Die Heimat

[11] Über meine Kindheit wäre wenig zu sagen, wenn ich nicht von meiner Heimat sprechen wollte, die durch die Schuld der Deutschen, schließlich den schmählichen Verrat der Novembermänner preisgegeben ist. Die Deutschen haben sich niemals darum gekümmert, wie es bei uns aussah, und es lebt schwerlich jemand, der die Zustände der 50er Jahre schildern könnte; ich kann noch darüber hinaus Charakteristisches nach den Erzählungen meiner Mutter und aus der Tradition mitteilen. Die ersten Eindrücke haften ja am festesten im Gedächtnis, und wo sich etwas sagenhaft verschoben haben sollte, weiß jeder wirkliche Historiker die typische Wahrheit zu schätzen. Mein ältester Bruder Hugo hat sein Leben dem Dienste der Provinz gewidmet, erst als Landrat des Kreises Inowrazlaw, das damals noch den Kreis Strelno mitumfaßte, also größer war als mancher deutsche Staat, zuletzt als Oberpräsident, dazwischen in der Selbstverwaltung. Wir haben uns nahegestanden, so daß ich über die Verhältnisse manches weiß. Er hatte mit Treitschke abgemacht, ihm das Material für den Polenaufstand von 1848 zu liefern. Das ward durch Treitschkes Tod verhindert, und er hat es nicht nachgeholt. Historische Studien irgendwelcher Art habe ich nicht gemacht, und ich kenne eigentlich nur die engste Heimat aus dauerndem Mitleben mit ihm und seinen Kindern, die jetzt auf seinen Gütern sitzen. Sein Schwiegersohn hat die Geschichte von Markowitz aus den Akten mit weitem geschichtlichem Blicke dargestellt, was mir sehr nützlich geworden ist1. Solcher Bücher sollte es viele geben. In meiner Darstellung behandele ich die Provinz noch als preußisch; nur die erst spät willkürlich veränderten Ortsnamen sind mir selbst nicht geläufig geworden. Gerade die deutschen Besitzer haben ihren Gütern die Namen, unter denen sie sie ererbt hatten, nicht rauben lassen. Daß das Vorwerk von Markowitz den gar nicht bezeichnenden Namen Gay, wie viele Waldvorwerke heißen, mit »Möllendorf« schon ganz früh vertauscht hat, kommt dagegen nicht in Betracht.[11]

Es pflegt den Deutschen nicht bewußt zu sein, daß die Kolonisation des Ostens, nicht nur in Thüringen und der Mark, sondern auch im Oder- und Weichsellande auf alten germanischen Boden wieder vorgedrungen ist. Wir werden nicht bezweifeln, daß vor den Germanen Menschen, vermutlich gar nicht indogermanischer, vielleicht finnischer Rasse, hier gewohnt haben; aber ob die Bodenforschung schon Spuren von ihnen im Netzedistrikt entdeckt hat, weiß ich nicht. Als die Römerzeit vom Weichsellande einigermaßen sichere Kunde erhält, sind nordgermanische Stämme herübergekommen, Goten, Vandalen, Burgunder. Aber auch sie sind vielleicht in die Sümpfe und Wälder meiner engsten Heimat nicht eingedrungen. Die Erforschung der vorgeschichtlichen Siedelungen ist nicht weit getrieben, und der Pflug hat viel zerstört. Rohes, handgeformtes, oft ungebranntes Geschirr wird vielfach gefunden und ist meist verkommen; es war wohl slawisch. Auch auf dem Boden von Markowitz hat ein Gräberfeld gelegen, nordwestlich, nahe dem Klosterlande, das auch einen besonderen Namen Doszierow führte. Ebenso etwas oberhalb von Kruschwitz, bei Lagiewnik. Fluchtburgen in den Sümpfen, auch hier Schwedenschanzen genannt, fehlen nicht, oft durch Raubgrabungen zerstört, so daß nur die Ringwälle dauern. Die Slawen (an der Ostsee bis an die Weichsel die baltischen Preußen), welche das von den südwärts ziehenden Germanen verlassene Land besetzten, haben sich für die Gesittung, die ihnen ganz allein von den Deutschen zukam, erst spät und unvollkommen empfänglich gezeigt, auch nach der Bekehrung zum Christentum und der zeitweiligen Unterstellung unter den deutschen König. Der Anschluß an Rom hat sie von den Russen dauernd geschieden; aber die Einwanderung von Deutschen ist von ihren Fürsten und Grundherren lange eifrig gefördert worden; die nur zu vielen kleinen Städte erhielten meist deutsches Recht, die deutschen Bauern waren auch vor den früh in die Leibeigenschaft gezwungenen Polen bevorzugt. Die Juden des Ostens, die sich unheimlich vermehrten, sind auch aus Deutschland gekommen. Polen hat auch bessere Zeiten gesehen, und man darf ein Volk nicht deshalb geringschätzen, daß ihm neben seinen besonderen Vorzügen die Fähigkeit gebricht, sich selbst zu regieren, wie sich auch in den Gemeinden zeigt, den Zellen, aus denen sich der Körper des Staates aufbauen soll. Aber über jedes erträgliche Maß hinaus war schließlich die Verwahrlosung des Landes und der Menschen gediehen, und für beide war die preußische Herrschaft einfach die Rettung. Von der Entvölkerung gibt es eine Vorstellung, daß in dem weithin größten Städtchen Inowrazlaw 1371 Einwohner in 299 Häusern saßen, in Kruschwitz[12] gab es 13 Häuser, und da war doch ein Domkapitel2. In der großen Herrschaft Kobelnik, die schon vorher einen deutschen Verwalter hatte und noch einigen Reinertrag abwarf, belief sich, als sie 1789 in deutschen Besitz gelangte, der Viehstand, dem ich in Klammern den Bestand von 1889 zufüge, auf Pferde 40 (165), Rindvieh 92 (463), Schafe 300 (3626), Schweine 52 (211). Die Gebäude waren ganz verfallen. Über die Bauern mußte die Kammerdeputation Bromberg 1782 berichten, daß sie »gewohnt waren nicht mehr zu besitzen, als was sie zum notdürftigsten Unterhalte brauchten, das übrige aber im Trunke aufgehen zu lassen«. Begreiflich bei ihrer vollkommenen Rechtlosigkeit unter dem adligen Gutsherrn, dem erst 1768 das Recht, eine Todesstrafe zu verhängen, genommen war, wenigstens im Gesetze, aber was bedeutete das in einem machtlosen Staate? Klöster waren zur Zeit der Gegenreformation mehrfach gegründet und werden zuerst auch Gutes gewirkt haben, aber auch sie verkamen. In dem Karmeliterkloster in Markowitz waren 1819 nur zwei Mönche, einer schwerkrank, der andere ein notorischer Trunkenbold; dazu wurden zwei Mädchen im Kloster gehalten. Die Aufhebung war unvermeidlich, schon um der Kirche den Grundbesitz zu erhalten. Doch von der Erziehung der Menschen zur Menschlichkeit wird später geredet. Zunächst muß von dem Lande selbst gehandelt werden, das deutsche Arbeit aus einer Wüste in einen Garten verwandelt hat. Diesem Lande steht es nun auf seinem Gesichte geschrieben, daß es deutsch ist.

