XIV.

Romane, insbesondere die historischen.

[198] Von meinen älteren Romanen: »Aus anständiger Familie«, »Ein hässlicher Mensch«, »Hinter den Koulissen«, »Die Arbeiter«, ist schon die Rede gewesen. Mehrere von den übrigen, so »Pauline« (1868), »Rosa Lichtwart« (1870), »Das grüne Thor« (1873), »Ein starkes Herz« (1875; es ist darin unter anderem das Badeleben am Ostseestrande aus der Zeit geschildert, als man noch sehr genügsam war), »Eine vornehme Schwester« (1879), »Der Sohn seines Vaters« (1883), »Die Taube auf dem Dache« (1889 aus einem älteren Lustspiel umgearbeitet), »Suam cuique« (1887; »jedem die seine«, nämlich die Frau, die für ihn passt), wollten wesentlich Unterhaltungszwecken dienen. Eine Inhaltsangabe wäre hier nicht angebracht. Einige kehren eine bestimmte Tendenz heraus, und in betreff ihrer mag noch ein kurzes Wort gestattet sein.

»Hohe Gönner« (1881) schildern humoristisch-satirisch, wie ein berühmter Mann »gemacht« wird. Hier ist's ein junger Maler, und die hohen Gönner sind ein wohlsituierter Damenschneider, dessen Tochter sich in ihn verliebt hat, ein Photograph und ein Journalist. Vergebene Liebesmüh freilich, da der tüchtige Künstler dann doch seine eigenen Wege zu Ruhm und Glück geht. – »Der jüngste Bruder«[199] (1890) ist Handwerker geworden, weil sein Vater an ihn nicht mehr wenden konnte, was er an die älteren Söhne wendete, von denen es der eine zum Geheimen Regierungsrat, der andere zum Major gebracht hat. Er ist der Familie entwachsen, und alle Versuche, ihm nachträglich eine standesgemässe Existenz zu schaffen, missglücken, weil er nicht aus seiner Haut heraus kann und will. – »Herr v. Müller« endlich (1891) ist der gut bürgerliche Geschäftsmann, der sich verleiten lässt in zweiter Ehe eine Dame von altem Adel zu heiraten und nun durch sie zu der ihm sehr übel bekommenden Thorheit veranlasst wird, sich selbst um den Adel zu bemühen, Rittergüter anzukaufen und mit dem grössten Teil seines Vermögens ein Fideikommiss zu stiften. Meine lange richterliche Beschäftigung mit Lehns- und Fideikommisssachen gab mir reichliche Erfahrung, die hier verwertet werden konnte, wenn die Fabel des Romans auch erfunden ist.

Mehr einheitlichen Charakter haben meine historischen Romane. Ich stehe hier schriftstellerisch ganz auf eigenem Grund und Boden, nämlich auf dem meiner Heimatsprovinz Ostpreussen, deren sehr eigenartige und interessante Geschichte, wie ich behaupten darf, durch mich erst mit Erfolg dichterisch auszubeuten und in weiteren Kreisen bekannt zu machen versucht ist. Meine Neigung, aus ihr zu schöpfen, kennzeichnete schon die Wahl der Dramenstoffe in dem Schauspiel »Unser General York« und der Tragödie »Der Withing von Samland«. Ich hatte Geschichte studieren wollen; nun war der Jurist schon in seiner Referendariatszeit und später mit verstärktem Eifer bemüht, wenigstens von der seines engeren Vaterlandes sich spezielle Kenntnis zu verschaffen. Eigentliches Quellenstudium freilich hatte für mich keinen Zweck; aber alles was ich von bezüglichen Druckschriften, oft mit Reickes Hilfe aus den verstecktesten Sammelbänden der Bibliothek auffinden konnte, las und excerpierte ich fleissig, zugleich Zusammengehöriges zur[200] Kenntnis des Verfassungsrechts und der Kulturzustände der verschiedenen Zeiten ordnend. Es wäre mir nicht schwer gewesen, in Fussnoten oder Anhängen meiner Romane für jede historische Thatsache den literarischen Fundort nachzuweisen, oder bei nicht übereinstimmenden Berichten meine Entscheidung zu rechtfertigen, oder auch da, wo in offene Stellen meine Erfindung eintrat, diese mit einem Anschein von Gelehrsamkeit zu begründen. Ich bin hierin absichtlich berühmten Vorbildern, die sich deshalb des Beifalls der Philologen zu erfreuen hatten, nicht gefolgt, weil ich stets der Meinung war, dass der Roman ein Kunstwerk sein soll und sich als solches durch sich selbst beglaubigen muss.

