Leben der Schwester Lotte

[85] Charlotte Wilhelmine geb. 1766 den 27. Oktober. – Die Geburtstage u. Kinder standen Alle vom Vater Michaelis in eine Biebel verzeignet welche nach Haarburg von meiner Mutter an den Dr. Michaelis zu aufbewahren gegeben ist. Allein nach seinen Tode ist sie leider nicht beachtet worden – u. ist nicht mehr vorhanden. Die Tage der Geburt weiß ich daher nicht genau anzugeben. – Ein schönes Kind, was wohl der Mutter Herz an meisten Zärtlichkeit zollte, obwohl sie keines ihrer Kinder vorzog. Allein sie war ehender kalt wie aufgeregt, was auch bei dem mehr heftigen Charakter meines Vaters ein Glück[85] war, daß sie Ruhe u. Ergebung hatte. Auch ist meines Wissens nie das ehelige Glück gestört worden.

Lotte war das einzige Kind welches meine Mutter mit unendlicher Beschwerde selbst eine Zeit lang nährte, u. villeicht auch darum ihren Herzen noch näher gestanden. Die Menschen sagten es, sie ziehe Lotten vor – allein ich kann es nicht sagen, u. habe nie eine Hindansetzung eines von uns bemerkt. – So wie Lotte ein schönes Kind, ward sie auch ein schönes Mädchen, von deren Schönheit ich noch in späten Jahren Männer habe reden hören u. sich in der Errinrung daran ergötzen wie Wiedemann [?], u. andere mehr. Sie war nur zu klein obwohl zierlich geformt, aber der schönste Kopf prangte auf diesen kleinen Körper. Schwarzes lockiges Haar, die schönsten dunkeln Augen, die manches Herz gerührt haben. – Sie war von früher Jugend in der Kleidung sie selbst. Sie mochte nicht nach der hergebrachten Mode mit steifer Frisur erscheinen, eben so haßte sie die Poschen u. ward darum schon früh verfolgt wegen der Abänderung in der Kleidung der Zeit, welche sie nur trug weil sie mußte, u. man für unziehmend hielt weder Poschen noch Frisur zu tragen. Darum ward sie verunglimft allein sie ließ sich nicht stören, ihr Haar in Locken um den Kopf hängen zu lassen, ein schlichtes Kleid mit breiten Gürtel unter der Brust, wie auch sie noch jezt ein Miniaturgemälde zeicht was der nachher berühmte Prof. Tychsen gemalt hat, u. wie auch ein Kupferstich von der berühmten M. Jordan gekauft ward, der ihr so auserordentlich glich, in Kleidung wie Gesichtszügen u. Gestalt, u. sich noch nebst den Gemälde findet.

Sie war ein orinelles [!] u. wohl romanhaftes Mädchen auf welche alles was romantisch war einwirkte. Sie kam auch von Gotha, etwa in 12. Jahre zurück wo alles einen tiefen Eindruck auf sie gemacht hatte wie der Umgang in Gotterschen Hause. Er der nur in Poesien u. fürs Schauspiel lebte – die besonders gute Truppe dazu, Ekhof, Boek u. die Seiler u.s.w. glänzten. Ein gutes Vorbild für sie. Nicht daß sie zu spielen trachtete, aber sie hatte dadurch eine große Gabe des Vortrags im Lesen sich erworben – was sie nachmals auch oft geübt hat, besonders mit den Prof. Meyer der an der Bib[liothek] war im Boehmerischen Hause oft zusammen gelesen. So wie meine aelteste Schwester[86] fand sie auch in diesen so befreundeten Hause ihre Freundin u. bald auch einen Bewerber an einen der Söhne, der als Oberapelationsrath in Zelle starb. Allein sie hatte kein Herz zu ihm. Wie anders würde sich ihr Leben gestaltet haben, u. wie würde bei ihrer Leidenschaftlichkeit sich ein so abgeschloßnes Leben gemacht haben ohne alle Poesie u. Liebe.

Sie war kaum 14 Jahre alt, als mein Vater es für gut fand sie wieder nach Gotha zu bringen, weil ihr in Hause von einen wohl ganz verderbten jungen Mann aus Portugal nachgegangen ward, der in unsern Nebenhause wohnte. Ob bei ihr eine Neigung obwaltete, weiß ich nicht. Nach dem was später Poel in seinen Leben geschrieben wohl. Aber er thut ihr doch zu viel – sie war so jung – u. meiner Schwester großes Unrecht, eben wie er ein so großes Vorurtheil für Hoek hatte, u. nachdem schreibt er doch selbst über seine Verworfenheit – u. wie recht hatte mein Vater sie aus solchem Einfluß zu nehmen, u. in Ruhe unangehaucht von giftigen Hauch in Gotha confirmiren zu lassen, wo sie unter so vortreflichen Menschen lebte, strenge u. villeicht zu sehr, dann aber auch wieder bei einer verheiratheten Dame zu der sie täglich ging verzogen u. erhoben. Hir lernte sie auch den alten Musäus kennen, durch seine Märchen bekannt. Auch Kotzebue als junger Mensch huldigte ihr – u. in späteren Jahren seines Glanzes kam er nie durch Göttingen ohne ihr Weirauch zu streuen.