Es ist nur eine Ecke des Regierungsbezirkes Bromberg, von der ich rede, und es liegt mir fern, was ich hier beobachtet habe, auf die ganze Provinz Posen zu übertragen. In meiner Kindheit hörte man noch von dem »Großherzogtum« reden, ein Beweis, wie kurzsichtig es war, daß man 1815 diese preußischen, aber zu Deutschland staatsrechtlich bis 1868 nicht gehörenden Landesteile zu einer Provinz zusammenschlug, noch dazu unter einem polnischen Gouverneur, wenn es auch ein Radziwill war.

Von Kujawien will ich reden. Das war nicht nur einmal ein Herzogtum und jahrhundertelang ein Bistum gewesen, sondern Mieczko I. ist überhaupt der erste sicher beglaubigte polnische Fürst und hat im 10. Jahrhundert sein Schloß am Goplosee in Kruschwitz gehabt. Hier beginnt die polnische Geschichte mit dem Königshause der Piasten. Kujawien reicht auf das rechte Ufer der Weichsel hinüber, westlich nur bis an den Pakoscher See, so daß der Kreis Mogilno von den Kujawiaken schon ziemlich wie ein anderes Land angesehen ward. Ich habe mich auf meiner Dissertation als Cujavus[13] bezeichnet, also schon damals bekannt, daß ich mich als deutscher Kujawiak mit meinen polnischen Landsleuten durch die Geburt, durch die Natur, also durch die gemeinsamen heimischen Götter verbunden fühlte, die uns alle genährt haben.

Dieselben polnischen Sümpfe sind Quellgebiet von Warthe und Netze. Zu jener fließt das Wasser südlich, zu dieser nördlich, zunächst in den großen Goplosee, den die Grenze durchschneidet, wo er noch ziemlich breit ist. Er zieht sich dann so eng zusammen, daß er leicht überbrückt ward; vermutlich ist da eine Furt gewesen. An ihr liegt Kruschwitz und dicht davor hat auf einer seit der Schiffbarmachung der oberen Netze landfest gewordenen Insel eine Burg gelegen, die wir als Burg der Piasten betrachten mögen, wenn ihre Bauten auch sehr viel jünger sind. Es ragt noch weithin sichtbar ein sechseckiger Turm empor, auf festem Steinfundamente aus guten Ziegeln errichtet. Steine sind selten, denn sie finden sich nur vereinzelt im Boden, Reste von Muränen. Dies ist der Mäuseturm, an dem dieselbe Sage hängt wie bei Bingen; der böse König heißt hier Popiel. Auch eine in der Bauart entsprechende Mauer umzog die Insel. Ihre Fundamente sind ausgegraben, als mein Bruder Landrat war, und durch eine Heckenpflanzung ersetzt, zu der die Sträucher aus unserem Garten kamen. Der Kreis stellte einen verarmten Adligen, Pan Bronikowski als Wächter an, denn die Insel sollte allen Eingeborenen ein gemeinsames Heiligtum werden, von dem aus sie sich an der prächtigen Aussicht über See und Landschaft gemeinsam erfreuen könnten. Gewaltige Steinkugeln fanden sich und sind teils eingemauert, teils am Fuße des Turmes aufgeschichtet; demgemäß wird die Zerstörung der Burg wohl in die Schwedenkriege des 17. Jahrhunderts oder den auf den Frieden von Oliva folgenden Bürgerkrieg fallen, der sich in dieser Gegend abgespielt hat.

Wenig weiter abwärts liegt auf dem rechten Seeufer eine uralte Kirche, neben der in kümmerlichen Häuschen die Mitglieder des verarmten Domkapitels wohnten. Als König Friedrich Wilhelm IV. im Anfange seiner Regierung bei dem Kammerherrn von Schwanenfeld in Kobelnik als Gast weilte, fuhr er zu der damals verfallenen Kirche und befahl ihre Wiederherstellung, was seine Architekten recht stillos besorgt haben. Es soll dabei ein altes »Götzenbild« irgendwo vermauert sein. Es war meine erste archäologische Unternehmung, daß ich als Sekundaner diesem Monumente nachforschte und nachfragte. Vergeblich; ein heidnisches Werk ist es schwerlich gewesen, vielleicht hat es nur in dem Glauben existiert, daß die Kirche aus der Zeit des Überganges zum Christentum stammte.[14]

Schrägüber liegt Kobelnik (Kobylniki, Stutendorf, auf einstige Pferdezucht deutend) und umrahmt mit seinem weitgestreckten Parke dieses Ufer des Sees, während auf der anderen Seite dichtes Röhricht selbst dem Schwimmer verwehrt, an Land zu gehen. Kobelnik ist der Herrensitz einer Anzahl von Gütern, die schon vorher unter der Verwaltung eines Deutschen gestanden hatten, als sie ein in Warschau lebender Herr von Schwanenfeld 1789 erwarb. Einer seiner Nachkommen war preußischer Kammerherr und heiratete die älteste Schwester Emma meines Vaters; von ihr hat mein ältester Bruder den Besitz geerbt und sich das neue Herrenhaus erbaut.


