I.

[318] Die Linden blühen, und die Rosen duften zu mir ins Fenster hinein. Strahlender Sonnenschein liegt über der schönen Gotteswelt, und jenseits von der Landstraße her tönt das Lied des Wanderburschen zu mir herüber:


»Wem Gott will rechte Gunst erweisen,

Den schickt er in die weite Welt – – –«


Und dich, lieber Leser, treibt es auch in die Ferne mächtig hinaus bei diesem Maienjubel, der in der Luft zu liegen scheint, und du greifst nach diesem Büchlein, das dir, so vermessen ist mein Hoffen, ein treuer Ratgeber in der Kunst zu leben geworden ist, und willst nun wissen, was es zu deinem Vorhaben zu sagen hat.

»Freilich,« meinst du, »ist das Nachschlagen eigentlich überflüssig, denn auf der Reise wenigstens will ich unbehelligt von allem gesellschaftlichen Beiwerk sein. Unterwegs bin ich frei wie der Vogel in der Luft!«[318]

Gewiß, lieber Leser, das Gefühl der Freiheit ist es ja gerade, welches das Reisen so versüßt, und ich will dir's am wenigsten verkümmern, hab' ich's doch selbst gar sehr empfunden auf weiten Streifereien durch mancher Herren Länder.

Aber schrankenlos ist deine Freiheit nicht. Du mußt die seine Sitte, die gute Lebensart, die Höflichkeit und Rücksichtnahme auch als Reisebegleiter mitnehmen. Sie ist dir ja bereits so weit in Fleisch und Blut übergegangen, daß du ihrer als bestes Hilfsmittel im Umgange mit der Welt gar nicht mehr entraten kannst.

Die Freiheit, die dir das Reisen in gesellschaftlicher Hinsicht bietet, ist, daß du keinerlei vorgeschriebene Verpflichtungen hast. Du kannst dir deine Bekanntschaften wählen, du kannst Umgang suchen, wo es dir behagt, du kannst dich ablehnend verhalten diesem und jenem Entgegenkommen gegenüber, kannst dich endlich je nach deiner Stimmung auch gänzlich absondern und abschließen, lauter Dinge, die dir in deinem gewohnten Bekanntenkreis schwer fallen, wenn nicht gänzlich unmöglich sein würden.

Da aber, wo du Beziehungen anknüpfest, bist du verpflichtet, alle Gesetze der Höflichkeit zu beachten, die die vorliegenden Blätter enthalten.

Denke nicht: »Hier kennt mich niemand!« »Ich bin hier unbeobachtet!« »Hier kann ich mich schon etwas gehen lassen, zu Hause bin ich sofort wieder der korrekte Herr M.!« Glaubst du auch selbst vergessen zu können, wer du bist, die Welt vergißt es nicht! Die Welt ist so klein! Ich wette, du triffst den nächsten[319] Winter in Gesellschaft irgend einen, der dich da oder dort getroffen oder von dir gehört hat.

Darum führe dich überall so auf, daß du dein Benehmen allzeit und gegen jeden vertreten kannst.

Wenn du eine Reise vorhast, so mache dir zu Hause, besonders wenn du im Reisen noch unerfahren bist, einen genauen Reiseplan. Der Zufall sorgt meistens für allerlei kleine Abweichungen. Du wirst aber viel Zeit sparen und dich in größerer Ruhe dem Genuß des Reisens hingeben können, wenn du dich zu Hause bereits über Anschlüsse, Hotels etc. unterrichtet hast. Auch thust du gut, dir einen Kostenüberschlag zu machen, wobei du nicht vergessen darfst, ein Drittel der Gesamtsumme unter der Rubrik »Unvorhergesehenes« hinzuzurechnen.

Viel Geld bei sich zu tragen, ist für manchen lästig und ein Gegenstand der Sorge. Man nehme daher nur das notwendige bare Geld und im übrigen Kreditbriefe an Bankhäuser mit oder lasse sich das Geld per Postanweisung an Orte, die man an bestimmten Tagen zu passieren gedenkt, nachsenden.