Diese Äusserung kennzeichnet bereits die Stellung, die ich überhaupt dem historischen Roman gegenüber einnehme. Ich bevorzuge ihn nicht, wie von mancher Seite geschieht, als eine höhere Gattung des Romans, aber ich sehe auch ebensowenig Grund, ihn hinter den sogenannten Zeitroman zurückzusetzen, wozu andere geneigt sind. Die wissenschaftliche Grundlage, auf die dort Gewicht gelegt wird, mag für sich selbst noch so solide sein; für den Roman ist sie nichts als eine notwendige Voraussetzung, ohne welche er überhaupt nicht gedichtet werden kann, und seine Absicht geht nicht dahin, Geschichtskenntnisse zu verbreiten (das gelingt ihm vielleicht nebenher auch), sondern eine, obgleich geschichtlich, doch zugleich allgemein menschlich interessierende Begebenheit aus der Vergangenheit so zu schildern, dass diese sich dem Leser als gegenwärtig darstellt. Es ist ohne weiteres zuzugeben, dass der Autor sich ein Bild jener Vergangenheit nicht aus eigener Anschauung schaffen kann, vielmehr genötigt ist, es sich und dem Leser aus den auffindbaren Mosaikstiften, nämlich den vorhandenen Bauresten und den schriftlichen Überlieferungen und Zeugnissen von Zeitgenossen, Urkunden etc. zusammenzusetzen, wobei seiner Phantasie ein weiter Spielraum gelassen ist, und dass aller Wahrscheinlichkeit nach dieses Bild nie mit der (freilich[201] auch nicht weiter kontrollierbaren) Wirklichkeit sich vollständig decken wird. Aber welcher Verfasser eines Zeitromans – ich meine eines Romans, der die Tendenz hat, ein Dokument der Gegenwart zu sein – sieht alles, was er schildert, mit eigenen Augen, führt lediglich Personen ein, die er aus eigenem Umgang kennt? Auch er ist darauf angewiesen, Abbildungen und Beschreibungen bestimmter Lokalitäten und Erfahrungen zu Hilfe zu nehmen, die ihm durch mündliche oder schriftliche Berichte, sowie Druckschriften aller Art übermittelt werden; auch er schafft aus der Phantasie, und das Zeitbild, das dann wieder für sich selbst nichts als die notwendige Voraussetzung für die eigentliche Romanhandlung ist, wird immer nur bis zu einem gewissen Grade ein ganz richtiges genannt werden können, weil Dichtung und Wirklichkeit sich nie ganz decken. Ich nehme auch an, dass stets die Menschen von Grund aus dieselben gewesen sind und dass die sich aus den besonderen Existenzbedingungen ergebenden Abweichungen rekonstruiert werden können, sobald jene besonderen Existenzbedingungen wissenschaftlich festgestellt sind. Analogieen ergeben sich aus der Gegenwart. Es wird nicht eingewendet werden dürfen, dass es ja die Aufgabe des Geschichtsschreibers sei, vor uns die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen; auch ihm wird dies nur gelingen, wenn er mit dichterischer Phantasie begabt ist. Aber der Romanschreiber teilt, wie schon gesagt, diese Aufgabe mit ihm gar nicht als Endzweck der Darstellung; so weit sie aber in seiner weiteren Aufgabe, Menschenschicksale zu schildern, zufällig einbegriffen ist, hat er viel mehr Freiheit, das in der Überlieferung Fehlende zu ergänzen und das stückweise Überlieferte in verständlichen Zusammenhang zu bringen. Er findet nicht nur, er erfindet.

