II. Eltern und Kinder.

[14] Wir können dieses wichtige Kapitel, über das so unendlich viel Schönes und Edles geschrieben worden ist, hier selbstverständlich nur streifen und die Eltern wie die Kinder auf gewisse Hauptpunkte aufmerksam[14] Zu der Erziehung des Kindes gehört vor allem Liebe, sehr viel Liebe. Mit der Liebe gehe Konsequenz Hand in Hand. Verlange pünktlichen Gehorsam, Ordnung und freundliches Wesen.

Halte auf gute Manieren bei deinen Kindern. Sie müssen dich morgens und beim Nachhausekommen mit freundlichem Wort grüßen, dir Adieu sagen, wenn sie das Haus verlassen, dir »gute Nacht« wünschen und beim Aufbruch vom Tisch »gesegnete Mahlzeit!«

Von einem ungefügen, die Manieren vernachlässigenden Menschen sagt man: »Er hat keine Kinderstube.«

Denk' an dieses Wort. Beherzige, daß deine Erziehung in der Kinderstube ihm dereinst den Lebensweg ebnen soll, daß deine Nachlässigkeit in diesem Punkte ihm dagegen direkt schaden kann.

Gute Tischmanieren erlernen sich am leichtesten schon in der Jugend unter der steten Aufsicht der Mutter. Wir werden im Abschnitt »Bei Tisch« sehen, worin sie bestehen, und auch erkennen, von welcher Bedeutung sie für die Beurteilung des ganzen Menschen sind.

Gewöhne dein Kind von Jugend an, mit allen Dingen, die sein Gemüt bewegen, bei dir Rat zu suchen. Sieht es in dir deinen treuesten Freund, so wirst hu später nie über Mangel an Vertrauen oder gar Hintergehung desselben zu klagen haben.

Tadle auf frischer That. Kinder haben ein kurzes Gedächtnis. Unverstandener Tadel reizt. Wenn du tadelst, sei maßvoll. Werde nicht jähzornig. Der Anblick deines wutverzerrten Gesichtes verfolgt das Kind Jahre hindurch und erschüttert sein blindes Vertrauen zu dir.[15]

Halte darauf, daß die Kinder auf ihr Aeußeres achten, daß sie mit sauberen Händen und gebürstetem Haar zu Tisch erscheinen, aber wecke nicht ihre Eitelkeit.

Ein Hauptaugenmerk richte auf ihre Haltung, ihren Gang. Du weißt, wie wertvoll eine gute Körperhaltung für die Gesundheit ist. Sie ist außerdem ein Empfehlungsbrief für den ganzen Menschen.

Geschwister sollen friedlich miteinander leben. Wirke dahin, daß der Knabe seinem Schwesterchen artig die kleinen Dienste erweist, die er dir zu leisten hat: Oeffnen und Offenhalten der Thür, Aufheben eines gefallenen Gegenstandes, Herbeiholen eines Stuhles, Hilfe beim Anziehen des Paletot u.s.w.

Sprich nicht zu viel von deinen Kindern. Laß sie nicht immer zugegen sein, wenn Fremde dich besuchen. Nimm sie nur zu Verwandten oder Bekannten mit. Laß sie nur wenig und nur im Hause an der Geselligkeit teilnehmen. Verfrühe ihnen nicht diese Freuden. Jedes Alter hat seine Vergnügungen. Es ist eine traurige Unsitte, wenn Kinder die Veranstaltungen der Großen nachäffen.

Mit dem Heranwachsen des Sohnes und der Tochter ändert sich insofern dein Verhältnis zu ihnen, als du ihnen mehr Freiheit läßt und in ihnen den erwachsenen Menschen berücksichtigst. Anderseits aber hast du den Hang zu allzu großer Selbständigkeit zu beschneiden, der Ueberschätzung der eigenen Persönlichkeit zu steuern.

Bleibe auch in steter Verbindung durch Briefe und Sendungen, durch Empfehlen von Lektüre etc. mit dem Sohne, der außer dem Hause ist. Der Gedanke[16] an eine liebreiche Mutter, an einen treuen Vater, der Hauch ihres Wesens, der aus ihren Briefen aufsteigt, hat manchen vor Schlimmem bewahrt.

Die Tochter, die die Jahre nach der Konfirmation im Elternhause verlebt, tritt den Eltern naturgemäß in dieser Zeit näher als der Sohn. Diese Jahre der Freiheit, die dem Schulzwang folgen, sind nutzbringend auszufüllen. Gar viele Väter sehen in der erwachsenen Tochter nur die junge Dame, die sich amüsieren soll. Manche Mutter räumt dem verwöhnten Töchterchen eigenhändig jedes Steinchen aus dem Lebensweg. Erziehen sie aber das junge Mädchen auf diese Weise zu einer richtigen Gefährtin für den Mann, bereiten sie sie dadurch vor auf den opfervollsten Beruf?

Die Mutter denkt: »Ich habe es so schwer gehabt, so soll sie es wenigstens gut haben!« oder »Die paar schönen Jahre soll sie sich nicht plagen, da gönne ich ihr Ruhe!« Aber die paar schönen Jahre schwinden. Hat die junge Frau sich nicht im Elternhaus an Thätigkeit gewöhnt, so wird sie bitteres Lehrgeld mit Thränen zahlen. Bleibt sie unvermählt, so wird sie erst recht bedauern, nicht gelernt zu haben, ihre freie Zeit mit etwas Nutzbringendem auszufüllen.

Darum, liebe Mutter, lege, so schwer es dir auch werden mag, das Scepter des Hauses auch einmal in die Hände der Tochter. Gönne ihr, Selbständigkeit zu lernen, das Gefühl eigener Verantwortung zu fühlen. Dies wäre die schönste Vollendung deiner Erziehung![17]

Quelle:
Wedell, J. von: Wie soll ich mich benehmen? Stuttgart 4[o.J.], S. 14-18.
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