Damen sollten nie ihre Barschaft in der Kleidertasche mit sich tragen, ebensowenig in einem Umhängetäschchen mit sich führen. Beides kann gestohlen, letzteres im Gedränge verloren gehen oder abgeschnitten werden. Ein Lederbeutelchen an einem Band um den Hals zu tragen für Gold oder Papiergeld, und kleinere Münze in einem gut verschließbaren Portemonnaie, ist das Richtigste. Herren lassen sich am besten in das Futter der Reiseweste eine Tasche zum Knöpfen machen.[320]

Bei längerem Aufenthalt in einem und demselben Hotel empfiehlt es sich, Geld und Pretiosen – letztere wird der erfahrene Reisende als auf Reisen mehr wie überflüssig selten mitnehmen – beim Wirt zu deponieren.

Aber einstweilen sind wir noch daheim, mitten in den Reisevorbereitungen. Sehr lohnend ist es, sich mit einem guten Reisehandbuch neuester Auflage zu versehen, ebenso mit dem Reichskursbuch. Die etwas kostspieligere Anschaffung erspart uns ungemein viel Aerger. Billige, ungenaue oder unvollständige Bücher dagegen können uns mehr wie einmal die Laune verderben.

Wer größere Fahrten, z.B. nach Italien, dem Orient u.s.w. vorhat, sollte sich bereits zu Hause durch Lektüre von Büchern über Kunstgeschichte, Land und Leute orientieren. Der geistige Gewinn der Reise – und um diesen handelt es sich doch auch; man reist doch nicht bloß zum Amüsement! – wird ein ungleich höherer sein. Man genießt mit Verständnis und beobachtet mit einmal gewecktem Interesse doppelt scharf.

Jeder, der in diesem Sinne reist, wird das Bedürfnis haben, für spätere Zeiten Erinnerungen heimzubringen. Wir raten ihm aus Erfahrung zur Führung eines Reisetagebuches, an dessen Hand wir jederzeit die Erinnerung in treuester Gestalt heraufbeschwören können. Man braucht zur Niederschrift durchaus nicht mehr als einige Minuten täglich am Abend. Kurze, sachliche Bemerkungen genügen vollständig und lassen sich später daheim zu Schilderungen ausarbeiten.

Wenden wir uns nun zur Reisetoilette. Unzureichende und unpassende Kleidung, die der Witterung[321] und dem Klima nicht entsprechen; Schuhwerk, das für den Asphalt, aber nicht fürs Gebirge gearbeitet ist, hat manchem die ganze Reise vergällt. Auch ein Uebermaß an Gepäck ist lästig und hindert unsere Bewegungsfreiheit. Wer mit Genuß reisen will, beschränke sich auf die Mitnahme des Notwendigsten. Herren mögen einen guten, am besten neuen und widerstandsfähigen, grauen oder braunen sogenannten staubfarbenen Anzug anlegen und einen andern, eventuell auch einen Smoking für die Table d'hote, Konzerte, Reunions etc, einpacken, dazu einen Schirm, Stock, Reisemantel und einen weichen dunklen Filzhut wählen. An Wäsche nehme man nur geringen Vorrat mit, da man sie überall rasch (in manchen Orten in einem Tag) gewaschen bekommt. Waschlederne Handschuhe für unterwegs und ein Paar Glacés im Koffer genügen, Wollwäsche und ein Paar Reservestiefel, Pantoffeln nicht zu vergessen, und deine Reiseausrüstung ist fertig. Hauptsache ist, daß du nur kräftige, am besten neue Sachen mitnimmst, die die Strapazen der Reise auch aushalten können. Damen sündigen in diesem Punkte gar viel. Sie glauben, alte Kleider auf der Reise auftragen zu können: ja sogar unmoderne Gesellschaftskleider, die zu Hause nicht mehr tragfähig waren, meint ihr sparsamer Sinn unterwegs noch benutzen zu müssen. Dies ist grundfalsch. Es lockt den uns begegnenden, im Reisen wohlerfahrenen Ausländern nur ein Lächeln über deutsche Damen ab und verrät zudem mit unerbittlicher Deutlichkeit den Neuling im Reisen.

