II.

Gymnasium.

[29] Zu Anfang des Jahres 1843 wurde mein Vater zum Oberlandesgerichtsrat in Königsberg ernannt. Mit achthundert Thalern Gehalt! Er verschlechterte sich pekuniär erheblich, wollte aber auf die amtliche Stellung, zu der ihn das sogenannte grosse Examen berechtigte, nicht verzichten. Seitdem quälten ihn, zumal die Familie sich noch um zwei Köpfe vergrösserte, und die Mutter viel kränkelte, trotz der bescheidensten Ansprüche an das gesellschaftliche Leben unausgesetzt die schwersten Nahrungssorgen. Er musste Schulden machen; die Zinsen und die Prämien der zur Deckung der Gläubiger genommenen Lebensversicherungen nahmen einen immer grösseren Teil des sich nur langsam erhöhenden Gehalts in Beschlag. Er war oft in verzweifelter Stimmung, dann wieder ausgelassen lustig, wenn die augenblickliche Not beseitigt war. Die Verhandlungen über diese traurigen Verhältnisse erfolgten zwischen den Eltern meist in meiner Gegenwart, verschüchterten mich und machten mich früh zu einem bedächtigen, über seine Jahre reifen Menschen.

Nachdem ich einige Monate nur lateinischen Unterricht erhalten hatte, wurde ich in die Quinta des Altstädtischen Gymnasiums aufgenommen, um schon ein Vierteljahr später[30] nach der Quarta versetzt zu werden. Bis zur Sekunda erfolgte dann mein Aufrücken ganz regelmässig, allerdings unter beständiger Nachhilfe meines Vaters, der ein guter Philologe war und nicht nur jede Aufgabe mit mir durchnahm, sondern mich immer schon im voraus auf die folgende Lektion vorbereitete, so dass ich in der Schule gerüstet war, freilich auch das beängstigende Gefühl nicht los wurde, eigentlich doch über meine Kenntnisse zu täuschen. In der Mathematik, wo ich auf mich angewiesen war, kam ich auch nie recht mit, ausser in der mir anschaulicheren Geometrie. Ich bin stets sehr ungern in die Schule gegangen und habe sie als eine Zwangsanstalt zur Vorbereitung auf das unvermeidliche Abiturientenexamen betrachtet.

Das Gymnasium war die mittelalterliche Lateinschule, ein klosterartiger, düsterer Bau, der erst etwas Licht bekommen haben konnte, nachdem die vorliegende Kirche abgebrochen war, an deren Stelle jetzt ein grüner Platz, um den Grabstein eines Sohnes Luthers herum, das Auge erfreute. Der Quarta erinnere ich mich als eines niedrigen Raumes mit schwerer, von einem Pfeiler gestützter Balkendecke. Vielleicht bestärkte diese Umgebung unser romantisches Gelüste, »eine heilige Fehme« zu errichten, welche allerhand Ungebühr zu ahnden hatte. Ich wurde damit betraut, die Fehmbriefe zu schreiben und mit den schauerlichen Zeichen des heimlichen Gerichts zu bemalen. Sie wurden dann dem Missethäter in die Kleider gesteckt, und jeder durfte ihn nun ungestraft »hauen«. Einmal wurde ein solcher Brief, der hinten aus dem Gürtel eines wegen seines zu geschniegelten Wesens verfehmten Jungen verräterisch vorschaute, vom Direktor entdeckt. Ich machte mich auf eine exemplarische Strafe gefasst, aber der Inhalt gab ihm und den anderen Lehrern herzlich wie über einen Spass zu lachen, und so kam ich mit einer leichten Verwarnung davon, solche Allotria künftig zu unterlassen.

In der Tertia erhielten wir einen Mitschüler, der uns[31] an Jahren erheblich voraus war und sich auch wie ein Erwachsener kleidete. Er hatte eine auffallend grosse Nase und erhielt deswegen sogleich den Spottnamen Ovidius Naso oder Naso schechtweg. Er wurde viel gehänselt, und in jeder Zwischenstunde hatte er einen Kampf mit dem kleineren Volk zu bestehen, dem er wie ein ungeschlachter Riese erschien. Diese Kämpfe schilderte ich in einem Heldengedicht in der Weise des Nibelungenliedes und auch in dessen Strophe. Es fand grossen Beifall und selbst bei den Herren Sekundanern einige Beachtung.

Auch sonst beschäftigte ich mich schon damals mehr, als meinen Schulstudien zuträglich sein mochte, mit allerhand poetischen Versuchen, namentlich Dramatisierungen von Märchen in Reimversen und von Historien aus der alten Geschichte in fünffüssigen Jamben.

Von dramatischer Erfindung war kaum die Rede; die geschichtlichen Stoffe, stets heroischen Charakters, wurden nackt übernommen und nur szenisch eingeteilt, wobei einige Verwandlungen mehr oder weniger keine Skrupel verursachten. Doch fehlte nicht ein instinktives Gefühl für dramatische Ökonomie und den theatralischen Effekt. Das Beste freilich mussten pathetische Reden des tugendhaften und gegen alle Versuchungen siegreichen Helden leisten, der die Vaterstadt rettete oder ihren Fall nicht überlebte. Ich hatte mit der Zeit ein ziemlich starkes Buch zusammengeheftet und deklamierte gern daraus, wenn man mich anhören wollte. Es hat sich davon aber glücklicherweise nichts erhalten.

