnedies immer mehr verbreitet.

Desto sorgfältiger ist


Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 1902, Bd. III, S. 90-93.
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