Zuschauer

Zuschauer

[26] im Theater, so trage man es dem armen Autor der Novität nicht nach, daß es während der Vorstellung keinen Skandal gab. Den Autor trifft keine Schuld.[26] Man hat vielleicht selbst den erwünschten Skandal verhindert, indem man es versäumte, im günstigen Moment an einer unpassenden Stelle zu lachen, zu niesen, mit den Füßen zu scharren oder stark zu husten.

Hat man ein Freibillet und soll dies nicht gemerkt werden, so versichere man namentlich im Foyer, daß man sehr enttäuscht sei, die Handlung völlig vermisse und sich sträflich langweile. Von dem Besitzer eines Freibillets erwartet man entgegengesetzte Urteile, die er aber nur in den allerseltensten Fällen laut werden läßt.

Der Zuschauer, welcher sich von einer dramatischen Gabe befriedigt zeigt und seiner Befriedigung durch enthusiastische Äußerungen und Beifallsspenden Ausdruck verleiht, gerät leicht in den schändlichen Verdacht, noch nicht viel gesehen zu haben und ein naiver Laie zu sein. Daß er recht viel gesehen habe und ein gebildeter Kenner sei, wird in keinem Fall angenommen. Es ist ihm deshalb anzuraten, dann und wann verdrießlich den Kopf zu schütteln, wodurch er sich in Respekt setzt und die Nächstsitzenden verhindert, ihn für einen Mann zu halten, der nicht für das Parkett, sondern höchstens für die Galerie passe.

Schläft ein Zuschauer ein, so wecke man ihn nicht, oder nur dann, wenn er zu schnarchen beginnt. Ist er eingeschlafen, weil er etwa nach einem guten Diner schon müde in das Theater kam und nun nach alter Gewohnheit ein Schläfchen macht, so nehme man, wenn man ein Gemüt ist, nicht dieses an, sondern mache die Umgebung darauf aufmerksam, daß er vor Langeweile eingeschlafen sei. Dies spricht sich rasch herum und fügt dem Stück mehr Schaden zu als einige verrohte Kritiken.

Der Zuschauer, welcher zu spät erscheint und dadurch mehrere Zuschauer zwingt, sich zu erheben, um[27] ihn auf seinen Platz gelangen zu lassen, nehme es diesen nicht übel, daß sie zeitig kamen, er sei im Gegenteil dankbar dafür, daß sie ihn nicht zwingen, bis zum Zwischenakt zu warten. Er sei nachsichtig und bedenke, daß es Zuschauer gibt, welche keine Knoten, sondern pünktlich, oder doch durch irgend ein unvorhergesehenes Ereignis am Zuspätkommen verhindert worden sind.

Ist der Zuschauer eines Lustspiels sehr stark, so kann er auch beruhigt sehr blödsinnig sein und lächerlich Bemerkungen darüber fallen lassen, daß ein vor, neben oder hinter ihm sitzender Zuschauer lacht. Denn es gibt Zuschauer, welche sich in einem heiteren Stück das Lachen nicht nehmen lassen und gegen den, der es ihnen übelnimmt, grob werden können und, wenn dies nichts nützt, ihn hauen. Ist dieser stark, so kann er dann gleichfalls dreinschlagen.

Jedem Zuschauer ist zu raten, sich vor Beginn der Vorstellung davon zu überzeugen, daß auch das Stück wirklich gegeben wird, wegen dessen er ins Theater kam, und nicht etwa durch ein anderes ersetzt worden ist. Denn es ist doch recht peinlich, wenn er etwa »Die Kinder der Exzellenz« zu sehen glaubt, während »Maria Stuart« gegeben wird, und wenn er schließlich vielleicht zu einem anderen Parkettbesucher sagt: »Das ist sehr schön, aber weshalb das Stück 'Die Kinder der Exzellenz' heißt, das verstehe ich nicht!« Es könnte ja auch vorkommen, daß er statt des »Fiesko« das eingeschobene »Alt-Heidelberg« sieht und zum Schluß erstaunt bemerkt, man habe ihm einmal erzählt, daß im letzten Akt der Held des Stückes ins Wasser gestoßen wird, was bekanntlich in »Alt-Heidelberg« nicht geschieht. Es ist also die größte Vorsicht anzuempfehlen.

Sollte der Theaterbesucher gefragt werden, was er denn eigentlich für die Kunst bedeute, und um die[28] Auskunft verlegen sein, so antworte er: »Wenn ich mit allem zufrieden bin, an der richtigen Stelle stürmischen Beifall leiste und die Darsteller hervorrufe, so gehöre ich zum liebenswürdigen, gebildeten und mit vollem Verständnis die Vorstellung begleitenden Publikum. Bin ich dagegen nicht mit allem zufrieden und schließe ich mich von Zeit zu Zeit von dem Toben der Claque aus, so bin ich ein Teil des Theaterpöbels, jener rohen Masse, welche das Theater lediglich zur Förderung der Verdauung aufsucht und für die das Schlechteste noch zu gut ist.«

Der moderne Knigge gibt dem Leser willig zu, daß er nur aus übler Gewohnheit, welche das gesellschaftliche Plaudern leider nicht los werden kann, in ein Gespräch über Theater und dessen Mitglieder geraten ist. Er hätte bedenken sollen, daß ein Buch kein Jour fixe, kein Diner, kein Ball, keine Abendtafel ist und somit keine Gesellschaft bildet, in der überhaupt nicht gesprochen werden würde, wenn es kein Theater gäbe. Seit aber Gesellschaft und Theater existieren, erfreut sich auch die Gesellschaft eines nie versagenden Stoffes zur sogenannten Unterhaltung, an der sich namentlich die Unkundigsten und reinsten Toren auf das Lebhafteste beteiligen und zu der sie den reichsten Beitrag spenden, um das Ganze zu einem inhaltlosen, öden und ermüdenden Geschwätz zu gestalten. Ist dies einmal durch eine der Fragen: »Gehen Sie viel ins Theater?« »Haben Sie das neueste Lustspiel in dem und dem Theater gesehen?« oder: »Was sagen Sie zu der letzten Novität?« eröffnet, so verbreitert sich der Strom der Plauderei schnell zu einem uferlosen Meer von landläufigen Phrasen, Citaten aus gewerbsmäßigen Nachtkritiken und eigenen dummen Urteilen, in welchem erst einige Ebbe als Retterin erscheint, wenn der ewige Stoff völlig erschöpft und durch keine zehnte Wiederholung[29] des Vorgebrachten mehr zu beleben ist. Nur in wenigen Kreisen, welche allerdings geistig besonders begnadet sind, findet dieser hohle Zeitvertreib nicht statt, alle anderen gleichen den Kreisen, die, aus Theatermitgliedern an runden Tischen zusammengesetzt, sich in den gefürchteten Theaterkneipen versammeln und seit einigen Jahrhunderten ununterbrochen in ewiger Dasselbigkeit den Abend und einen Teil der Nacht verplaudern. Der moderne Knigge glaubt sich daher moralisch verpflichtet, sich bei seinen gebildeten Lesern zu entschuldigen, daß er sich in seinem Belehrungseifer zu dem kompromittierten Thema herunterreißen ließ.

Befindet sich nun unter seinen gebildeten Lesern, wie anzunehmen ist,


Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 1903, Bd. IV, S. 26-30.
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