Längst hatte ich dem Königsberger Stadttheater wieder meinen Antrittsbesuch abgestattet. Nicht mehr ein weinerliches Jüngelchen, das sich ängstlich au den Rock der Mutter hing, sondern ein in der Pillauer Seeluft gekräftigter, ziemlich stämmiger, wenn auch noch immer nicht dreister Bursche war ich eines Sonntags ganz allein dorthin von Hause entlassen worden. Auf dem Zettel stand »Pretiosa«, ein Stück,[32] das meine Mutter mir oft genug in Kürze vorgeführt hatte und das ich mir als den Inbegriff alles Schönen denken durfte. Der billigste Platz im Theater war die dritte Galerie nach hinten, »Olymph« oder auch »Bullerloge« (Bullern = poltern) genannt. Meinem Vater war es wahrscheinlich nicht einmal eingefallen, dass ein Junge von meinem Alter dem Kunstgenuss für teureres Geld frönen könne; er hatte mich mit fünf Silbergroschen ausgestattet, wovon vier auf das Billet zu verwenden waren, einer in Kuchen angelegt werden durfte. Obgleich ich mich aber bereits eine halbe Stunde vor Beginn der Vortellung an der Kasse meldete, fand ich doch oben schon nicht nur die zwei Reihen Holzbänke vollständig besetzt, sondern auch den Raum zwischen ihnen und der Wand, durch welche Eingangsthür ich mich auch nähern wollte, mit stehenden Zuschauern erfüllt, über die hinwegzusehen mir meine geringe Länge nicht erlaubte, und zwischen denen durchzubrechen eine ganz andere Kraft erforderlich gewesen wäre, als die meine, da jeder, Männlein und Weiblein, seinen Platz rücksichtslos zu verteidigen entschlossen war. Da stand ich nun hinter dieser Phalanx von breiten Rücken und spitzen Ellenbogen in der Nähe der Thür, von Nachdrängenden eingeengt, und konnte nicht einmal den Kronleuchter sehen, viel weniger die Bühne tief darunter. Ich hörte sprechen und singen; wie ich aber auch den Kopf nach rechts und links beugte, kein Guckloch wollte sich öffnen, durch das sich die Herrlichkeiten erspähen liessen. So genoss ich den ersten Akt, gestossen, gequetscht, auf die Füsse getreten. Im zweiten erbarmte sich meiner eine gute Frau und erlaubte mir, auf eine Bank zu treten, die sie sich mit andern zu ihr gehörigen Personen für einen Leihgroschen erstanden hatte, um dicht an der Wand aufstehen und über die Köpfe hinwegschauen zu können. Freilich war sie schon so besetzt, dass ich nur noch für einen Fuss Raum fand und mich gegen die Wand mit der Schulter stemmen musste, um nicht sofort wieder hinabzufallen.[33] Aber ich war nun doch gross genug, meine Vordermänner zu überragen. Ah! – welche Wunderwelt erschloss sich meinem staunenden Auge. Ich hätte lieber ohnmächtig zusammenbrechen als freiwillig wieder in das aussichtslose Dunkel hinabsteigen mögen. So balanzierte ich denn bis zum Schluss des Stückes auf den wenigen Quadratzollen festen Bodens und lahmte dann sehr beglückt nach Hause, wo ich den Eltern ganz verstört erschien. Lange noch wirkte dieses Schauspiel in mir nach; es steht mir noch jetzt nach so vielen Jahren lebendig vor Augen. Wohl nie später habe ich, auf bequemem Sessel sitzend, einen so starken theatralischen Eindruck gehabt.

Nun wiederholte ich den Theaterbesuch, so oft sich die vier Silbergroschen erbitten liessen, sah mich aber vor, rechtzeitig einzutreffen, um womöglich noch einen Sitzplatz zu erhaschen. Ich sah nach und nach sämtliche klassischen Stücke, die damals auch ohne berühmte Gäste noch häufiger gegeben wurden, viele mehrmals. Die Schillerschen konnte ich mit vierzehn Jahren halb auswendig, in Shakespeare war ich wohlbewandert. Laut vorzulesen, wenn auch nur den Wärterinnen meiner kleinen Brüder oder der Köchin in der Küche, und die schauspielerische Recitation im Charakter der Rollen nachzuahmen, war mir ein Hochgenuss.

Anfänglich wurde meine eigene Produktionslust durch den Theaterbesuch genährt. Dann machte sich ein Stocken bemerkbar, wahrscheinlich weil strengere Selbstkritik die Unzulänglichkeit solchen Nachschaffens allzubeschämend ausser Zweifel stellte. Auch hatte ich mit Kameraden Freundschaft geschlossen, deren Neigungen sich in ganz anderer Richtung äusserten. Wir nahmen uns wohl einmal bei unseren sonntäglichen Zusammenkünften auch vor, eine Komödie zu schreiben, legten ein Blatt Papier vor uns hin und sassen eine Stunde darüber gebückt, auf einen Einfall wartend. Aber wir brachten natürlich nichts zustande, und[34] auch meine Aufzeichnungen wurden sogleich als schwächliche Reminiszenzen erkannt.

Viel mehr Zeit wurde auf die Herstellung von allerhand Räderwerken zu Mühlen, Wagen, selbst Uhren, und von physikalischen Instrumenten verwandt. Ein Fallschirm, auf den grosse Hoffnungen gesetzt wurden, verschlang mein und meiner Freunde Taschengeld für Monate; als er fertig war, fehlte uns nur die Höhe, von der wir uns an ihm hätten hinablassen können, um seine Tragkraft zu prüfen. Wer hätte auch im voraus an so etwas denken sollen?

Den Religionsunterricht erhielt ich bei dem sehr beliebten Prediger Dr. E. Heinel, bekannt als Verfasser einer populär geschriebenen Geschichte Preussens und vieler sehr ansprechender, als »Kränze und Urnen preussischer Vorzeit« gesammelter Gedichte. Es war dies ungefähr die Zeit, in der Julius Rupp sein Predigeramt in der evangelischen Kirche aufgab und in Königsberg eine freie Gemeinde gründete. Dieses energische Vorgehen wurde viel besprochen und regte auch bei mir das Nachdenken über die höchsten Dinge sehr stark an, so dass ich mich bald mit argen Zweifeln quälte. Heinel galt für freisinnig; ich scheute mich nicht, sie in den Unterrichtsstunden und auch bei Besuchen in seiner Studierstube vorzubringen und meine ketzerischen Ansichten übereifrig zu verfechten. Ich fand in ihm immer den gleichmässig freundlichen, duldsamen, von echt humanem Geiste erfüllten Ratgeber und Nothelfer, der zwar den kirchlichen Standpunkt wahrte, aber blinden Glauben nicht forderte und überhaupt mehr das ethische als das dogmatische Element der christlichen Religion betonte. Mein Glaubensbekenntnis durfte ich mir selbst ausarbeiten. Ich wagte auch, ihm meine Gedichte zu bringen, und erhielt darüber sein freimütiges Urteil. So war die geistige Anregung, die ich von dem liebenswürdigen Manne empfing, nach beiden Richtungen nicht unbedeutend.

