30. Ober, bitte die Speisekarte!

Sehr interessante und aufschlußreiche Menschenstudien kann man machen, wenn man es sich so gegen Abend in der Vorhalle eines Hotels recht bequem macht und von einer stillen Ecke aus, die einen möglichst umfassenden Rundblick ermöglicht, die Hotelgäste beobachtet, wie sie kommen und gehn.[172]

Hier erscheinen die Menschen echt, weil sie unecht sind. Ein Menschenkenner durchschaut sie alle. Er weiß wahren Takt und Natürlichkeit von Talmi, von vorgetäuschter Vornehmheit und Blasiertheit zu unterscheiden.

Wie verschieden geben sich schon die Menschen, wenn sie durch die Drehtür getreten sind und nun den Hotelpförtner fragen, ob ein Zimmer frei sei. Die meisten sehen in dem Portier wie überhaupt in jedem Hotelangestellten eine gewaltige und einflußreiche Persönlichkeit. Sie wollen aber durch ihre künstlich gezüchtete Energie zu erkennen geben, daß sie äußerst vornehme und vor allem welterfahrene Menschen sind. Man sollte sich solche Täuschungsversuche sparen, weil sie doch verpuffen. Hotelpförtner zählen zu den besten Menschenkennern. Sie sind meist selbst so welterfahren, daß der Gast das Lächeln des Pförtners nie bemerkt, das dem Reisenden und seinem Auftreten gilt.

Unser Blick schweift weiter zu den Fahrstühlen, die von sauberen und freundlichen Pagen bedient werden. Bitte betrachten Sie sich einmal jenen Snob, der eben von seinem Zimmer kommt, den Mantel noch offen hat und nun mit einer gut einstudierten Pose dem Pagen ein kleines Trinkgeld überreicht, dabei den Kleinen hochmütig übersieht, das »danke« natürlich überhört und nun seinen »sieghaften faszinierenden« Blick über die Menschen in der Vorhalle schweifen läßt. In diesem Augenblick kommt er sich wie ein Graf vor, dieser ... aber forschen wir lieber nicht!

Andre Hotelgäste benutzen lieber die Treppe. Das tun sie darum mit Vorliebe, um zu dokumentieren, daß sie ihre »Appartements« – o, sind das vornehme Leute! – im ersten Stock haben, wo natürlich die teuersten Zimmer liegen. Wenn ich von meinem geheimen Spähposten aus beobachte, wie sich so manche Damen und auch Herren in der Unterhaltung oder auch allein zur Seite wenden und in den Hüften wiegen, wie gekünstelt ihre Stimme klingt, wie sie nur von ganz vornehmen Dingen reden, dann stelle ich mir immer vor, was dieselben Menschen wohl für eine Figur machen, wenn sie zu Hause im Banne des Werktags die Treppe in ihrem Hause hinaufsteigen und sich unbeobachtet wissen.[173]

Auch hinsichtlich ihrer Ansprüche sind die Hotelgäste sehr unterschiedlich. Ein wirklich feiner Gast wird sie nie zu hoch schrauben. Meist ist er zu Hause so gut eingerichtet, daß er für wenige Tage schon einmal auf diese oder jene Bequemlichkeit verzichten kann. Dazu verhilft ihm schon sein guter, ausgeglichener Charakter. Andre, die sich zu Hause in einer einfachen Waschschüssel – vielleicht morgens in der Küche – zu waschen pflegen, was durch die räumlichen Verhältnisse bedingt sein kann, machen in einem Hotel einen Mordskrach, wenn ihnen das fließende Wasser mal nicht heiß genug ist. »Je weniger Bequemlichkeiten der Mensch zu Hause hat, desto mehr verlangt er im Hotel. Diese Erfahrung machen wir immer wieder,« erklärte mir mal der Geschäftsführer eines Berliner Hotels. »Das ist uns immer ein guter Maßstab, den wahren Wert eines Gastes zu erkennen.« – Wer viel reist und gut beobachtet, wird das bestätigen können.

Wenn man im Hotel als Gast gern gesehen sein will, verhalte man sich möglichst geräuschlos. Das heftige Zuschlagen der Türen, lautes Poltern mit den Koffern, Werfen der Schuhe, lautes Sprechen oder gar Schreien lassen stets auf Mangel an Takt und Bildung schließen. Andrerseits soll man auch nicht gleich aus der Haut fahren, wenn man etwa durch irgendein Geräusch aus dem Mittagsschlaf geweckt wird, denn ein Hotel ist kein Sanatorium. – Wer früh genug aufsteht, wird auch immer genügend Zeit haben, geruhsam und genußreich zu frühstücken, was gerade auf Reisen sehr wichtig ist. Er braucht dann auch nicht zu schimpfen und sich selbst die Laune zu verderben, wenn der Tee eine Minute nach der Bestellung noch nicht vor ihm steht.