Markowitz in Posen. Nach einem Aquarell
Markowitz in Posen. Nach einem Aquarell

Der Fluß, der aus dem Goplosee heraustritt, heißt jetzt Netze, ward aber früher zunächst Montwy genannt und hat diesen Namen an eine stattliche Ortschaft abgegeben, die sich im Anschluß an die Anlage einer Zucker- und einer Sodafabrik da gebildet hat, wo zunächst eine Furt war, seit der Mitte der 50er Jahre die Chaussee Posen-Thorn läuft, die einer Diebesherberge ein stattliches Chausseehaus hinzufügte. Die Chaussee geht süd-nördlich von dem winzigen Städtchen Strelno nach Inowrazlaw über Markowitz, das mein Vater 1836 von der preußischen Offizierswitwenkasse erwarb, deren Verwaltung allerdings wenig geleistet hatte. Inowrazlaw liegt auf einem »Berge«, den freilich nur die Eingeborenen als solchen erkennen. In seinem Grunde birgt sich das Steinsalz, das am anderen Weichselufer in dem Solbade Ciechoczinek schon ausgenutzt war, ehe man in Inowrazlaw sich um das Salz bemühte; längst hätte der Staat mit irgendeiner Industrie beginnen sollen. Jetzt ist auch hier ein heilkräftiges Solbad. Der Betrieb der Salzgewinnung geschah zu leichtsinnig und hat bedenkliche Senkungen des Bodens in der aufblühenden Stadt zur Folge gehabt. Das hat gerade die neuerbaute katholische Kirche unbenutzbar gemacht, die an Stelle einer älteren ausgebrannten Ziegelkirche errichtet war. Eine protestantische Kirche ward in meiner späteren Kindheit erst erbaut. Auf dem weiten Marktplatz stand ein hoher Wartturm, der wegen Baufälligkeit beseitigt werden mußte. Man sagte, er wäre vom Deutschen Orden errichtet, der Kujawien nur kurze Zeit einmal behauptet hat. Schwerlich war die Annahme begründet.

Die Netze windet sich dann weiter durch einstige Sümpfe und Seen, erhält auch aus solchen Zuflüsse, den ersten von Süden aus dem Pakoscher See, den die Eisenbahn Posen-Thorn überschreitet; am rechten Ufer liegt ihre Station, der mein Bruder den Namen Amsee gegeben hat; jetzt hat sich im Anschluß an die älteste Zuckerfabrik der Gegend auch eine Ortschaft gebildet. Da ist also die Westgrenze des alten Fürstentums Kujawien. Die Schiffbarmachung der unteren Netze, die Ende der 50er Jahre stattfand,[15] später die der oberen hat die Wasserhöhe des Goplo stark gesenkt, andere Entwässerungsanlagen, endlich ausgedehnte Drainage hat die Landschaft bis zur Unkenntlichkeit verändert. Keiner kann sich jetzt vorstellen, daß mein Vater auf einem Kahne zur Entenjagd fuhr, wo jetzt ein meist trockener Graben zu üppigen Wiesen des Nachbargutes Zerniki und weiter führt. Östlich vom unteren Goplo dehnte sich Sumpf und Steppe, Bachorze nach einem kleinen Wasserlaufe genannt. Westlich wuchs den Anliegern ein Landstreifen zu, auf dem zunächst einige reiche Ernten von Raps und Rübsen großen Gewinn abwarfen; danach ließ sich nur ein Teil durch Rimpausche Dämme urbar machen. Es ergab sich auch ein bald erschöpfter Torfstich. Diese Ränder eignen sich nur zur Anpflanzung von Erlen und ähnlichem Gehölz. Dafür sind die weiten Felder Kujawiens von einer schweren, schwarzen Humusschicht bedeckt, die an Fruchtbarkeit von keinem Boden übertroffen wird, und auch wo der Boden leicht, auch wohl sandig wird (alte Dünen), läßt er sich ertragreich machen. In einiger Tiefe liegt Mergel, der früher zur Verbesserung des Bodens aufgegraben ward. Fruchtbäume, namentlich Pflaumen und Kirschen, gedeihen auf dem schwarzen kujawischen Boden schlecht, weil ihre Wurzeln den Mergel nicht vertragen; ihr Leben ist kurz. Wasseradern liegen tief, so daß es nur Ziehbrunnen gibt, und der Brunnenmeister, der Wasser fand, eine gewichtige Person war3. Es machte mir den Eindruck eines Wunders, als ich in Thüringen zuerst eine wirkliche Quelle und einen rieselnden Bach sah: das kannte ich nur aus Märchen und Gedichten.

Ziemlich alles Land wird ursprünglich von Wald bedeckt gewesen sein, den ältere Aufzeichnungen mehrfach erwähnen; bei Strelno liegen weite staatliche Forsten, aus denen sich Rehböcke einzeln nach den kleinen Waldstücken verlaufen, die hie und da erhalten sind. Auf gutem Boden haben Eichen gestanden, unsere deutsche schöne Buche fehlt, die niedrige Hagebuche ist vorhanden, Birke überwiegt. Pappeln verschiedener Art, auch Silberpappeln werden in den Gärten am höchsten, auch hohe Weiden fehlen nicht. In Kobelnik war die Anpflanzung seltener Bäume und Gesträuche schon früher gelungen. Jetzt stehen an den Straßen viele Rüstern; ich habe[16] als Knabe erlebt, wie die ersten eingeführt wurden, auch Roßkastanie und dann Platane. Feineren Nadelhölzern und selbst den Fichten wird ein besonders strenger Winter wie der von 1870 verderblich; ebenso kann ein dürrer Sommer, wie sie nicht selten sind, wirken. Daher sind hohe Fichten eine große Seltenheit; Douglasfichte und Thuia scheinen das Klima besser zu vertragen. Jetzt ist die Landschaft freundlich durch die Umpflanzung auch der Feldwege, aber das hat unendliche Geduld erfordert, denn der Pole war roh gegen die Pflanzen. Ich erinnere mich eines Pfingsttages, an dem die Kirchgänger eine eben von meiner Mutter gepflanzte Allee ganz zerstört hatten, weil die kräftigen Stämmchen sich zu Peitschenstielen eigneten. An den Rainen aber gedieh die Schlehe und einzeln stand ein wilder Birnbaum, die Kruschke: die wurden geschont, weil die Früchte Liebhaber fanden. Im Walde gibt es noch einzelne Exemplare der Elsbeere, pirus torminalis, die wir Brotfruchtbäume nannten, aber eßbar sind die Früchte nicht mehr als die Birnen der Kruschke. Nun haben Botaniker in unserem Wäldchen noch andere Seltenheiten entdeckt, den Feldahorn und die Zwergkirsche, prunus fruticosa, die seitdem sorgfältig geschützt werden. Frühlingsblumen fehlten fast ganz außer Löwenzahn und in den Gräben die schönen echten Vergißmeinnicht. Anemonen, Leberblumen, Lungenkraut, Orchideen lehrten mich in den Wäldern von Pforte erst, was ein Frühling ist. Schafgarbe, Zichorie, Stechapfel, das waren die Hauptvertreter der kujawischen Flora. Daher haben die schönen Landschaftsbilder des polnischen Dichters Kasprowicz, die ich in der Übersetzung gelesen habe, in mir ganz heimische Erinnerungen erweckt.