In diesem Winter begegnete es mir, dass ich beim[35] Schlittschuhlaufen auf dem Pregel einbrach und dem Ertrinken nahe war. Ich hatte eine offene Stelle nicht bemerkt und sank dicht vor derselben im dünnsten Eise ein. Nun konnte ich zwar ein wenig schwimmen, aber die voll Wasser gesogenen Winterkleider und die Schlittschuhe an den Füssen erschwerten die Bewegung gegen den starken Strom; die Hände, mit denen ich die Schollen losschlug, um das festere Eis zu erreichen, wurden bald starr. Mit grösster Anstrengung gelang es mir endlich doch, so weit vorzudringen, dass ich den Zipfel eines mir zugeworfenen Rockes fassen und mich daran auf die Eisfläche ziehen lassen konnte. Merkwürdig war's, dass ich keinen Augenblick die Besinnung verlor, mir ganz klar vornahm, mich bis zu gänzlicher Erschöpfung gegen das Versinken zu wehren, zugleich aber ganz ernstlich an den Tod mit der beruhigenden Zuversicht dachte, dass sich ja dann bald alle Zweifel über Gott und Unsterblichkeit lösen müssten. Das Winterbad schadete mir nicht. Die Errettung aus Lebensgefahr übte aber einen tiefen und nachhaltigen Eindruck. Es knüpfte sich daran die fatalistische Vorstellung, es müsse aus mir durchaus etwas werden, da ich ja sonst lieber gleich hätte zugrunde gehen können. Wenn ich es im Leben recht kümmerlich hatte und alle Anstrengungen, festen Halt zu gewinnen, erfolglos schienen, hat dieser Gedanke mich wieder zu neuem Hoffen und neuer Thätigkeit aufgerichtet. Mein Lebensretter war ein Mitschüler, eines Pfarrers Sohn, den die Eltern dann gegen die sehr mässige Pension, die er bisher bezahlte, ins Haus nahmen. Er wurde später Seemann und ist früh verstorben.

Auf der Sekunda scheiterte ich in der Mathematik gänzlich an der Lunula des Hippokrates. Da damals auch ein jüngerer Bruder meines Vaters, ein ausgezeichneter Lateiner (gestorben als Direktor des Domgymnasiums in Magdeburg), als Oberlehrer am Kneiphöfischen Gymnasium angestellt wurde, so schien ein Wechsel der Schule vorteilhaft.[36] Er äusserte aber kaum auf meinen Lerneifer eine nachhaltig günstige Wirkung; doch gewann er mir einen Kreis von sehr lieben Freunden, der dann noch lange zusammengehalten hat. Ich hatte zu viel andere Dinge im Kopf, als dass ich ein fleissiger Schüler hätte sein können; auch musste ich damals schon selbst Nachhilfestunden geben, um mir ein Taschengeld verdienen zu können, was meine Aufmerksamkeit noch mehr abzog. Meine Zeugnisse liessen daher viel zu wünschen.

Das Kneiphöfische Gymnasium lag hinter der Domkirche, dicht neben der von Herzog Albrecht gestifteten, recht altertümlichen Universität. Es gehörte zu ihr ein kleiner ummauerter und von Kastanien beschatteter Platz, auf welchem die Herren Primaner in der Zwischenstunde tollten, sich auch im Fechten mit Rapieren übten. Es fanden sich da gewöhnlich auch Studenten von verschiedenen Couleuren ein, und die Primaner mit blau-weissen Mützen und Bändern, Fechthüten, gelben Paukhandschuhen und blanken Rapieren, die übrigens in der Schulstube an den Knaggen hängen durften, hatten selbst schon etwas Studentenhaftes und reizten nicht wenig unseren Neid, wenn wir sie aus den Fenstern unserer Klasse beobachteten. Wer erst wenigstens unter denen wäre!

Nicht nur auf der Prima, sondern auch schon auf der Sekunda bestanden geheime, nach studentischen Vorbildern eingerichtete Verbindungen, »Komment« genannt. Seit einer Reihe von Jahren wurde der Primanerkomment durch die Korps der Albertina beeinflusst, die denn auch von dort nach jedem Abiturientenexamen ihre Füchse holten. Er war ja korpsartig eingerichtet und hatte ungleich berechtigte »Alte« und »Füchse«. Von dort suchte man auf der Sekunda einen ähnlichen Geist zu nähren, um des Zuzugs sicher zu sein. Doch war hier bei dem noch recht jugendlichen Alter der meisten Schüler und der grossen Abhängigkeit vieler von Eltern und Pensionshaltern immer nur eine[37] beschränkte Zahl »zuverlässig« genug, in die Geheimnisse eines Bundes eingeweiht zu werden, der Statuten, Versammlungen, Kneipereien hatte, und sich's wohl auch zur Aufgabe machte, gegen vermeintliche Übergriffe der Lehrer fest zusammenzustehen. Während in der Prima nur wenige ausgeschlossen waren, befand sich in der Sekunda die Mehrzahl ausserhalb der Verbindung. Die Zeitströmung bewirkte aber auch, dass im Sekundanerkomment mehr und mehr eine freigeistige, auf volle Gleichberechtigung der Mitglieder zielende, den Burschenschaften zugeneigte Richtung herrschend wurde. Wir kneipten recht bescheiden monatlich einmal in Kalteschale mit einem mässigen Zusatz von Rum oder einem ähnlichen, aber warmem Getränk, »Flibbe« genannt. Ein alter Kandidat, der in einer abgelegenen Gasse ein sehr ärmliches Quartier bewohnte (in der einen Ecke stand ein wackeliger Klimperkasten, in der anderen lag ein Haufen Kartoffeln), gab dasselbe zu diesen Bacchanalen her. Meine Eltern wussten von meiner Beteiligung und erlaubten später sogar, dass diese monatlichen Zusammenkünfte auf meiner »Bude« stattfinden durften. Sie überzeugten sich so wenigstens leicht, dass wir zwar tüchtig Tabak aus langen Pfeifen dampften, kräftig sangen, auch wohl ein wenig über den Durst tranken, aber nichts Böses thaten. Übrigens sorgte der Komment auch für geistige Bethätigung seiner Mitglieder; er unterhielt eine Art von geschriebener Zeitung, zu welcher Aufsätze beigesteuert werden mussten, die dann zur Lektüre und Kritik herumgingen.