Im Hotelleben kommt man immer am weitesten, wenn man zu den übrigen Hotelgästen stets höflich und freundlich ist, wenn man da, wo es angebracht erscheint, Rücksichten nimmt, bei der Einleitung von Unterhaltungen indes so lange eine abwartende Haltung einnimmt, bis man sich über den andern einigermaßen ein Urteil bilden kann. Auch die Haltung gegenüber den Hotelangestellten soll stets überlegt sein. Auch hier ist Höflichkeit am Platze, Vertraulichkeit aber nicht.
[174]

*


Nun sind wir längst wieder zu Hause. Wir haben zwei Schwestern meiner Frau als Wohngäste bei uns, mit denen wir uns heute ein neues Lustspiel angehört haben. Nun wollen wir in einer guten Gaststätte zu Abend essen.

Ich öffne die Tür und halte sie so lange, bis die drei Damen eingetreten sind. Dann setze ich mich aller dings sofort an die Spitze, um einen guten Platz zu suchen. Die Gaststätte ist gut besucht. Ich erspähe einen Tisch, an dem zwei Herren sitzen. »Gestatten Sie?« frage ich, indem ich auf die noch leeren Stühle hinweise. Die beiden Herren antworten höflich »Bitte sehr«, rücken ein wenig zusammen, ziehen ihre Schoppen und den Aschenbecher etwas zu sich heran und begrüßen nun auch die Damen, die inzwischen an den Tisch herangetreten sind.

Eine besondere Kleiderablage hat die Gaststätte nicht, so hängen wir unsre Mäntel an die Haken und legen die Mäntel nicht etwa über die Stuhllehnen und die Hüte auch nicht auf den Tisch. Ein Kellner steht bereit, die Mäntel abzuziehen und abzunehmen. Das wird ein Kavalier im allgemeinen nicht zulassen, denn das ist grundsätzlich seine Sache. In diesem Falle allerdings, wo ich gleich mit drei Damen komme, kann ich nicht allen zugleich helfen. Die Damen nehmen am Tisch Platz, erst dann setze auch ich mich.

Es würde nun taktlos sein, wollte ich laut nach der Speisekarte rufen. Also winke ich den vorbeihuschenden Kellner heran und bitte ihn darum. Wenn es geht, wird der Ober zwei oder mehr Speisekarten bringen, sonst nimmt das Aussuchen zuviel Zeit in Anspruch und bekanntlich regt schon das Studium der Speisekarte den Appetit an. Nun werden die einzelnen Wünsche laut und der Herr Ober kann von mir die ganze Bestellung in Empfang nehmen, denn nur ich allein verhandele mit ihm. – Nur wer über eine besonders gespickte Geldbörse verfügt, wird den Kellner auffordern, ein besonders zusammengestelltes Menü in Vorschlag zu bringen, das wird nämlich darum meist eine teure Angelegenheit, weil der Herr Ober wohl weiß, daß der bestellende Gast in Anwesenheit der Damen niemals ein Gericht als zu teuer ablehnen wird.[175]

Als wir mit dem Essen beginnen, empfinden es vor allem meine Damen als sehr wohltuend, daß die beiden fremden Herrn am Tisch sofort zu rauchen aufhören.

Mir Zustimmung der Damen habe ich eine Flasche Mosel bestellt. Ich dulde es nicht, daß der Kellner einschenkt. Das ist meine Kavalierspflicht. Nachdem ich den ersten Schuß aus der Flasche in mein Glas gegossen habe, fülle ich die Gläser meiner Gäste, dann das meiner Frau und schließlich das meinige.

Ehe wir die Gaststätte verlassen, zitiere ich den Kellner. Nicht etwa durch lautes schnarrendes »Ober, zahlen!« oder durch fortgesetztes Klappern am Geschirr, sondern durch Heranwinken. »Bitte, rechnen Sie zusammen!« – Ganz unauffällig begleiche ich die Schuld, ohne etwa hinterher zu meckern, wie teuer hier alles sei. –


*


Damit möchten wir unsre Betrachtungen über das Verhalten des Menschen in den verschiedensten Lebenslagen abschließen. Wir waren von Anfang an bemüht, recht viel zubringen, waren uns indes immer bewußt, daß es in jedem Falle unmöglich ist, alles zu bringen.

Auf unsrer langen Wanderung werden die geschätzten Leser und Leserinnen gesehen haben, wie viel Wege und welche Mittel jedem, der guten Willens ist, zur Verfügung stehn, die Herzen seiner Mitmenschen zu erschließen, Freunde und Sympathie zu erwerben.

Bedarf es da eines Schlußwortes? – Wohl kaum. Nur eins sei noch gesagt: Gewiß ist es für jeden, der die Zuneigung seiner Mitmenschen erringen möchte, gut und notwendig, sich alle Regeln, die sich die Menschen für den Verkehr mit Menschen gaben, fest einzuprägen. Aber die Beherrschung dieses Wissens allein bedeutet noch keine Vollendung! Das Streben eines guten Menschen wird unausgesetzt dahin gehn, sich zu veredeln und zu vervollkommnen. Er wird seine Aufgabe darin sehen, die Form des äußeren Anstandes mit Leben, nämlich mit menschlichen Regungen zu erfüllen, die aus reiner Seele und gutem Herzen kommen. In der Schaffung und Förderung wahrer Volksgemeinschaft wird er sein vornehmstes Ziel erblicken.[176]

Quelle:
Volkland, Alfred: Überall gern gesehen. Mühlhausen i. Thüringen 1941, S. 172-177.
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