In den deutschen Fibeln stand lange der Spruch:


Der wilde Wolf in Polen fraß

den Tischler samt dem Winkelmaß.


Das ist mir oft höhnisch entgegengehalten, wenn ich als Schüler meine Heimat rühmte. Der letzte Wolf ist mir 1856 im Berliner Zoologischen Garten gezeigt worden, ein Wolf aus dem Forste von Mierau bei Strelno. Er trug ein Halsband mit seiner Heimatsbezeichnung, weil er der letzte Überläufer aus Polen war. Aber als Lothringen deutsch ward, mußten Schußprämien für Wölfe ausgesetzt werden, weil die schlechte französische Forstverwaltung ihrer in den Argonnen Herr zu werden niemals verstanden hat. Ein seltenes Wild kam im Herbste aus den östlichen Steppen herüber, die Trappe, und entzündete die Lust, den scheuen und klugen Vogel zu erbeuten, was kaum je gelang. Mein Neffe hat sich einmal als Kujawianka verkleidet und[17] konnte sich heranschleichen, weil der Vogel das Weib für ungefährlich hielt. Übrigens hieß es, was man auch vom Auerhahn sagt, zunächst wäre die Trappe ungenießbar; man müßte sie erst einige Tage in die Erde graben, und dann wäre es am besten, wenn man sie vergäße. Iltis und Marder kamen nicht selten vor. In dem alten Hause in Kobelnik tanzten die Marder allnächtlich auf dem Boden; daran mußten sich die Gäste gewöhnen. Fuchsgraben in unserem Wäldchen war ein jährliches Vergnügen. Im Herbstnebel den Dohnenstieg längs zu gehen, war eine Freude; noch waren die Zugvögel, darunter Dompfaffen, Nebelkrähen u. dgl. nicht geschützt. Aber es hieß früh aufstehen, denn die Bauern, manchmal auch die Herren Nachbarn wußten auch den Weg. Massenhaft schwärmten im Winter Dohlen und Krähen. An denen lernten wir Jungen schießen, nachdem die ersten Versuche an Spatzen geglückt waren. Diese ergaben würzige Spatzensuppe und auch gebratene Dohlen waren unverächtlich. Im Kriege hat auch der Berliner sogar Krähen gegessen.

Die Jagd, an der ich freilich aktiv nur ganz wenig teilgenommen habe, war ergiebig. Die Schnepfe strich, Wachtel, Wachtelkönig, in dem Sumpf und Röhricht Wasserhuhn und Bekassine, vor allem Rebhühner. Toujours perdrix ward als eine sehr willkommene Abwechselung von toujours mouton empfunden, und namentlich die Hasen, die im Eiskeller monatelang aufbewahrt wurden, kamen für die Ernährung stark in Betracht. Die Treibjagden waren die größten Gast- und Festtage, zu denen die deutschen Besitzer auch aus weiterer Ferne sich gegenseitig einluden. Bei uns ward die Hasenjagd allerdings einige Jahre zerstört, weil mein Vater sich zum Hetzen hatte verleiten lassen. Ein Windhund, wirklich ein schöner Solofänger, war, ich weiß nicht wie, ins Haus gekommen, und nun ging es los. Erjagt ward sehr wenig, um so mehr Hasen gingen ein; es heißt, daß die äußerste Anstrengung, mit der sie sich schließlich retten, sie doch bald hinrafft. Vor allem aber waren sie schlau genug, über die Grenze zu gehen, und die Nachbarn, die sich über den Zuwachs zu freuen allen Anlaß hatten, konnten sich über die Hunde, manchmal auch die Reiter beschweren, weil sie die Grenzen nicht immer respektierten. Einmal habe ich eine ganze Hetze mitgeritten, was mir sehr wertvoll ist, denn so habe ich die Leidenschaft erfahren, die auch den Widerwilligen packt, und verstanden, daß die Hetze in England noch heute so viel getrieben wird. So in der Karriere fliegen, über jedes Hindernis, Graben und Hecke setzen, dem Hasen, wenn er geschickt eine Volte schlagen will, durch rasches Herumwerfen des Pferdes den Weg verlegen, das macht das Blut sieden, ein Rausch, vergleichbar dem gemeinen Reize, den das Glücksspiel[18] mit hohem Einsatz ausübt. Auch das soll man einmal kosten. Wer niemals einen Rausch gehabt, der ist kein rechter Mann. Zu freier sittlicher Haltung gelangt erst, wer seine Leidenschaften überwindet, weil er ihren Reiz erfahren hat, sagt ein Athener.

Fische waren zwar keine Volksnahrung, aber doch noch reichlich vorhanden; in den fließenden Gewässern gab es Hecht und Schlei, selbst in kleinen Teichen Karauschen. Der untere Goplo ist jetzt durch die Abwässer einer Zuckerfabrik verseucht; als er noch von keinen Dampfbooten und Schleppern durchfahren war, gab es in kalten Wintern die Eisfischerei. Da ward es zu einem Volksfeste, wenn auf dem festgefrorenen Goplo Löcher geschlagen und Netze gezogen wurden. Groß und klein fuhr in Schlitten auf die Eisdecke, man lief und fror und schaute sich an, was zappelnd aus den Netzen kam, ganze Wagenladungen voll; ein Wels von Meterlänge war nicht unerhört. Das gab für die Leute reichliche Fest- und Fastenspeise4.