Das »tolle« Jahr 1848 brachte auch uns Sekundaner in revolutionäre Stimmung. Ich war mit meinen Freunden auf der Strasse, als gleich nach den Berliner Märzereignissen eine Feier mit Illumination und Fackelzug veranstaltet wurde; ich besuchte die Siegelsche Konditorei, um Berichte aus den neuesten Berliner Zeitungen vorlesen zu hören; ich liess mich in die Bürgerwehr einreihen und erhielt ein Gewehr mit rotem Riemen; ich beteiligte mich bei den Versammlungen[38] des Turnvereins, in denen stürmische Reden gehalten wurden, und ging wohl auch abends in den Schanklokalen herum, Sackträger und andere Arbeiter von meinem Taschengelde zu traktieren und zu Heldenthaten zu begeistern, wenn es auch bei uns zum Strassenkampf kommen sollte. Auch versäumten wir die Volksversammlungen unter freiem Himmel nicht, bei denen der Oberlehrer Witt, die Studenten Albert Dulk (später bekannter Schriftsteller), Karl Schmidt (später Referendar, Maurermeister, Schwiegersohn Rupps und dessen Nachfolger als Prediger der freien Gemeinde), Referendar Brausewetter u.a. als Redner glänzten.

Es konnte nicht ausbleiben, dass unter solchen Umständen auch die Schulzucht eine Weile arg gelockert war. Bezeichnend dafür ist folgender Vorfall. Unser Lateinlehrer gefiel uns nicht, weil er auch auf der Quinta Unterricht erteilte und es uns so schien, als ob er gewisse schulmeisterliche Manieren von dort her sehr ungehörig auf die Sekunda übertrug. Es wurde daher im Komment beschlossen, seine Beseitigung herbeizuführen, dabei aber mit aller Offenheit vorzugehen, wie es freien Männern geziemte. Nach getroffener Verabredung erhob sich denn eines Morgens die ganze Klasse, und unser Präses hielt ihm eine Rede, in welcher er ihm versicherte, dass wir kein Vertrauen zu seiner Lehrmethode hätten, seinen Ton ungehörig fänden und den Wunsch hätten, er möchte freiwillig den Unterricht in der Sekunda aufgeben. Und was geschah? Er wurde bleich, stotterte eine Entschuldigung und versprach, sich alle Mühe geben zu wollen, uns künftig besser zu befriedigen. Das genügte uns, und er blieb. Am anderen Tage erschien der Direktor, ein sehr gutmütiger Mann, und wegen seiner Grösse »der lange Junge« genannt, und hielt uns väterlich die Ungehörigkeit solchen Vorgehens vor; an eine Untersuchung und Bestrafung der Rädelsführer wurde nicht gedacht.

Meine Muse liess sich zu einigen »Freiheitsliedern« begeistern, die in den von Rudolf Gottschall redigierten Baltischen[39] Blättern Aufnahme fanden. Ungefähr in dieselbe Zeit fällt auch ein komisches Heldengedicht in mehreren Gesängen: »Leiden eines Fähnrichs.« Angeregt war es durch einen etwas geckenhaften jungen Menschen, der einen altadeligen Namen hatte, aber in den dürftigsten häuslichen Verhältnissen lebte, sich meine Einsegnungskleider (damals stets Frack!) lieh, wenn er in Gesellschaft gehen wollte, und dann als Avantageur eintrat. Einer meiner Freunde hatte, ich weiss nicht wie, die Bekanntschaft eines intelligenten Leierkastenmannes gemacht, der auf seine Veranlassung dieses Opus in Verlag nahm und sogar zwei Thaler Honorar dafür bezahlte.

Nicht zum Druck gelangte glücklicherweise ein »republikanisches« Schauspiel in fünf Akten, »Washington oder der Freiheit Sieg«. Es ging aus der Stimmung des Revolutionsjahres hervor; dass ich mich aber gerade dieses Stoffes bemächtigte, hatte doch noch einen anderen Grund. Mein Vater, von Sorgen gedrückt und seines juristischen Scharwerksdienstes um unzulänglichen Lohn müde, beschäftigte sich allen Ernstes mit dem Gedanken, nach Amerika auszuwandern und dort Landwirt zu werden. Er brachte daher eine Anzahl Bücher zusammen, um sich über Land und Leute, Ackerbau und Viehzucht drüben zu unterrichten, und wusste bald ganz genau, wo er sein Haus erbauen, wie dasselbe beschaffen sein und was der Acker tragen würde. Es fehlte nur noch der Lotteriegewinn, von dem die Überfahrt und der Ankauf der Farm bestritten werden sollten. Sein utopistischer Eifer steckte mich an; schon die Vorstellung, nicht mehr in die Schule gehen zu dürfen, hatte etwas Berauschendes. Ich las also alle diese Bücher auch und dann auch noch andere, die speziell auf die Geschichte Nordamerikas Bezug hatten. Der Kampf um die Unabhängigkeit begeisterte mich, und Washington, nicht ein wüster Umstürzler, ein Mann der Phrase und sozialistischer Gleichmacher, sondern ein Patriot mit warmem Herzen, kühlem[40] Kopf, schlichter Rede, sicheren Zielen, wurde mir das Ideal eines Republikaners, ein dramatischer Held. Übrigens erkannte ich ganz richtig, dass ein menschlicher Konflikt für die dramatische Spannung notwendig sei, und beutete dafür die bekannte Begegnung mit dem englichen Major André aus, der als Spion gefangen und vor ein Kriegsgericht gestellt wurde. Washington gewinnt über sich selbst den schwersten Sieg, indem er ihn zum Tode verurteilt, obgleich er ihm freundschaftlich nahe steht und weiss, dass seine Tochter ihn liebt. In das in fünffüssigen Jamben geschriebene Stück waren humoristisch gefärbte Prosaszenen eingelegt. Ich habe das Stück auf der Schule nochmals umgearbeitet, ohne es doch zu meiner eigenen Befriedigung recht fertig bringen zu können. Das Manuskript ist verloren gegangen.