Im 15. Jahre, wie sie zurück kam war nur alles ihrer Schöne Beifall zollend aber der Neid fehlte nicht, u. sie ward von ferne angebetet. So auch wieder ein junger Mann den Poel aufbrachte u. ihn stichelte, aus Has wegen Hoek, ihr Briefe zu senden. Ich glaube sie haben sich villeicht nie gesprochen. Es war ein Herr von Elze, alter Famille. An eine Heirathseinwilligung in der Zeit nicht zu denken. Bei ihm war der Scherz aber Ernst geworden, allein er hatte wohl gegen seine Famille nicht an gekonnt, erschien aber doch nach einen Jahre in G. wieder. Ich weiß aber nur daß mein Vater u. der alte Böhmer nach der Krone fuhren, nach einer Stunde zurück kamen, darauf ein Fremder zu meiner Schwester zur Unterredung kam (es war v. Elze, ich erkannte ihn), einige Zeit bei ihr verweilte, wahrscheinlich, von ihr selbst zu hören, daß der Vater in keine Verbindung willige da seine Verwante (der[87] Onkel war Churfürst von [Lücke] u. lebte in Coblenz) dagegen. Hatte man nun Nachricht daß E. kommen würde u. sie villeicht mit sich zu nehmen trachtete – dis ward denn durch das Dazwischen kommen der Männer gehindert, u. Lotte nahm Abschied von einen Manne den sie villeicht ich wüste nicht wie u. wo ruhig gesprochen.

Allein ihre Romantik hatte wohl einen neuen Schwung erhalten, sie war auch wohl eine Zeit lang verstimmt. Wie viele Huldigungen ihr auch wurden so kam sie doch nie damals auf Bälle. Es waren wohl Gesellschaften, aber es blieb doch alles ferner. – Damals ward auch die Bekantschaft der Famille Bethman gemacht wo auch ein junger ausgezeigenter Russe Milerodewitch viel in den Gesellschaften mit war, Lotte sehr auszeichente, aber – diß ist doch an nichts geknüpft als Wohlwollen. – Sein Vetter damals noch ein Knabe war mein Spieleamerat mit der jüngsten Bethman, Sophie die Freundin von Lotte.

Nun kam die Zeit wo Lotte herran gewachsen war, sich auch mit allen Gaben des Geistes auszeichente. P[rofessor] Tychsen zog auch an ihren Siegeswagen, allein er ward zurück gewisen, u. malte wohl nur das Bild, wovon er übrigens die Originalzeichnung für sich behielt, für einen andern Liefländer der sie aber nie erhielt. Er hieß Blankenhagen u. war nicht an Geist, aber an guten Ruf, ein ausgezeichenter völlig freier Mensch. Er hatte auch einen Begleiter, so wie zwey Vettern Herrn v. Grote, Liefländer, zu der Zeit auch in G. waren. Alle kannten Blankenhagens Neigung. Er war auch mit Tatter Lottens Freund u. Rathgeber befreundet. v.B. reiste ab, wolte Reisen machen nach Frankreich u. so w. Er liebte Lotten mit Inbrunst u. achtete sie wie hoch. Ein Bündniß, Verlöbniß war nicht, wie man in der Zeit damit nicht immer anfing, sich eigentlich erst kennen zu lernen suchte. Wärend eines Jahres schrieb er u. wenn er nur zurück nach Lifland sei, wolle er Lotte erwerben. Indessen werden [die] Brife seltner. Sie lieben aus. Lotte hatte B. wirklich geliebt u. sie war wie vernichtet. Tatter schrieb an den Begleiter u.B. war in die Netze einer Frau in Studgard gefallen. Diese hatte seine damals strengen Sitten verderbt, mit einen Wort, die Künste dieser Frau hatten ihn entwürdigt, u. er ist später[88] gestorben an den Folgen eines Lebens, daß er bei einer schwachen Brust nicht hätte führen sollen.