Es giebt zwei Arten des historischen Romans. Bei der einen wird eine völlig frei erfundene Begebenheit in irgend eine Vergangenheit zurückverlegt, die ihre Glaublichkeit zu[202] verstärken geeignet ist und die dann nur dem Bilde den Hintergrund giebt. Bei der andern wird zugleich eine historische Begebenheit selbst für die Romanfabel verwendet und nach deren Bedürfnis mehr oder minder umgestaltet. In letzterem Falle scheint es mir ein Vorzug des Romans zu sein, wenn er, ohne die Aufgabe des Geschichtsschreibers zu übernehmen, die historische Begebenheit und die historisch überlieferten Charaktere möglichst wenig verändert und ihnen die Erfindung so einpasst, dass sie mit ihr bestehen bleiben. Ich habe für meine historischen Romane und auch meist für die kleineren historischen Erzählungen diese zweite Art gewählt und viel Fleiss darauf gewandt, meiner Theorie zu genügen.

Es giebt auch zwei Arten der Darstellung einer historischen Begebenheit im Roman. Bei der einen er zählt der Dichter von sich aus, was geschehen ist, setzt die Vergangenheit in Beziehung zur Gegenwart, in der er selbst steht, und zeigt dem Leser bei jeder Gelegenheit die Unterschiede und macht die Person des Erzählers überall kenntlich. Das geschieht schon, wenn er sagt: »vor tausend, vor fünfhundert Jahren ...«, oder: »man trug damals ...« etc. oder wenn er den Leser wissen lässt, dass ein Faktum historisch treu mitgeteilt sei, oder weshalb er sich für berechtigt gehalten habe, davon abzuweichen. Im andern Falle verschwindet die Person des Romandichters genau so wie die des Dramendichters gänzlich hinter der Dichtung, wird das Vergangene als ein Gegenwärtiges erzählt, wie wenn ein Zeitgenosse es erzählt hätte, sofern er sich unserer Sprache hätte bedienen können. Dem Leser bleibt es überlassen, die Unterschiede zwischen damals und jetzt selbst herauszufinden, und dem Kritiker, den Roman mit der Historie zu vergleichen und die Berechtigung der Abweichungen zu prüfen. Ich habe jene erste Art der Darstellung immer für unkünstlerisch gehalten und mich bemüht, den Schein vollster Objektivität zu wahren.[203]

Was das Stoffgebiet betrifft, so habe ich die Grenzen meines Heimatlandes nicht überschritten. Ich war der Meinung, dass mir hier mehr als auf jedem andern von Nutzen sein müsste, was auch dem Verfasser zeitgenössischer Romane nützt: die Kenntnis von Land und Leuten. Denn die Naturbeschaffenheit ist im Ganzen dieselbe geblieben, Burgen, Schlösser, Kirchen, Rathäuser und ganze Stadtteile aus alter Zeit bieten sich der Anschauung, und die Bewohner haben viel von ihrer ursprünglichen Eigenart bewahrt und deuten überall zurück auf ihre Vorfahren. Hier in Altpreussen vielleicht mehr als anderswo. Denn über die erste Hälfte dieses Jahrhunderts hinaus blieb die östliche Provinz von dem Körper der Monarchie entlegen, nicht nur politisch in besonderer Stellung, sondern auch wirtschaftlich auf sich selbst gewiesen, vielleicht in regerem Verkehr mit dem Auslande – über See –, als mit dem Westen Preussens. Brauchte man doch, bevor die Eisenbahn Mitte der fünfziger Jahre eröffnet wurde, zur Reise von Königsberg bis Berlin in der Schnellpost drei Tage und zwei Nächte, und von Litauen oder Masuren aus auf schlechten Wegen erst Königsberg zu erreichen, war auch nicht zu jeder Jahreszeit leicht. So wars nur ein kleiner Teil der Bewohner, der über die Weichsel hinauskam, während nach der anderen Seite die russisch-polnische Grenze zum Überschreiten wenig einlud. Die Beziehungen der Menschen zu einander blieben durch Generationen ungefähr dieselben, ihr Anschauungskreis erweiterte sich nicht, ihre Denkweise erlitt keine wesentliche Veränderung, ihre Sprache selbst deutete vielfach auf die historische Entwickelung der deutschen Kolonie im Nordosten zurück. Sitten und Gebräuche hatten sich länger als anderswo erhalten können. Auch wenn ich ein paar Jahrhunderte zurückging, versagte die Anlehnung an Selbsterlebtes nicht ganz.