Unter den Mitschülern waren mehrere, mit denen ich bald nähere Bekanntschaft machte, wohl auch Freundschaft fürs Leben schloss. So zwei Söhne eines Kaufmanns Friedrich, der an einer der zum Kneiphof führenden Brücken einen Laden besass, in dem nach alter Weise nicht weniger als alles zu kaufen war. Er war ein etwas nervöser alter Herr, dem ich gern aus dem Wege ging, weil er sich immer sehr ärgerlich äusserte, wenn wir die Hausthür zu lebhaft ins Schloss warfen und zu laut die Treppen hinaufpolterten. Der ältere, Anton (später Baumeister und Baurat in Braunsberg), war ein kräftig ausgewachsener, frischer, immer lustiger und zu allen tollen Streichen aufgelegter Mensch, der seines Krauskopfs wegen den Spitznamen »Pudel« erhalten hatte, der jüngere neigte zu grüblerischem Wesen, studierte demnächst Philosophie und gab ein Buch heraus, das selbst den Fachgenossen Schwierigkeiten bereitete. Die Brüder hatten nun aber eine grosse, wohlgeordnete Pfeifensammlung und rauchten einen Taback, den sie durch Geschäftsverbindungen ihres Vaters für drei Silbergroschen pro Pfund »im Grossen« bezogen. Sie überliessen mir aus Freundschaft auch einmal eine Portion davon, er wurde[41] jedoch seines infernalischen Geruchs wegen im Hause nicht lange gelitten. Der Vater legte lieber meinem Taschengelde etwas zu, damit ich mir eine bessere Sorte (lange Zeit die bekannte Lit. F.) genehmigen könnte. Auf der »Bude« der Gebrüder Friedrich sassen wir dagegen oft zu Sechs oder Acht und pafften mit wirklichem oder eingebildetem Behagen das edle Kraut.

Sehr anziehend, aber nicht leicht zugänglich war mir ein Kreis von Genossen, der schon seit längerer Zeit enge zusammenhielt und anfangs wenig Neigung zeigte, sich durch meine Aufnahme zu erweitern. Der geistig begabteste war Heinrich Bohn, der Sohn eines städtischen Beamten, der in der Kalthöfischen Strasse ein kleines Haus mit Hof und saubergepflegtem Garten besass. Ich entsinne mich, dass der Kopf mit der freien Stirn, der gebogenen Nase, dem lebhaften Auge und dem langen nach hinten übergeworfenen Haar, und die aufrechte, fast übermütige Haltung des jungen Menschen mich sofort auf ihn aufmerksam machte. Einer gewissen Ähnlichkeit wegen und weil es bekannt war, dass er dichtete, wurde er »Schiller« genannt. Ich fühlte mich zu dem wenig älteren Kameraden hingezogen, obgleich mir nicht entging, dass die Art, wie er sich trug, wie er sprach und sich bewegte, leicht etwas affektiert erscheinen konnte. Er gehörte in allen Fächern zu den tüchtigsten Schülern und hatte in seinem Wissen eine von mir oft bewunderte Sicherheit. Seine Freunde waren Heinrich von Groddeck, Sohn eines Rittergutsbesitzers in der Provinz, ein bildhübscher Junge, damals fast mädchenhaft zart, und Richard v. Lenski, dessen Vater Landrat von Oletzko war, derber und sofort durch einen Zug von Höflichkeit und Geradheit gewinnend. Beide befanden sich in der Pension des Landschaftssyndikus von Queis, (eines Bruders des Besitzers von Wossau, dessen Sohn Erhard später auf der Universität mein Kouleurbruder wurde), und hatten in der Wahl ihres näheren Umgangs wenig freie Bewegung, was wohl auch[42] der Grund war, dass Bohn den seinigen einschränkte. Doch waren unsere Neigungen zu gleichartig, als dass sich nicht sehr bald Beziehungen zwischen uns ergeben mussten. Ich entsinne mich nicht, welche Veranlassung mich zuerst in die Wohnung seiner Eltern führte; dann wurden wir aber rasch die vertrautesten Freunde, und es verging nun keine Woche mehr, in der wir einander nicht besuchten und oft stundenlang in die Nacht hinein die tiefgründigsten Gespräche führten, uns unsere Gedichte vorlasen, oder unsere Meinungen über eben gelesene Werke der älteren, neueren und neuesten Literatur austauschten. Sein kleines Zimmer hatte ein Fenster nach dem Hof hinaus, durch das ich oft gestiegen bin, wenn es für den regulären Weg durch das Schlaf- und Wohnzimmer schon zu spät geworden war. Wohl auch am Abend schon eingestiegen, da ich ungern seine Schwester Emilie und ihren heimlich Verlobten, den Dr. Rudolf Reicke, (später Universitätsbibliothekar, sehr geschätzter Kantianer und mit mir Herausgeber der Altpreussischen Monatschrift) störte, die mit einander allerhand gelehrte Studien betrieben. Wir lasen beide sehr viel und tauschten gegenseitig Bücher aus. Ich hatte die Bibliothek meines Vaters auf meinem Zimmer, und es befanden sich darin die vollständigen Werke von Goethe, Schiller, Wieland, Shakespeare, Rückert, Th. A. Hoffmann, Hauff, Romane von Walter Scott und andere Bücher namhafter Autoren; ich selbst vermehrte sie, indem ich von dem ersten Stundengelde, das ich mir verdiente, Lessing, Uhland, Iffland mir anschaffte. Bonn führte mir Heine und Börne, Hebbel und Gutzkow, Freiligrath und Herwegh, Anastasius Grün und Dingelstedt, überhaupt neuere Erscheinungen aller Art, vielleicht aus dem Bücherschrank seiner geistig sehr regsamen Schwester und des künftigen Schwagers zu. Auch waren wir eifrige Theaterbesucher. In jene Zeit mögen die ersten Gastspiele Emil Devrients und Theodor Dörings an der Königsberger Bühne gefallen sein. Des ersteren Hamlet,[43] Egmont und Marquis Posa, des letzteren Falstaff, Nathan und König Lear sind mir von da her unauslöschliche Erinnerungen.

Als die Sommerferien herannahten, wurde ich zu meiner grössten Freude von Lenski nach Oletzko eingeladen. Der Weg sollte über Baumgarten, das Groddecksche Gut zwischen den Städtchen Barten und Drengfurth, genommen werden. Bohn war an beiden Orten schon gewesen und hatte von den trefflichen Menschen dort so viel geschwärmt, dass ich mir von diesem Ausfluge ein ungewöhnliches Vergnügen versprechen durfte.

