2. Welche Gründe sollen uns bewegen, Anstand und Höflichkeit zu üben?

[10] 1. Uebung des Anstandes und der Höflichkeit ist der Wille Gottes. Gott selbst hat uns befohlen, dem Nebenmenschen Liebe und Achtung zu erweisen, es mit ihm von Herzen redlich zu meinen und alles sorgfältig zu unterlassen, was ihn betrüben und beleidigen könnte. Auch die Heilige Schrift empfiehlt uns die Höflichkeit an vielen Stellen: »Einer komme dem anderen mit Ehrerbietung zuzuvor« (Paul. Röm., 9, 10). »Eure Sittsamkeit werde allen Menschen kund ... was ehrbar, was heilig, was gerecht, was liebenswürdig ist, was zur löblichen Zucht gehört, darauf sei bedacht« (Paul. Phil., 4, 5 u. 8). Der göttliche Heiland selbst, dem wir ja nachahmen sollen, ist uns hierin mit gutem Beispiel vorangegangen.

2. Uebung des Anstandes und der Höflichkeit verlangt unser eignes Wohl. Die Beobachtung der äußeren Vorschriften des Anstandes und der Höflichkeit sind äußerst notwendig zu unserem persönlichen Fortkommen; sie sind das Bindemittel des gesellschaftlichen Lebens. Eine Verletzung der äußeren Formen bringt oft Schaden, da die Welt[10] nun einmal nach dem Aeußeren urteilt. Anstand und Höflichkeit machen uns Gott und den Menschen angenehm, ehren uns selbst, verschaffen uns viele gute Freunde, ersparen uns viele Unannehmlichkeiten und bereiten uns und anderen viel Vergnügen; sie erleichtern den Weg zum zeitlichen Glücke. Der sonst gute und fähige Mensch ist in der Welt weniger beliebt, weniger gesucht und oft auch weniger brauchbar und wirkt folglich weniger Gutes, weil er mit seinen inneren Eigenschaften nicht auch die sogenannte rechte Art verbindet. Wer die Achtung und das Zutrauen anderer genießt, dem wird manches Geschäft anvertraut, das man demjenigen, zu dem man seines unanständigen Benehmens wegen kein Zutrauen hat, nicht anvertrauen wird.

3. Anstand und Höflichkeit erhalten unter den Menschen Frieden und Einigkeit und wenden Feindschaften und Zwiste und gar oft großes Unglück ab; sie sind die Ehre einer Gemeinde und des ganzen Vaterlandes; sie befördern den Geist und die Vorteile der Religion, deren Geist die christliche Liebe ist.

4. Höflichkeit gibt der Bildung ihre Vollendung und durch sie kommen die besseren inneren Eigenschaften des Menschen zum Ausdruck; sie ist in Wahrheit im Gemüte das, was die Anmut im Gesicht ist.

5. Anstand und Höflichkeit stärken den Charakter, weil sie eine beständige Uebung der Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung sind. Ein jeder Akt des Anstandes und der Höflichkeit ist[11] ein Sieg der Seele über den Leib; sie sind somit eine beständige Tugendübung.

6. Anstand und Höflichkeit schützen uns vor Herabwürdigung unserer selbst und sind eine Schutzwehr gegen das Laster. Der Artige achtet immer gewisse Schranken. Der seine Ton bewahrt ihn vor vielen gefährlichen Gelegenheiten zur Sünde und hält namentlich die rohen Ausbrüche der Sinnlichkeit in gemessenen Schranken. Höflichkeit und Anstand vermehren in uns den Abscheu gegen alles, was nicht edel ist, verleihen unserem Auftreten Weihe und Würde, stärken unsere Tugend und geben ihr einen Glanz, der alle unsere Handlungen verschönert, gleichsam verklärt und uns die Achtung und Verehrung der Mitwelt sichert. Ist die Tugend die kostbare Perle, so ist die Gesittung, der äußere Anstand die kostbare Fassung derselben.

7. Mangel an Anstand und Höflichkeit an seiner Gesittung und Lebensart, Vernachlässigung der Regeln des geselligen Anstandes und der Schicklichkeit verdunkeln große Verdienste und Kenntnisse, und machen, daß selbst die Tugend und die Frömmigkeit weniger liebenswürdig erscheinen, ja erwecken nicht selten den Verdacht, daß bei dem Betreffenden noch etwas mehr fehle, als seine und höfliche Sitten.

Anstand und Höflichkeit sind also unumgänglich notwendig für den Menschen, nicht nur für sein zeitliches, sondern auch für sein ewiges Wohl; sie sollen überall, allzeit und unter allen Umständen beobachtet werden, ja sogar gegen diejenigen, die uns unartig begegnen, und zwar seien uns[12] wie schon früher bemerkt, die Gebote Gottes erste Regel, denn aus ihnen sollen wir erkennen, was wir Gott, uns selbst und dem Nächsten schuldig sind, wozu wir verpflichtet sind, wenn wir ohne Anstoß und Aergernis die Stellung im gesellschaftlichen Leben einnehmen wollen, zu welcher wir von Gott bestimmt, von den Eltern erzogen und durch den Unterricht herangebildet worden sind.

Quelle:
Vogt, Franz: Anstandsbüchlein für das Volk. Donauwörth [1894] [Nachdruck Donauwörth 21987], S. 10-13.
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