Namentlich auch in der Politik schien mir eine gewisse Starrköpfigkeit, auf die wir stolz waren, das Erbteil der[204] Väter zu sein. Und hier gerade fand ich die ersten Anknüpfungspunkte für eingehendere Geschichtsstudien. Der grosse Kurfürst interessierte mich lebhaft, der das alte Band zwischen Preussen und Polen zerrissen, einen selbständigen Staat begründet und ihn zu einem engeren Anschluss an seine Besitzungen im Reich genötigt hatte. Weshalb widerstrebten seine Unterthanen von damals so eifrig diesen Veränderungen, die doch den Grund zu dem grossen Staatswesen gelegt haben sollten, das sich nun das Königreich Preussen nannte und vom Niemen bis zum Rhein reichte? Was waren das für Streitigkeiten zwischen dem grossen Kurfürsten und den preussischen Ständen, die der Huldigung des souveränen Herzogs vorangingen? Die neueren Geschichtswerke gaben mir darüber keine genügende Auskunft. Es schien mir, dass sie zu einseitig für den Kurfürsten Partei nehmen und den Ständen nicht gerecht zu werden vermöchten, da sie schon immer den späteren Werdegang der Monarchie in Rechnung zogen und diejenigen für politisch blind ausgaben, die nicht mit den Augen des künftigen Geschichtsschreibers zu sehen imstande waren. Mein Billigkeitsgefühl zwang mich, mir hier eine eigene Überzeugung zu verschaffen. Als ich mich aber mit diesen letzten Anstrengungen des ständischen Gemeinwesens beschäftigte, musste ich sehr bald erkennen, dass ich viel weiter zurückzugehen und dasselbe auf dem Höhepunkte seiner Machtentfaltung und in seiner Entstehung studieren müsste. So vertiefte ich mich denn, hauptsächlich von diesem Gesichtspunkte aus, in die Ordensgeschichte und fand, dass die unglückliche Schlacht bei Tannenberg 1410 zuerst politischen Ständen eine widerwillige und anfangs noch sehr beschränkte Anerkennung schaffte. Heinrich v. Plauen wurde mir der Mann, der meine ganze Aufmerksamkeit fesselte. Wie konnte es geschehen, dass dieser mannhafte Verteidiger der Marienburg, dieser Retter des deutschen Ordens aus seiner grössten Not, dieser einzige Hochmeister, den der Feind fürchtete, so bald[205] mit schwerstem Undank belohnt, abgesetzt und gar im Gefängnis gehalten wurde? Hier war wieder eine dunkle Stelle in der Landesgeschichte, in die mir nur der politisch und juristisch geschulte Poet schien hineinleuchten zu können. Plauen war der kluge Herrscher, der begriff, dass das absolute Ordensregiment die Macht verloren hatte, sich des überstarken Gegners zu erwehren, dass der Orden als Landesherr sich nur behaupten könne, wenn er die Unterthanen politisch beteiligte und ständische Vertreter des Grundbesitzes und der Städte in seinen Rat aufnähme. Deshalb die Reaktion innerhalb des Ordens, deshalb Plauens Fall. Es war auch hier der Kampf zwischen abgelebten und neu aufringenden Verfassungsformen. Mein Roman »Heinrich von Plauen« (1877) schildert ihn.

Zum Austrag gebracht wurde er erst ein halbes Jahrhundert später, als Lande und Städte einen Bund schlossen, vom Orden abfielen, sich der Republik Polen in die Arme warfen, die ihre politischen Rechte im weitesten Umfange anzuerkennen bereit war, und der letzte Hochmeister in der Marienburg residierte, der Orden nach einem 13jährigen Verzweiflungskampf nur einen Teil seines Landbesitzes, Ostpreussen, dadurch für sich rettete, dass er es von Polen zu Lehn nahm. Von allen Gegnern der furchtbarste wurde dem Orden der Thorner Ratsherr »Tileman vom Wege«, und ihn hat denn auch der Roman gleichen Namens (1886) zum Mittelpunkt der Fabel und des politischen Interesses. Dass ihm kein so weiter Leserkreis zugefallen ist, als dem ersten, erklärt sich mir nur daraus, dass der Held wenig Sympathie erweckt und das, was mir die Hauptsache war: der Kampf um die Herrschaft im Staate, den Abonnenten der Leihbibliotheken – und von ihrer Gunst hängt für den deutschen Romanschriftsteller ja noch immer so viel ab – wenig Teilnahme abnötigen konnte.