Die Landschaft ist durch den Rübenbau ganz verändert, der in den ersten 70er Jahren anfangend bald eine große Ausdehnung erhielt, zumal auch die Bauern Land genug hatten, um sich an ihm zu beteiligen; in der Genossenschaft, die mein Bruder mit einem Nachbarn gründete, waren polnische und deutsche Bauern Mitglieder. Voraussetzung war, daß die Eisenbahn Posen-Thorn, später auch Inowrazlaw-Bromberg endlich gebaut und auch sonst für bessere Wege gesorgt war. Solange über 50 Kilometer weit alles verkaufte Getreide durch die eigenen Gespanne abgeführt, jede Maschine zugeführt werden mußte, war die Belastung der Wirtschaft allzu schwer. Kohlen konnten nicht beschafft werden; und wer hält heute einen Betrieb ohne sie für möglich? Rindvieh ward nur zur Milchgewinnung gehalten; nicht einmal Käsereien bestanden. Die Düngung blieb daher ungenügend. Immer noch lagen mehrere Schläge brach, Bau der Ölfrüchte war ein Risiko; Klee, der zum Futter nicht entbehrt werden konnte, wo Wiesen fehlten, winterte leicht aus. Da war die Schafzucht eine Haupteinnahmequelle; es sind in Markowitz wohl 4000 gehalten worden. Die Schafwäsche und Schur war ein Fest von mehreren Tagen. Da saßen die Kujawiankas höchst vergnügt[19] mit den Beinen im Wasser und langten sich Schaf um Schaf, das unter den waschenden Händen elendiglich blökte, noch mehr unter der Schere der Männer, die nur zu oft ins Fleisch kniff. Allgemeine Fröhlichkeit; es gab viel Schnaps. Der Schafmeister, ein vortrefflicher Schlesier, war so vornehm wie der Inspektor, ein treuer Mann; leider kam er früh als erster auf unsern Waldfriedhof, wo ein ehernes Kreuz sein Grab erhält. Wir Kinder waren ihm zutraulich; alle Monat kam er, uns eigenhändig zu scheren. Jedes Jahr reiste ein weiser Mann herum, der abends sehr gut essen und trinken wollte; er brachte den Geruch aus dem Schafstall mit, wo er jedes Tier begutachtet und den Stapel der Wolle geprüft hatte, denn gezogen wurden edle Merinoschafe5. Neben ihm stand ein Gehilfe mit einer Zange und kniff jedem Hammel oder Mutterschaf ins Ohr, das als Brackschaf zur Schlachtung im nächsten Jahre verurteilt ward. Darin bestand die Hauptnahrung für den Gesindetisch, aber auch für die Herrschaft, wo nur das zahlreiche Geflügel hinzukam. Die Küken warteten gute »Onkel«, Kapaune, die Schnaps bekamen, was für notwendig galt, damit sie bei ihren Schützlingen blieben. Die schwierige Putenzucht besorgte eine alte krumme Polin; sie bekam offiziell keinen Schnaps, aber betrunken war sie meistens und besorgte ihr Amt zur Zufriedenheit. Gänse konnten bei uns nicht so viel gezogen werden, wie man es gern getan hätte; denn die Bauern, die einen großen Teich hatten, machten mit Gänsen sehr gute Geschäfte bei den Juden von Inowrazlaw, die Gans hieß ja das Schwein des Juden. Als die australische Wolle in Massen auf den Markt kam, lohnte auch die Schafzucht schlecht. Aber als gute Verbindungen, Rübenbau, Drainage, künstlicher Dünger die Erträge der Felder vervielfachte, kam auch die Rindviehzucht auf, und von Schafen wurden Fleischschafe zum Verkauf gezüchtet; auf den eigenen Tisch kam nur eins im Jahre. Galsworthy läßt einen seiner Forsytes den festlichen Hammelrücken aus Deutschland beziehen. Einen besonderen Erfolg hatte das tiefe Pflügen: es zerstörte die Engerlinge, wobei die Saatkrähen fleißig halfen. Vorher war die Maikäferplage so groß, daß man in ihrer Flugzeit wirklich nicht in den Garten gehen konnte, Kastanien gar nicht aufkamen, die Hagebuchen und Eichen kahl wurden, die Rosen nur durch ständiges Absuchen erhalten werden konnten. Die ganze Dorfjugend sammelte die Käfer sackweise,[20] das Federvieh konnte den Fraß nicht bewältigen. Ich habe den Ekel gegen das Ungeziefer nicht verloren, aber Widmans Maikäferkomödie hat ihr Wesen gut beobachtet.

Schon als ich 1876 nach Vorpommern kam, fiel mir auf, wie weit die Landwirtschaft hinter der unseren zurückstand, wie viel weniger gepflegt Felder und Wege waren. Nun ist seit Jahrzehnten Kujawien, was es nur werden konnte, terra di lavoro, wie Kampanien, gesegnet wie dieses, und schön ist es auch für den, der den Sieg über die Natur oder vielmehr die Befreiung der Kräfte, welche der Schoß der gütigen Mutter barg, zu würdigen weiß. Und auch sinnliche Schönheit fehlt nicht auf der endlos sich dehnenden Fläche, die von vielen Dörfern mit Kirchtürmen und Fabrikschornsteinen unterbrochen wird. Dunkele Alleen zwischen dem Grün und Gelb der Felder oder auch über dem schwarzen Sturzacker, im Winter dem blendenden Weiß des Schnees. Hoch oben ziehen die Wolken – sie habe ich nie so schön und gestaltenreich gesehen. Die Gestirne der Himmelskugel leuchten zwar nicht so stark wie im Süden, aber sie weckten dem Knaben die Andacht zur ewigen Ordnung, die er nie verloren hat, das erste Gefühl hellenisch-platonischer Frömmigkeit. Der Himmel war in den letzten 50er Jahren an besonderen Wundern reich: wie jagten sich in den hellen heißen Sommern die goldenen Sternschnuppen, wie oft wurden die Knaben aus den Betten geholt, im Sommer, wenn die schweren Gewitter niedergingen, furchtbar schön; Angst hat uns nie angewandelt; im strengen Winter um das Nordlicht flammen zu sehen; das ist mir nie wieder begegnet. Und einmal, 1859, zeigte sich ein wirklich wie eine Gottesgeißel geschwungener großer Komet – es ist seitdem kein vergleichbarer wiedergekommen. So weit ich auch in der schönen Welt herumgekommen bin, ein leises Heimweh nach solcher kujawischer Schönheit habe ich im Grunde der Seele immer getragen.

Das russische Polen zeigte uns, wie es vor der preußischen Zeit ausgesehen hatte. Seit dem Aufstand von 1863 waren nur wenige Übergangsstellen dem Verkehre geöffnet, die Kontrolle unbequem. Die gute preußische Chaussee führte bis an die Grenze, damit Schluß; jenseits mochte der Wagen sehen, wie er durchkam. Die Russen hatten mit Absicht eine Zone längs der Grenze wüst gelegt. Ich bin nur einmal mit meinem Bruder auf dem kleinen Dampfer seiner Zuckerfabrik den Goplo hinaufgefahren, wo ihm noch ein Wald gehörte, der aber bald abgeschlagen und dann das sandige Gelände an Bürger der nächsten Stadt losgeschlagen werden mußte. Der Ausländer sollte keinen Grund und Boden besitzen oder wenigstens nicht vererben. Die Veranlassung unserer Fahrt war, daß die Grenzwächter, Kosaken, denen der Besitzer ein[21] Wachhaus im Walde hatte errichten müssen, ihren Wachtmeister erschlagen und die Leiche, an einen Eichenstamm gebunden, in einem Teiche versenkt hatten, was zu Verhandlungen mit den Behörden führte.