Darum, liebe Leserin, besorge dir ein dunkles z.B.[322] marineblaues Kleid mit einer englischen Taille und einer bequemen, vielleicht karierten Foulardblouse, einen gut schließenden, vorn losen Paletot, runden Stroh- oder Filzhut, dunklen Schleier und wildlederne Handschuhe, dazu kräftige Leder-Schnürschuhe (oder Knöpfstiefel mit eingeschraubten Knöpfen, damit du nicht durch das Annähen von abgerissenen Knöpfen aufgehalten wirst) und einen En-tout-cas, Sonnen-und Regenschirm zugleich. Nimmst du außerdem noch eine elegantere Blouse für die Table d'hote und eine Waschblouse für heiße Tage, einen einfachen Reserverock und ein Plaid mit, welches du bei Regenwetter umschlägst, und das dir den Regenmantel ersetzt, so bist du wohlgerüstet. Auch die Mitnahme einer kleinen Reiseapotheke, eines sogenannten Priesnitzumschlags für Entzündungen und Muskelzerrungen, Vaseline für Massage bei Verstauchungen, eines Notverbandes für kleine Wunden (in Apotheken erhältlich), Hirschtalg für wundgelaufene Füße u.s.w. ist sehr zu empfehlen.

Herrlich aber ist es, wenn du dein Gepäck als Handgepäck mit dir führen kannst und nirgends auf Gepäckträger angewiesen bist. Auch rate ich dir, dein Gepäck – Passagiergepäck wie Kollis, die du als Eilgut voraussendest – deutlich zu zeichnen, z.B. durch ein aufgemaltes weißes Schild mit Adresse in roter Schrift. Du kannst alsdann mit einem »Der da!« den dir gehörenden Koffer deutlicher kennzeichnen als mit einer langatmigen Beschreibung und ihn doppelt schnell aus der Menge der Gepäckstücke, die sich auf dem Perron staut, herausfinden.[323]

Gelegentlich der Besprechung des Reisegepäcks will ich dich noch vor einer groben Rücksichtslosigkeit warnen. Während einer Reise stieg kürzlich unterwegs ein englischer Herr in mein Coupé erster Klasse. Zwei Gepäckträger, sage und schreibe zwei Mann, trugen und schleppten sein »Handgepäck« herbei, Handkoffer, Hutschachtel, Reisetasche, Eßkober, alles in mehrfacher Gestalt, dazu ein Jagdgewehr in Futteral, einen Jagdstuhl, Plaidpaket etc. Das Ganze nahm sämtliche Netze und zwei Sitzplätze ein. Solche Unverfrorenheit, gelinde gesagt, bleibt der Schrecken und die Qual aller Mitreisenden, besonders auf längeren Strecken, wo die Glieder durch die steifen Wände des nebenstehenden Koffers etc. eingeengt werden.

Die Zusammenstellung des Billets (Rundreisehefte sind wegen der nicht unbedeutenden Ersparnis direkten Billeten vorzuziehen) geschieht auf den Bahnhöfen in der Auskunftsabteilung in mustergültiger Weise. Du selbst hast nur für Aufbewahrung, am besten in einer starken Lederbrieftasche von Oktavformat, die gleichzeitig Postkarten, Briefpapier und einen Tintenstift enthält und dem Gepäckschein Unterkommen gewährt, zu sorgen.

Und nun wären wir mit den Vorbereitungen wohl zu Ende. Es erübrigt uns noch, unser Heim gut zu verwahren, das Silber auf der Bank zu deponieren, wertvolle Sachen einzuschließen und uns von unsern näheren Bekannten durch einen Besuch zu verabschieden.

Quelle:
Wedell, J. von: Wie soll ich mich benehmen? Stuttgart 4[o.J.], S. 318-324.
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