Inzwischen hatte ich, auf den Ausgangspunkt meiner Studien zurückgehend, 1885 und 1886 meinen Roman »der[206] grosse Kurfürst in Preussen« (drei Abteilungen in fünf Bänden) geschrieben, der sich, zuerst in der Nationalzeitung veröffentlicht, berühmen durfte, auch von männlichen Lesern beachtet zu sein, die sonst auf das unter dem Strich keinen Blick zu werfen pflegen. Preussen ist hier Altpreussen, das Land, welches zur Zeit des grossen Kurfürsten allein diesen Namen hatte, und der Roman scheidet daher für sich diejenigen Begebnisse aus dessen Regentengeschichte aus, die auf das damalige Lehns- dann souveräne Herzogtum Bezug hatten. Wie der Kurfürst die Souveränität im Kampfe gegen Polen und Schweden gewinnt und wie er sie gegen die widerstrebenden Stände durchsetzt, das ist hier die staatsrechtliche Grundlage des Romans, dem es freilich auch nicht an einer weitgesponnenen Erfindung mehr privaten Charakters fehlt. Die Stände sind formell im Recht, aber der Kurfürst ist der vorschauende Geist, der auf neue Bahnen leitet, und so wird ihr summum jus summa injuria. Dieses summum jus verkörpert sich in dem Schöppenmeister Hieronymus Rohde, einer dem Kurfürsten ebenbürtigen Persönlichkeit, die ihm Achtung einflösst, während der Adel in Christian Ludwig v. Kalckstein, der den wirklich begangenen Hochverrat auf dem Schafott büsst, keinen ebenso charaktervollen und persönlich hochstehenden Repräsentanten findet, wenn er auch keineswegs das Urteil verdient, mit dem eine monarchisch befangene Geschichtsschreibung ihn abthun zu können gemeint hat. Das Unrecht, das ihm geschah, bestand, abgesehen von dem Gewaltakt seiner Entführung aus Warschau, hauptsächlich darin, dass man ihn für politisch bedeutender hielt, als er in Wirklichkeit war, aber andererseits thut man auch dem Kurfürsten Unrecht, wenn man verkennt, dass er Grund hatte, diesen altpreussischen Edelmann, der vorgab, im Auftrage seiner Standesgenossen zu handeln, für staatsgefährlich zu erachten, und durch seine Beseitigung in einem allerdings nicht fehlerfreien Gerichtsverfahren eine schwere Kriegsgefahr von Preussen abzuwenden. Kalckstein hat mir[207] die meiste Sorge gemacht. Hier verliessen mich die geschichtlichen Nachrichten, und im Königsberger Archiv hatte ich schon früher nur die Auskunft erhalten können, dass nichts auf seinen Prozess Bezügliches vorhanden sei, wahrscheinlich nie die Akten dorthin zur Aufbewahrung gegeben, vielleicht vernichtet wären. Hier ohne jeden sicheren Anhalt aus der Phantasie schöpfen, hiess mit dem Bewusstsein arbeiten, ein unrichtiges Geschichtsbild geben zu müssen. Zum Glück fand ich bei Ranke eine Anmerkung, die mir ausser Zweifel stellte, dass die Akten, und zwar im Berliner Staatsarchiv vorhanden seien; er selbst musste sie da eingesehen haben. Es kam mir nur darauf an, zu erfahren, ob mir eine gleiche Vergünstigung zuteil werden könnte. Herr v. Holleben, Kanzler des Königreichs Preussen und mein Chef beim Oberlandesgericht, hatte freundschaftliche Beziehungen zu dem Staatsarchivar von Sybel; er vermittelte sehr gütig für mich, und so geschah es, dass die Akten nach Königsberg geschickt wurden, wo ich sie, unter Verschluss des Gerichts, nach Gefallen benutzen durfte. Ich war ihm dafür um so mehr dankbar, als sie mir in der That eine ganz neue Anschauung der Dinge eröffneten. Die dritte Abteilung meines Romans stützt sich in allem, was die Schicksale des Obersten v. Kalckstein angeht, auf diese Akten und die ihnen beigegebenen Berichte des Gesandten v. Brandt. Sie sind übrigens jetzt publiziert, und es kann daher jeder nachprüfen, wie ich sie für meine Zwecke benutzt habe.