Drei Völker lebten im Lande: Polen, Juden, Deutsche, im wesentlichen ohne sich zu vermischen. Ein preußisches Staatsgefühl war zunächst nur von den Deutschen zu verlangen; es ist auch ihnen natürlich erst sehr allmählich zum Bewußtsein gekommen, und sie hatten auf die Regierung noch lange keinen Einfluß, aber sie fühlten sich doch den anderen gegenüber als das Volk, dem die Herrschaft zukam. Friedrich der Große hat sofort mit starker Hand durchgegriffen, für Sicherheit und Ordnung gesorgt, dem wirtschaftlichen Notstand und der Rechtlosigkeit nach Kräften gesteuert, hat auch erreicht, daß die Errichtung des Großherzogtums Warschau durch Napoleon keine Begeisterung erweckte und ein ziemlich wirkungsloses Intermezzo blieb. Auf dem Papier hatten die Franzosen allerhand Freiheiten gebracht, sich aber durch ihre Ausbeutung des Landes so verhaßt gemacht, wie sie es immer und überall getan haben und heute erst recht tun; es darf nur nicht ausgesprochen werden. Das Neue verschwand wieder bis auf die Beseitigung der patrimonialen Gerichtsbarkeit, was also ein Vorzug der Provinz blieb.

Die Angliederung einiger Woiwodschaften an Preußen kann mit der Zerstörung des polnischen Staates durch die dritte Teilung gar nicht auf eine Stufe gestellt werden. Die Bevölkerung war auch ganz einverstanden, und weshalb sollte ihr ein sächsischer August lieber gewesen sein als der preußische Friedrich? Das ganze niedere Volk war vollkommen rechtlos und dachte nur an seine nächsten Bedürfnisse, die Juden ebenso. Ihre Lage wandte sich zum besseren; da waren sie zufrieden. Die katholische Kirche behielt unter dem Beschützer der Jesuiten ihre Freiheit. Die Schlachta behielt ihren Adel und die Steuerfreiheit ihrer Güter, für die Landwirtschaft kam sogar eine günstige Konjunktur. Sie hatte Aussicht auf Verwendung in der Verwaltung und Polen traten in beträchtlicher Anzahl in das Heer. Zahlreiche Familien sind dadurch deutsch geworden, zunächst vom Adel, später mehr als Unteroffiziere und Militäranwärter; der Slawe ist ja ein vortrefflicher Soldat. 1772 dachte noch niemand an einen nationalen Staat. Die Diplomaten des Wiener Kongresses haben es auch nicht getan und damit eine schwere Schuld auf sich geladen. Aber nun blieb es dabei, daß alles Untertanen waren, zwischen denen kein Unterschied gemacht ward; für die Deutschen, die erwarten durften, als Bürger des Staates behandelt, zum Teil zu solchen erzogen zu werden, war das eine Zurücksetzung, und als sie schließlich Staatsbürger wurden, erhielten[22] auch solche Untertanen dasselbe Recht, denen das Staatsgefühl fehlte. Wie hatten doch einst die Römer das keltische Oberitalien mit einfachen und den Eingeborenen genehmen Mitteln rasch zugleich für die Kultur und für das Römertum gewonnen. Wer das weiß (was freilich damals niemand wußte), kann leicht sagen, was möglich war und Erfolg haben konnte. Die bürgerliche Gleichberechtigung kam allen zu, aber politische Rechte gebührten nur dem, der sie sich durch die Kenntnis der Sprache des Staates und den Eintritt in das Heer oder den Dienst in der Gemeindeverwaltung persönlich erwarb. Schon die Bildung der Provinz Posen war verkehrt. Der Netzedistrikt war preußisch gewesen und hatte mit Westpreußen zusammengehangen, das ganz wider die natürliche Gliederung und die wirtschaftlichen Verbindungen mit Ostpreußen vereinigt ward. Aber die westpreußische Landschaft hat immer auch den Netzedistrikt umfaßt, und unsre Leute dienten im pommerschen Armeekorps. Aus dem westlichen Teile hätte ein Regierungsbezirk der Provinz Brandenburg gemacht werden sollen, aus dem südlichen einer von Schlesien. Mit der Kurie hätte sich damals eine Änderung der Diözesengrenzen vereinbaren lassen. Erst als es zu spät war, ist man auf diesen Gedanken gekommen.

Die beiden ersten Jahrzehnte nach 1815, die eine verhängnisvolle Agrarkrise brachten, haben für die Provinz schlechthin gar nichts getan, und die Wegelosigkeit, die völlige Vernachlässigung der Schule blieben wie sie waren, selbst die Auseinandersetzung der Bauern mit den Rittergütern schleppte sich bis in die 40er Jahre hin. Zuwanderung von Deutschen stockte. Erst in den 30er Jahren trat in dem Oberpräsidenten v. Flottwell ein ebenso einsichtiger wie energischer Mann an die Spitze der Provinz, durch dessen Eingreifen auf allen Gebieten ein gewaltiger Ruck vorwärts gemacht ward. Deutsche Besitzer mußten zuwandern, das materielle und geistige Gedeihen aller Bewohner gehoben werden, stramme deutsche Verwaltung die übermütige Schlachta bändigen. Aber als er abtrat, erlahmte der Eifer, manches schlief ganz ein. Von Berlin aus ist niemals im Geiste Flottwells regiert worden. Das polnische Landvolk und die Judenschaft hat die Förderung durch Flottwells Regiment dankbar empfunden; anders der Adel. Der nahm es übel, daß die fester angezogenen Zügel ihm beliebte Seitensprünge verwehrten. Das polnische Nationalgefühl war erweckt und erzeugte die Entfremdung von dem deutschen Wesen. Diese Umstellung der Gesinnung kam aus dem russischen Polen herüber, das unter dem Kaiser Alexander I. eine gewisse Selbständigkeit besaß und gegen Nikolaus 1830 den ersten Aufstand unternahm. Zu ihm zogen nicht wenige Adlige aus[23] Preußen hinüber. Einer unserer Nachbarn ließ sich später noch General nennen, so wenig militärisch die Erscheinung des dicken alten Herrn auch war. Über die deutsche Grenze kam der Aufstand zwar nicht; nur die Cholera erschien ein erstes Mal in seinem Gefolge. Das Landvolk ließ sich im ganzen nicht verleiten, aber die Gerichte hatten doch eine nicht geringe Anzahl von Verurteilungen auszusprechen, und schon diesmal war die Begnadigung der meisten Schuldigen nicht angebracht. Flottwells Ernennung war eine gute Folge der unliebsamen Erfahrungen von 1830.