Ich fand meine Erwartungen noch weit übertroffen. Mit leichtestem Gepäck bestiegen wir gleich nach Schulschluss einen Wagen, den der Gutsbesitzer von Bannasch-Perkau für seinen Sohn geschickt hatte, und fuhren der kleinen Stadt Bartenstein zu, in deren Nähe Perkau lag. Hier wurden wir gastfreundlich zur Nacht behalten und am anderen Tage weiter bis zu einem Dorf Langheim spediert, wo uns das Fuhrwerk von Baumgarten erwartete. Es war eine lustige Fahrt bei hellstem Sommerwetter. In einem Wäldchen nicht weit vom Ziel wurde Halt gemacht und der Wagen ganz mit Eichenlaub besteckt; auch die vier Pferde bekamen den gleichen grünen Ausputz und unsere blauweissen Mützen wurden nicht vergessen. Das »Gaudeamus« singend und unsere Rappiere schwingend fuhren wir auf den grossen Gutshof und sprangen vor dem einstöckigen aber langgestreckten Hause mit den hellen Fenstern ab, von dem freundlichen Gutsherrn und seiner auf den ersten Blick sympathischen Frau gütig willkommen geheissen und von den beiden Töchtern, jungen Fräulein von achtzehn und fünfzehn Jahren, begrüsst.

Ich blieb damals nur wenige Tage, brachte aber im nächsten Jahr die ganzen Sommerferien in Baumgarten zu, war wiederholt auch als Student dort und lernte die trefflichen Menschen schätzen und lieben. Herr v. Groddeck – mittelgross,[44] etwas untersetzt, Mund und Kinn von einem kurz gehaltenen, unten ein wenig ausgespitzten Vollbart eingefasst, einen studentischen Schmiss auf der Wange, bestimmt in seinen Anordnungen und Befehlen, aber nie laut, offen in seinem Urteil, meist heiter gelaunt und bei aller Gemütlichkeit vornehm, politisch liberal gesinnt, wie damals und noch ein Vierteljahrhundert weiter die meisten ostpreussischen Besitzer, aber allen Extravaganzen abgeneigt und sie wohl auch mit scharfem Spott abweisend – durfte mir als das Muster eines altpreussischen Landedelmanns erscheinen. Seine Frau, eine Pfarrerstochter, in ihrer ganzen Erscheinung sehr anmutig, in ihrem Wesen ganz Milde und Güte, erinnerte mich vielfach an meine Mutter, nur dass ihr deren rege Phantasie abging. Sie gehörte zu den glücklichen Menschen, die in ihrem Gott vergnügt, alle Dinge in der Welt am liebsten von der Lichtseite ansehen und denen die Religion Herzenssache ist. Das »Kindlein, liebet einander« war ihr oberster Moralsatz; ein grösseres Lob wusste sie keinem zu spenden, als dass sie ihn einen »guten« Menschen nannte. Man musste sie in der ersten Stunde lieb gewinnen und fand dann, dass sie allezeit unverändert blieb. Die ältere Tochter, Elise, hatte viel von der Art ihrer Mutter, dieselbe gleichmässige Heiterkeit, Schlichtheit, Herzlichkeit und Offenheit, doch bei mehr Neigung zu freierer Ausschau; Klärchen war ungemein mädchenhaft zart, still und schüchtern. Aus der Stadt trafen häufig Freundinnen ein, auch waren die liebenswürdigen Danziger Kousinen einmal zu Gast. Wir lasen viel zusammen, spielten Pfänderspiele, tanzten, musizierten und sangen, tummelten uns in dem grossen Garten hinter dem Hause, wo uns die Stachel-, Erd- und Himbeeren zur Verfügung standen und der prächtige Lindengang auch bei voller Sonnenglut kühlenden Schatten bot. Mir, der ich an enge Verhältnisse gewöhnt war, imponierte die Wirtschaft aus dem Vollen ganz gewaltig. Auch in den Ställen und auf den Feldern gab es viel neues zu beobachten. Die[45] Nachbargüter wurden besucht, einmal auch das zwei Meilen entfernte Wossau, wo die Dienstmädchen, wie ich später erfuhr, es sehr unschicklich gefunden hatten, dass ich den Hemdkragen so weit offen und die Brust nackt trug.

In jenem ersten Jahre setzte ich mit Lenski die Reise über Lötzen fort, wo wir bei dem Amtmann Heinrici, dessen Sohn unser Schulkamerad war, in dem alten Deutschordenshause über Nacht blieben, einem Steinkasten mit unglaublich dicken Mauern und massivem Dachstuhl. Ein früherer Pächter der Domäne sollte aus diesem schon viele Balken herausgeschnitten und jahrelang in den Öfen verbrannt haben, aber der Abgang war kaum merklich. In der »Wildnis« hatte man beim Bau nicht zu sparen brauchen, und was man in jener alten Zeit aufrichtete, sollte für die Ewigkeit halten. In Oletzko, wo ich zwei Wochen blieb, lernte ich in dem Landrat einen preussischen Verwaltungsbeamten von altem Schrot und Korn kennen. Es war derselbe, der seinem in Berlin auf den Barrikaden gefallenen Bruder, Referendar v. Lenski, als einem für die Freiheit gestorbenen Helden einen Nachruf erlassen hatte, der ihm von der Regierung nie vergessen wurde. Er fühlte sich als den Vertrauensmann des Kreises, in dem er seiner Tüchtigkeit und Biederkeit wegen hohe Achtung genoss, hasste alle überflüssige Schreiberei, und wusste sich als Beamter eine gewisse Unabhängigkeit nach oben zu bewahren. In der Reaktionszeit wurde der unbequeme Querkopf von seinem Posten entfernt und dann lange in der lächerlichsten Weise polizeilich überwacht. Das freundliche, schon nahe der russischen Grenze an einem langen See gelegene Städtchen zeichnete sich durch einen dreieckigen Marktplatz aus, in dessen Mitte sich ein mit Bäumen und Sträuchern bewachsener, mit Promenadenwegen versehener Hügel erhob. Von besonderem Interesse war mir ein Ausflug nach dem einige Meilen entfernten Gute Nordenthal, der Familie Hillmann gehörig. Eine Tochter des Hauses, Pauline, eben so schön als geistig begabt, aber[46] zu phantastischen Ausschreitungen geneigt, stand in dem Ruf, einen kleinen Musenhof zu halten und alle schriftstellerischen Grössen der Provinz darin um sich zu versammeln. Wir fanden dort wirklich August Wolf, Verfasser eines vielgepriesenen Bändchens Gedichte, und Albert Dulk, bekamen aber wenig von ihnen zu sehen und merkten, dass wir doch nur störten. Ludwig Walesrode ist dort ein beliebter Gast gewesen und schrieb zu Ehren des Hauses sein Märchen »Der Storch von Nordenthal«. Die kleinstädtische Gesellschaft erzählte sich wundersame Geschichten von dem Verkehr dieser emanzipierten Schöngeister.

