Bitte, fahren Sie nicht aus der Haut!

[69] Wieviel Gemüt und Herzenstakt ein Mensch besitzt, läßt sich im allgemeinen am besten dann beurteilen, wenn Ereignisse eintreten, die seine Entschlüsse ganz plötzlich über[69] den Haufen werfen, wenn beispielsweise ein heißer Wunsch, der der Erfüllung schon ganz nahe war, im Winde zerflattert. Dann überfällt den Menschen Enttäuschung und Ärger, der sich bis zur Wut steigern kann, dann nämlich, wenn es ihm an Selbstbeherrschung mangelt.

In solchen Lebenslagen hat schon mancher Zeitgenosse seine Maske fallen lassen. Die hohe Meinung, die bis dahin die andern von ihm hatten, zerschmilzt wie der Schnee an der Märzensonne.

Wenn wir von elementaren Wutausbrüchen großer Männer der Vergangenheit hören, so ist das noch lange kein Grund, darüber allgemein milder zu urteilen. Wir dürfen uns nicht damit entschuldigen, daß Napoleon einen Wutanfall bekam, wenn er auf ein gebratenes Huhn, auf das er plötzlich Appetit bekam, länger als zehn Minuten warten mußte, oder, daß der grausame und wollüstige römische Tyrann Caligula das Meer auspeitschen ließ, weil es seine Wünsche nicht erfüllte, wenn wir in dem Augenblick einem Wutanfall nahe sind, wo jemand eine Tür zuknallt oder die Straßenbahn in der Kurve in höchstem Diskant entsetzlich kreischt.

Es gibt ja tausend Dinge im Leben, die einen leicht erregbaren und unbeherrschten Menschen schnell aus der Fassung bringen. Er tobt:


wenn ihm jemand in der Straßenbahn auf den Fuß tritt, obgleich sich jener entschuldigt,

wenn irgendwo eine Tür quietscht,

wenn ihn jemand beim Sprechen unterbricht,

wenn ihm jemand bei einer Unterhaltung widerspricht,

wenn ihm ein andrer nicht aufmerksam zuhört,

wenn ein andrer über ihn scherzt,

wenn im Laden jemand bedient wird, der später gekommen ist, wenn jemand am Tisch raucht, während er ißt,

wenn sich jemand beim Einsteigen vordrängelt,

wenn auf der Straße ein Kind singt oder pfeift,

wenn jemand in der Tür steht, durch die er gehen möchte,

wenn jemand in der Bahn die Zeitung mit zu lesen sucht, die er selbst liest,

wenn jemand hinter ihm steht, während er schreibt,[70]

wenn der Kellner nicht kommt,

wenn ihn auf der Straße ein Bekannter übersieht und nicht grüßt,

wenn ein andrer auf der Straße links geht,

wenn ihm der Autobus vor der Nase wegfährt usw. usw.


Auffallend ist es, daß viele Menschen, die herzensgut erscheinen, gerade die Schwäche, leicht aus der Haut zu fahren, haben. Wie abstoßend sie auf ihre Mitmenschen wirken, wie unbeliebt sie sich ihrer Umgebung machen, das merken sie nicht und wissen sie nicht. Wenigstens nicht in dem Augenblick ihres Wutanfalls, manchmal allerdings bald darauf. Dann sind sie mit einem Male ganz klein und häßlich. Sie hätten vorher daran denken sollen, daß ihre Entschuldigung den Fleck nicht ganz wegwischt, den sie bei ihrem Mangel an Selbstzucht gemacht haben.


Bitte, fahren Sie nicht aus der Haut!

Wie soll man nun solch einem Übermaß an Erregung und einem allzu leicht aufflammbaren Temperament begegnen?

O, es gibt da schon außer dem eisenfesten Willen der Selbstbeherrschung noch andre Mittel, die sich ausgezeichnet bewährt haben. Es kommt nur darauf an, daß man bei einem der genannten Vorkommnisse nicht unmittelbar aus der Haut fährt, sondern daß man diesen Gefühlsausbruch ein wenig hinausschiebt. (Unter uns gesagt: so lange, bis sich der Sturm gelegt hat.) Also, statt aus der Haut zu fahren, bleibt man zunächst hübsch darin, geht aus offene Fenster, falls man nicht im Freien ist, und macht acht bis zehn tiefe Atemzüge (langsam ausatmen und dabei »U« sagen). – Ein andres Mittel ist, ebenfalls acht- bis[71] zehnmal langsam das Wort »Ruhe« laut auszusprechen und sich dabei das Wort, versteht sich mit Ausrufungszeichen, vorzustellen. – Man kann auch eine Weile an den endlosen Strich der Autobahn, an ein wogendes Ährenfeld oder an das weite Meer denken. –

Hat man diese »Medizin« brav geschluckt, dann wird man sich wahrscheinlich selbst wundern, daß man darüber ganz vergessen hat, in die Luft zu gehn. Aber das hat nun keinen Reiz mehr. –

Fast unheilbar sind nun allerdings die Menschen, die sich für ihre Wutanfälle nicht verantwortlich fühlen, die behaupten, das sei eine krankhafte Schwäche, eine Nervenüberreizung oder ähnliches. Man muß diesen Menschen erwidern, daß das glatter Unsinn und nichts weiter sei als eine faule Ausrede. Es muß ihnen klar gemacht werden, daß nichts andres als Ungezogenheit und unverzeihlicher Mangel an Selbstbeherrschung vorliegen, wenn Anlaß und Ausbruch in keinem Verhältnis zueinander stehn.

Wer überall gern gesehen sein möchte, muß es sich also abgewöhnen, in die Luft zu gehn, aus der Haut zu fahren oder sich auch nur über die Fliege an der Wand zu ärgern, wenn mal was nicht geht, wie er es sich gewünscht hat. Wie er das zu machen hat, haben wir gezeigt.

Quelle:
Volkland, Alfred: Überall gern gesehen. Mühlhausen i. Thüringen 1941, S. 69-72.
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