Rußland schlug den Aufstand nach den ersten Mißerfolgen grausam nieder und erreichte durch seine Gewaltherrschaft nur, daß das Feuer unter der Asche glimmend alle Herzen erfaßte und der Gegensatz der römischen Kirche zu der orthodoxen sich verschärfte. Beides griff nach Preußen herüber. Die Kirche behandelte polnisch und katholisch als dasselbe; sie hat einige von Bamberger Deutschen in der Nähe von Posen besiedelte Dörfer unter den Augen des Oberpräsidenten sehr rasch polonisiert. Fast der ganze Adel frondierte offen oder geheim. Eine Person wie der Graf Raczynski war hinfort undenkbar, der in Berlin sein Palais baute und seine Gemäldesammlung nicht nach Posen vermachte, sondern in Berlin ließ. Daß sie jetzt in Posen ist, hat die preußische Regierung viel später verfügt.

Gefährlich wurden zunächst nur die Emigranten aus dem russischen Polen, denen sich auch einige Familien aus unserer Provinz anschlossen, obwohl sie sich über nichts zu beschweren hatten. In Paris und der Schweiz mischten sich diese Polen mit den deutschen Flüchtlingen, die vor der Reaktion gewichen waren und die öffentliche Meinung mit ihren Brandschriften erfolgreich beeinflußten. Auch in Deutschland, zumal im Süden, gab es polnische Flüchtlinge oder solche, die es sein wollten, und ihr theatralisches Auftreten machte starken Eindruck. So ist die ebenso gedankenlose wie schädliche Polenschwärmerei des sentimentalen Liberalismus entstanden, in die sich bei den Süddeutschen ein blöder Preußenhaß mischte. Wie es bei uns aussah, davon wußte niemand etwas und fragte niemand. Graf Platen sang in dem fernen Italien seine Polenlieder. Sein Feind Heinrich Heine war in Paris den edlen Polen Krapulinski und Waschlapski zu nahe, um trotz allem Preußenhaß in diese Töne einzustimmen. In Paris beschloß man den Aufstand, der in Posen für das Jahr 1846 vorbereitet ward. Aber der Oberpräsident war unterrichtet, das Militär auf seinem Posten, die Hochverräter wurden verhaftet und zur Aburteilung nach Berlin befördert. Noch zeigte sich, daß das Landvolk keine Neigung hatte, den Aufrührern zu folgen.[24]

Bei meinen Eltern war gerade Gesellschaft, sowohl die Polen, mit denen nachbarlicher Verkehr war, wie die Offiziere aus Inowrazlaw waren geladen. Große Aufregung, als die letzteren ohne Begründung absagten, die Polen ausblieben. Die Offiziere waren gleichzeitig kommandiert, den Haussuchungen und Verhaftungen Nachdruck zu verleihen. Seitdem blieb die Lage gespannt; sie ward es auch in Berlin durch den Kampf um eine Volksvertretung immer mehr. Bald entfesselte der Sturz des Julikönigtums auch die deutsche Revolution. Gewiß waren die Zustände unhaltbar, die Sehnsucht in den Besten des Volkes nach Einheit und politischer verantwortlicher Mitarbeit am Staate drängte vorwärts, und ohne einen starken Druck waren die Fürsten und die Regierungen zum Nachgeben nicht zu bewegen. Aber den richtigen Weg zum Ziele, zur Einigung und Macht der Deutschen, konnte die politische Unerfahrenheit nicht finden, und in einem zentralisierten Einheitsstaate war es nicht nur unerreichbar, sondern war auch falsch bestimmt. Daß man sich hierin und in dem Anschluß an den nicht englischen, sondern französischen Parlamentarismus vergriff, ist verhängnisvoll geworden. Bereitwillig müssen wir anerkennen, daß wir Deutsche in unserer Geschichte wiederholt starke und fruchtbare Anregung von den Franzosen erfahren haben, auch 1789 und von Napoleon. Dumm und ungerecht wäre es, darum die großen besonderen Gaben des génie français leugnen zu wollen, wie drüben die meisten uns gegenüber so zu denken oder doch zu reden ungerecht und dumm genug sind. Aber der deutsche Geist hat doch seine größten Taten dann vollbracht, wenn er das gallisch-romanische Wesen ausschied, das auf das spezifisch Germanische wie ein Gift wirkt. Auf dem staatlichen Gebiete gilt es besonders, und die Neubildung des deutschen Staates wird nur gelingen, wenn die germanische Selbstverwaltung den Sieg über die Allmacht des zentralisierten Staates unter der Oberherrschaft eines korrupten Parlamentarismus gewinnt. Allerdings gehört auch etwas dazu, was wir an den Franzosen zu bewundern allen Grund haben, weil es von Deutschen oft schmählich verleugnet wird, die unbedingte Hingabe an das Vaterland und der Glaube an seine Größe, seine Ehre und sein Anrecht auf die entsprechende Geltung in der Welt.

Immerhin war der Sommer 1848 für Deutschland eine große Zeit der Hoffnung. Bei uns stand es ganz anders. Preisgegeben waren wir, preisgegeben von dem Könige und ganz ebenso von der Nationalversammlung in Frankfurt. Wir haben es beiden nicht vergessen. Statt den Hochverrätern gemäß dem Richterspruche den Kopf vor die Füße zu legen, ließ sie der König los, und der sentimentale Liberalismus klatschte Beifall. Der Erfolg war, daß[25] sie in der Uniform der preußischen Landwehr die polnischen Sensenmänner auf unserem Dorfplatze einexerzierten. Meine älteren Brüder sahen durch die Spalten eines Bretterzaunes zu. Im herrschaftlichen Kruge zu Markowitz war ein Hauptquartier; da verteilte man die Haut des Bären, den man jagte, die deutschen Güter. Meine Eltern waren nicht geflohen; vor ihrem Hause standen Posten, allerdings mehr zum Schutze gegen Plünderung von den früheren Bekannten aufgestellt. An Bestellung des Landes war nicht zu denken, Pferde und Vieh waren genommen, soweit sie gebraucht wurden. Im Laufe des Jahres wechselten die Verhältnisse mehrfach; eine Weile müssen meine Eltern wohl in Bromberg gewesen sein. Meine Mutter geriet einmal in einen wüsten Trupp von Aufständischen, die sie herausrissen und den Wagen nehmen wollten. Da erkannte sie einer unserer Leute und rief: das ist ja die gnädige Frau aus Markowitz. Das genügte. Aber die Erregung durch diese Monate war doch so stark, daß ich zu früh ohne Hilfe einer Hebamme zur Welt kam. Schließlich erschien doch die preußische Kavallerie, und der Aufstand brach leicht zusammen. Gustav Freytag hat selbst angegeben, daß sein Kampf um das Schloß der Rothsattel einer heldenmütigen Verteidigung der Domäne Strelno nachgebildet ist. Ein besonderes Ereignis erwähnte meine Mutter gern. Als unsere Soldaten heranzogen, aber unsere polnischen Leute fast noch alle bei den Rebellen standen und die Pferde entführt waren, mein Vater abwesend, saß sie einsam bei der Arbeit; plötzlich kam ein Mann von hinten durch den Garten gelaufen, drang über den Balkon ins Haus und fiel um Gnade und Rettung flehend meiner Mutter zu Füßen. Es war ein Bekannter aus früherer Zeit (ich bin des Namens nicht sicher genug, um ihn zu nennen), jetzt waren die Reiter hinter ihm her. Da ließ die deutsche Frau das Pony ihres ältesten Jungen von dem alten treuen Kutscher Pawel an ein Wägelchen spannen, und der Flüchtling ist glücklich über die russische Grenze entkommen.