Ich nahm dann in grosser Hitze den Rückweg meist zu Fuss durch das sandige Masuren, das mich keineswegs so freundlich anmutete, als ich's nach dem bekannten Studentenliede erwarten durfte. Freilich streifte ich gerade die ödesten, nicht durch Wälder und Seen verschönten Gegenden. In Baumgarten durfte ich wieder einige Tage Rast machen.

Diese mancherlei Ablenkungen und Zerstreuungen, zu denen noch kam, dass wir auch das Komödienspiel nicht vernachlässigten und uns sogar an Fünfakter wie Kotzebues »Wirrwarr« und Lessings »Minna von Barnhelm« (ich spielte den Wirt) wagten, bewirkten, dass ich nach Ablauf der zwei Jahre nicht nach Prima versetzt wurde. Länger auf der Klasse zu bleiben, war mir aber unmöglich. Ich ging deshalb ab und »privatisierte« ein halbes Jahr mit Beistand meines Onkels, der mit mir den ganzen Homer durchlas, was mir zum erstenmal einen alten Dichter wirklich genussreich werden liess. Meine Lücken in der Mathematik waren gross und konnten auch nur mangelhaft ausgefüllt werden. Als der Fachlehrer, Professor König, mich geprüft hatte, schrieb er etwas auf ein Blatt Papier, siegelte und schickte mich damit zum Direktor Skrzeczka. Der zeigte ein verdriessliches Gesicht, wippte nach seiner Gewohnheit den Kopf auf, lachte und – reichte mir das Blatt. Ich las: »Der W. taugt in der Mathematik gar nichts. Wenn Sie[47] ihn aber unseres Kollegen wegen nach Prima nehmen wollen, so habe ich nichts dagegen.« Der »lange Junge« liess Gnade vor Recht ergehen.

In der Prima habe ich dann nur anderthalb Jahre bis zum Abiturientenexamen gebraucht, das halbe Jahr also eingeholt. Der Unterricht interessierte mich hier mehr. Lehrer im lateinischen war mein Onkel, im deutschen Professor Dr. Leo Cholevius, ein ungemein anregender Lehrer, übrigens Verfasser eines trefflichen Leitfadens »Dispositionen zu deutschen Aufsätzen« und eines lange nicht genug gewürdigten, mit erstaunlichem Fleisse geschriebenen Buches über die klassischen Elemente in der deutschen Literatur. Er unterrichtete auch in der philosophischen Propädeutik und hat von allen meinen Lehrern den stärksten Einfluss auf mich geübt. Alles Überschwengliche, Phrasenhafte, rein Rhetorische und Unklare im Ausdruck der Gedanken war ihm zuwider, und ihm vornehmlich habe ich es zu danken, wenn ich schon früh bemüht war, klar zu disponieren und anschaulich darzustellen. Auf seine Anregung verfasste ich schliesslich eine poetische Ausführung des Schillerschen: »In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne« und trug die Verse auch bei dem Festakt der Entlassung vor.

Obgleich ich nun aber eifriger hinter den Schulwissenschaften her war, versäumte ich doch durchaus nicht, mich bei den Bestrebungen der Gleichgesinnten zu beteiligen, welche zunächst auf eine Reform des Primanerkomments gerichtet waren, bald aber, da wir nicht durchdrangen, zu einer Spaltung führten, die nach einiger Zeit die Auflösung des alten Komments zur Folge hatte. Bis dahin bestanden beide Verbindungen feindlich nebeneinander, was aber gerade in unser oppositionelles Unternehmen einen frischen Zug brachte. In den Versammlungen ging es ganz parlamentarisch her; rednerische Kräfte hatten Gelegenheit sich auszubilden, und die Leitung war eine gute Schule für die Präsides;[48] auch der Selbstbesteuerung zu gemeinsamen Zwecken rechne ich eine erzieherische Wirkung zu. Wir bereiteten uns damals auf die Aufgaben vor, die uns in dem neuen Staatswesen erwachsen mussten, und nahmen auf fortschrittlicher Seite Partei.

Durch einen älteren Mitschüler, welcher der freien Gemeinde angehörte, wurde ich zu dieser in Beziehung gebracht und nahm mehreremal an den Besprechungen über religiöse und philosophische Fragen im Hause Rupps teil, ohne mich jedoch für die Art, wie sie behandelt und nach meiner Meinung hyperidealistisch zu lösen versucht wurden, sonderlich begeistern zu können. Ich erhielt auch Zutritt in die Familie eines Mitgliedes, das entschieden schon kommunistischen Grundsätzen huldigte, zu denen ich mich nun kritisch zu stellen Anlass hatte. Ebenso waren einige Damen der Gemeinde in der Frauenfrage ihrer Zeit weit voraus. Was sich mir hier an geistiger Anregung in politischer und religiöser Hinsicht so früh entgegenbrachte, hat dann nach und nach bis in mein spätes Alter hinein der Entwickelung des öffentlichen Lebens gegenüber seine Nachwirkung geäussert.

Nach der grossen Gerichtsorganisation 1849 wurde mein Vater als Kreisgerichtsdirektor nach dem ermländischen Städtchen Heilsberg versetzt. Ich kam in Pension zu einem Handwerker, dem Siegellackfabrikanten Augustin, welcher eins von den hohen und nur zwei Fenster breiten Häusern in der Altstadt unter der Schlossmauer besass und mir ein Stübchen einräumte, in dem ich frei wie ein Student hausen konnte. Er hatte auch sonst noch ähnliche Einwohner und liebte »die tollen Geisterchen«. Ich habe später dem wunderlichen Kauz, seiner Frau und einem sehr drolligen Dienstmädchen, das allgemein nach einem selbstgebrauchten Ausdruck »das junge Leben« genannt wurde, in meinem Schauspiel »Unser General York« ein Gedenken gestiftet.