Lotte war eigentlich vernichtet, u. unbegreiflich wieder daß ein so ausgezeichentes Wesen sich zu den Braven aber doch schwachen Menschen hatte gezogen gefühlt, ihn wahrhaft geliebt. Sie wäre gerne gestorben. – Sie reiste zu Caroline u. meinen Bruder nach Marburg. Hir lebte sie in sehr angenehmer Geselligkeit. Es ward viel gelesen, wie überdiß auch zu Haus, wo Schillers Götter Griechenlands, seine übrigen Werke besonders Cabale u. Liebe, ihren Sinn in Anspruch nahmen, wie alle solche Bücher die die Fantasie reizten. Von Marburg reiste sie nach Mainz zur Forster, die ihr Idol war. Da sah sie viele ausgezeichente Menschen aber ich weiß keinen der ihr Herz berührt. Wohl war sie aber mit Hermins[?] befreundet der viel zu Forster kam. Dise Zeit war auch Phillip in Mainz u. sie lernte durch diesen die Fr. Moen die Tochter der Laroche wie diese kennen bei der sie auch Wochen verweilte – lauter Narung für ihren romantischen Schwung. Die Laroche betete Lotten an. Dafür habe ich noch Beweise. Sie wünschte nach ihren Tode noch ihr Tagebuch was Lotte ihr schon Theilweise mitgetheilt.

Zurück nach Göttingen, machte sie bald die Bekantschaft von dem Sohn des Buchhändler Dieterich, der ein sehr leichtsinniger Mann war aber Lotten über alles liebte, da er ihre Bekantschaft machte u. fortzusetzen suchte. Der Vater war aus Haß gegen den meinigen gegen eine Heirath, u. that alles um eine Verbindung zu hintertreiben, obwohl er sah wie Dieterich ein ganz anderer zu werden anfing, u. wie Lotte auf ihn wirkte u. eben dieß gewiß ihn mehr an ihn [sie?] zog, wie auch die Hindernisse welche der Vater in Weg legte. Nach Zeit von einen Jahr gab er doch nach, u. die Hochzeit war im Jahr 92, wo mein Vater schon gestorben. Ich glaube nicht daß er einer Verbindung würde hinderlich gewesen sein, obwohl er eine mit Tüchsen würde gewünscht haben, worauf er öfter Scherzweise anspielte u. sagte wer von Euch beiden will Ihn haben, er legt es mir so nahe als wenn ich ihm meine Töchter anbieten sollte. Wir hatten keine Lust, u. so ward Lotte Dieterichs Frau, von dem Alten wie allen geliebt u. geachtet, auch darum so hoch gehalten weil sie den Mann von Abwegen abgebracht hatte.[89]

Im Aprill des folgenden Jahres genaß sie einer Tochter – u. starb –! die Tochter 2 Jahre nachher – u. starb wohl zu ihrem Glücke denn ich glaube nicht daß sie Dieterich bein Guten würde erhalten haben. Alles was sie geschrieben spricht ihr Glück aus – aber einen Rückfall hätte sie nicht allein nicht überlebt aber in grenzenloses Unglück gebracht, ja bei ihrer Leidenschaftlichkeit zu einen selbst gewählten – Sie hätte auch nie wie die zweite Frau den Geschäfte vorstehen können. Sie hatte mehr Verstand wie diese u. Phantasie aber nicht den praktischen Geist, der das zerrüttete Haus wieder erhob u. erhielt. Ich hatte die zweite Frau sehr lieb. Ich übergab ihr das Kind. Wir zogen nach Braunsch. Das Kind starb. Janette ist immer mir liebe Freundin geblieben u. ihre Töchter mir liebe Nichten. Bis kurz nach der zweiten Heirath hielt sich Dieterich im Gleiß. Ihn von Zeit zu Zeit wieder zu sehn war mir immer peinlich. Ich hätte mich aber doch überwunden als ich beim Jubiläum wo er erkrankte, hin nach Göttingen einige Tage später kam, u. Dieterich sterbend fand. Er wuste daß ich in Hause war. Er ließ mich grüßen u. so war ich eines sehr schmerzlich erregenden Abschieds überhoben. Er liebte Lotte wirklich – wie auch Janette, aber sein Leichtsinn trug bei allen Gelegenheiten über ihn den Sieg [davon]. – Wie glücklich daß Lotte sein Versinken nicht erlebte. Wie betrübt für meine arme Mutter die Tochter zu verlieren, welche Freude hatte sie sich versprochen. Nun zerriß der Tod gütig alle Leiden der Zukunft, u. erhellte was dunkel in dem Rathe Gottes der der Armen nicht mehr auferlegte wie sie hätte tragen können u. liß Lotte im Genuß des Glückes sterben.

Manche Zeilen sind noch als Beilage von ihr hiebei, so Briefe wie abgeschriebenes was sie anschaulicher machen [macht?] u. Beweise ihres Geistes u. Denkens. Auch ein Brief von Dieterich, u. die Schattenrisse. Sie ist mir immer eine liebe Schwester gewesen. Aber warum hatte man doch Scheu über so manches zu besprechen, u. wie gut würde eine ofnere Mitheilung gewesen sein, da man über die engsten Verhältnisse schwieg.

Quelle:
Wiedemann, Luise: Erinnerungen von Luise Wiedemann, geborene Michaelis, der Schwester Carolinens. Nebst Lebensabrissen ihrer Geschwister und Briefen Schellings und anderer, zum ersten Mal herausgegeben von Julius Steinberger, Göttingen 1929, S. 85-90.
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