Es war mein Plan, diese drei umfangreichen Romane noch durch zwei andere aus demselben Stoffgebiet gleichsam zu ergänzen. Es musste in dem einen gezeigt werden, wie Herzog Albrecht, der das Ordenskleid abgelegt hat, in seinem Alter durch die polnische Kommission schmachvoll unter die Gewalt der Stände gebeugt wird (sodass dann ein Jahrhundert später das Eingreifen des grossen Kurfürsten zur Verhinderung der Wiederholung solchen Übermuts mehr noch als eine rettende That erscheint); in dem zweiten wäre die sogenannte[208] Thorner Tragödie von 1721 der Gegenstand, durch welche der Abfall der preussischen Städte furchtbar gerächt wurde, indem die Polen und die Jesuiten über das protestantische deutsche Bürgertum triumphierten. Ich weiss nicht, ob ich in meinem Alter noch hoffen darf, hier zum Abschluss zu gelangen.

Der Vorwurf, dass diese Stoffe doch nur provinziell seien, sollte mir nicht gemacht werden dürfen. Der Dichter findet in der deutschen Geschichte, allenfalls die Zeit der grossen Kaiser abgerechnet, nur provinzielle, auf ein bestimmtes Stamm- oder Herrschaftsgebiet beschränkte Stoffe. Hier aber lässt sich doch nicht übersehen, dass die Könige von Preussen heut deutsche Kaiser sind und dass die Hohenzollern in dem alten Preussen Könige und vorher überhaupt souveräne Fürsten geworden sind. Ich möchte meinen, dass der grosse Kurfürst, von dem dieser Aufschwung seinen Anfang nimmt, uns jetzt erst recht als eine für die Entwickelung der deutschen Reichsverhältnisse hochbedeutsame Persönlichkeit erscheinen muss, und dass auch die Vor- und Nachgeschichte des Landes, von welchem die neue Machtentfaltung bis zur Einigung aller deutschen Sonderheiten unter der Kaiserkrone ausgeht, wohl ein erhöhtes Interesse beanspruchen dürfte.

Das Besondere meiner historischen Romane setze ich in ihren durchweg politischen Charakter. Sie unterscheiden sich durch ihn, wie ich glaube, sehr wesentlich von früheren. Wir leben selbst in einer vorwiegend politisch bewegten Zeit. Wir haben in diesem Jahrhundert den Übergang vom Absolutismus zum Konstitutionalismus, vom Partikularismus zum Zentralismus durchgemacht und die Bewegung noch lange nicht zum Abschluss geführt. Ich bin der Ansicht, dass wir erst das Verständnis für politische Kämpfe früherer Zeiten gewonnen haben, und dass Romane, die sie uns näher zu bringen bestrebt sind, mindestens den Anspruch erheben dürfen, von dem Standpunkt aus, auf welchen sie selbst sich stellen, beurteilt zu werden.[209]

Einige kürzere Erzählungen, grösstenteils in dem Bande »Von der deutschen Nordostmark« gesammelt, behandeln Begebenheiten aus sehr verschiedenen Zeiten, so der »Schulmeister von Labiau« den preussischen Bauernaufstand von 1525, »Liebe und Glaube« die theologischen Streithändel unter Herzog Albrecht, »Resi« die Ansiedelung der Salzburger in Preussen durch König Friedrich Wilhelm I., »Das Bannrecht« (mit demselben für das Schauspiel »Mit Wind und Wasser« benutzten Stoff) die Wiederaufrichtung des preussischen Staates nach seiner Niederwerfung durch Napoleon, »Fanchon« eine Episode aus der traurigen Zeit der Franzosenherrschaft. Auch sie gehören daher in dieses Kapitel.

Quelle:
Wichert, Ernst: Richter und Dichter. Ein Lebensausweis, Berlin und Leipzig 1899, S. 198-210.
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