Zwei Häuser weiter die enge Strasse nach dem Markt[49] hinauf sah ich beim Vorbeigehen öfters an einem der unteren Fenster ein sehr hübsches und noch sehr junges Mädchen bei der Handarbeit sitzen, begegnete ihm auch wohl mit der Schulmappe am Arm und fühlte mich so angezogen, dass ich schnell entschlossen den Eltern, Rendant Schwarzenbergerschen Eheleuten, meine Visite abstattete und um die Vergünstigung bat, in ihrem Hause verkehren zu dürfen. Man nannte das damals »Familienumgang aufsuchen«, und es wurde durchaus nichts Verdächtiges darin gesehen. Von der freundlich erteilten Erlaubnis machte ich ausgedehnten Gebrauch, trat auch in einen von dem Papa, einem geschätzten Musiker, dirigirten Gesangverein und hatte da, wie auf Tanzgesellschaften bei befreundeten Familien Gelegenheit, Therese näher kennen zu lernen. Ich erzähle das nur, weil die mich damals schon sehr lebhaft interessierende »Salzbürgerin Resi« (beide Eltern stammten von Familien ab, die im vorigen Jahrhundert ihres Glaubens wegen aus Salzburgvertrieben und hier eingewandert waren), künftig meine liebe Frau wurde.

Während meiner ganzen Schulzeit und darüber hinaus bin ich ein sehr eifriger Turner gewesen. Damals wurde noch nicht in den einzelnen Schulen geturnt; es gab aber einen städtischen Turnplatz nebst Turnhaus, und dort fanden sich zweimal in der Woche Knaben, Jünglinge und Männer zusammen, um in Riegen geordnet unter Leitung des Turnlehrers, praktischen Arztes Dr. Münchenberg, in Übungen aller Art die Körperkraft zu stählen. Jährlich an einem Sonntage wurde in dem eine Meile von der Stadt entfernten Wäldchen, »Wilkie« genannt, ein Turnfest veranstaltet, das die Bedeutung eines Volksfestes beanspruchen durfte, da sich in Equipagen, Kremsern und zu Fuss auch die Angehörigen der kleinen und grossen Turner einzufinden pflegten, um mit Mundvorrat versehen und auf dem grünen Rasen im weiten Kreise hinter den bekränzten Riegenstangen gelagert den Turnspielen zuzuschauen und den Siegern Beifall[50] zu rufen. Der beste Läufer wurde mit einem Eichenkranz geschmückt. Die älteren Turner bildeten einen Verein, der auch wohl einmal im altstädtischen Gemeindegarten, einer noch aus dem Mittelalter stammenden Halle der zünftigen Handwerker, beim Glase Bier Turnlieder sang und feurige Reden anhörte. Unter den Männerturnern war einer der beliebtesten der Oberlehrer Schumann (dessen, »Geologische Wanderungen durch Altpreussen« sehr wertvoll und zugleich für die charakteristische Weise des Verfassers bezeichnend sind). Da er nicht singen konnte, deklamierte er in erregter Stimmung gern Gedichte, am oftesten und wirksamsten das seines Lieblingsdichters Chamisso: »Wir sind nicht mehr beim ersten Glas.« In der Reaktionszeit wurde der seiner freiheitlichen Gesinnung wegen unliebsam gewordene Turnverein beseitigt. Jetzt ist das Turnen in den Schulen eine recht nützliche Körperübung, aber ein gut Teil seiner ideellen Bedeutung hat es, wie mir scheint, eingebüsst.

Die letzten Osterferien verbrachte ich bei meinen Eltern in dem sehr interessanten ermländischen Städtchen Heilsberg. Das Ermland ist dasjenige Drittel des Weichsellandes, welches nach dessen Eroberung durch den Deutschen Orden für die Kirche ausgeschieden wurde. Das Ländchen, wieder zwischen dem Bischof und dem Domkapitel geteilt, behielt auch nach dem Abfall vom Orden und der Verbindung mit Polen Mitte des XV. Jahrhunderts eine gewisse Selbständigkeit, wurde auch, obgleich in das später herzogliche (Ost-)Preussen eingelagert, vor der Reformation bewahrt und ist auch nach der Besitznahme durch Friedrich den Grossen katholisch geblieben. Es hat in der Bauart seiner Städte und Kirchen noch viel Eigenartiges. In Heilsberg war der ursprüngliche Bischofssitz, bis er nach Frauenburg am frischen Haff verlegt wurde. Dort hatte der Bischof ein noch gut erhaltenes festes Schloss mit Doppelarkaden rund um den inneren Hof und einem tiefen Keller unter dem[51] achteckigen Turm, dessen Untergeschoss, nur durch ein rundes Loch in der gewölbten Decke zugänglich, als schauerliches Gefängnis gedient haben soll. Die ehemalige Vorburg war später moderner umgebaut, und in diesem Gebäude mit zwei Flügeln gegen das alte Schloss hin befand sich das Gericht, dessen Direktor mein Vater war. Er wohnte am Markt in einem der Lauben-Häuser, welche das uralte Rathaus mit seinen gotischen Spitzgiebeln rings umgaben. Es ist leider vor einigen Jahren abgebrannt und nicht wieder aufgebaut. Ich besuchte von Heilsberg aus auch andere ermländische Städtchen von ähnlicher Anlage, zum Teil noch von ihren alten betürmten Mauern umgeben, und brachte meiner Phantasie ein gutes Stück altpreussische Vorzeit nahe. In einem Lesekränzchen lernte ich den Elementarlehrer Frischbier kennen, der sich demnächst in Königsberg, wo er Rektor wurde, durch eine Sammlung von Sprichwörtern, sprichwörtlichen Redensarten und Kinderliedern der Heimat, sowie durch ein Wörterbuch der ost- und westpreussischen Provinzialismen einen geachteten Namen erworben hat.

Im Herbst 1850 bestand ich glücklich das Abiturientenexamen, nachdem es mir gelungen war, bei den schriftlichen Arbeiten zu zwei selbstgelösten eine mathematische Aufgabe »zu schmuggeln«, was ich mir auch heute noch zu einer grossen Sünde nicht anrechnen kann. Ich durfte nun die rote Mütze mit dem silbernen Albertus tragen und war sehr froh über diese schwere Errungenschaft.

Quelle:
Wichert, Ernst: Richter und Dichter. Ein Lebensausweis, Berlin und Leipzig 1899, S. 29-52.
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