Allmählich renkte sich alles wieder ein; manches ward besser; die Chaussee ward gebaut, ein Landrat konnte in einem Herrn von Heyne aus den Deutschen des Kreises genommen werden, denn in der Zeit der Not hatte auch die Beamtenschaft vielfach versagt. Aber unmittelbar an den Aufstand schloß sich die furchtbar verheerende Cholera6, der Wohlstand war zerstört, ein[26] schweres Ringen um die Existenz begann, und erschüttert war auch das Vertrauen auf die eigene Regierung, gegen die Deutschen im Reiche ein bitteres Gefühl erweckt.

Mit den Polen war nun kein Verkehr mehr möglich. Nur einer erschien zuweilen, Herr von Koszielski, der sich von früher her mit meinem Vater duzte und die drei Küsse der Begrüßung nicht unterließ. Meiner Mutter erweckte der Besuch des geschmeidigen Herrn einige Furcht; er war nämlich Reisender für eine Weinhandlung in Bordeaux und schwatzte leicht ein Faß Haut Sauternes auf, sehr guten, aber sehr teuren Wein7. Den Bart trug Koszielski immer wie der Prinz von Preußen und schmunzelte, wenn ihm angedeutet ward, daß seine Züge an die Hohenzollern erinnerten; Prinz August von Preußen hatte in den zwanziger Jahren in Bromberg Hof gehalten und die polnischen Damen so entgegenkommend gefunden wie Napoleon in Warschau. Die Familie Koszielski hatte einst einen großen Besitz gehabt, der nun auf zwei Güter zusammengeschmolzen war; auf einem saß er, auf dem anderen seine Frau mit ihrem geistlichen Gewissensrat. Ein Bruder hatte es geraten gefunden, Europa zu verlassen, und bei Ismael Pascha von Ägypten sein Glück gemacht, er hieß nun Sefir Pascha; Deutschland mußte er meiden. Schließlich zog er sich mit dem gewonnenen Reichtum nach Steiermark zurück und hinterließ diesen seinem Neffen, der auf einem deutschen Gymnasium erzogen war. Ich habe ihn einmal gesehen, als wir beide Schüler waren, er etwas älter, gerade beschäftigt, Heine zu übersetzen. Ich hatte meinen Vater bei einem Ritt nach dem ziemlich entfernten Gute begleitet; um den Weg abzukürzen, wagten wir den Übergang über eine halsbrechende Privatbrücke, die nur für Torfstecherkarren bestimmt war, führten aber unsere Pferde glücklich hinüber. Bei dem alten Koszielski gab es schließlich doch eine peinliche Geschichte: eine Haussuchung nach staatsfeindlichen Dingen; das Genauere habe ich vergessen. Der junge hat, als er reich geworden war, auch eine reiche Warschauer Jüdin heimgeführt hatte, eine gewisse Rolle gespielt, bei Kaiser Wilhelm II. Gnade gefunden, als die[27] Polen im Reichstag für das erste Flottengesetz stimmten. Seine Landsleute gaben ihm den Spottnamen Admiralski und nahmen ihn bald nicht mehr ernst. Adlige Polen und auch solche, die aus dem allmählich erwachsenden Mittelstande her emporstiegen, besuchten unsere Schulen und Universitäten. Sie hätten also manche Stellungen einnehmen können. In den Tagen der königlichen Gunst ward einmal einem auf die Klage, daß es keine polnischen Landräte gebe, geantwortet, es sollte nur einer sich dazu melden; in der Provinz könnte er freilich nicht angestellt werden, weil er dann in Gewissenskonflikte kommen könnte. Da kam keiner. Der feinsinnige Latinist v. Morawski ging nach Krakau, Czwiklinski brachte es in Wien zum Leiter der höheren Schulen: beide stammten aus unserer Provinz und hätten zu Hause die besten Aussichten gehabt. Es gab aber auch sehr wenig polnische Ärzte oder Baumeister; nur die Advokaten fehlten nicht, begreiflicherweise.

1863 war wieder Aufstand in Russisch-Polen, und die nationalistischen Kreise, vor allem die Geistlichkeit hätten gern mitgemacht. Das scheiterte an der Grenzbesetzung, die viel lustiges Leben in die Häuser brachte, und an der Konvention, die Bismarck mit Rußland schloß, worüber sich der sentimentale Dusel der Deutschen, die von der wirklichen Lage keine Ahnung hatten, baß entsetzte. Aber die Hauptsache war doch, daß Bauern und Arbeiter sich entschieden weigerten, für die Herren ihre Haut zu Markte zu tragen. In Markowitz haben sie ihren Pfarrer, der sie auf der Kanzel aufhetzte, selbst angegeben, worauf der lebenslustige Herr abgeführt ward. Bismarck selbst handelte nach seiner Einsicht in die große Politik; von unseren Zuständen wußte er so wenig, daß er einen Ledochowski zum Erzbischof machen ließ. Es kam uns Deutschen hart an, daß wir auf Wunsch von oben dem »Versöhnungsbischof« Ehrenpforten bauen mußten. Auch später hat Bismarck die Dinge nur aus der Ferne und durch fremde Brillen gesehen und manch mal Bestrebungen durch seine Worte unterstützt, die seiner eigensten Anschauung von preußischer Verwaltung wenig entsprachen.

Mit der Gründung des Norddeutschen Bundes hörte der unnatürliche Zustand auf, daß die preußischen Ostprovinzen nicht zu Deutschland gehörten. Schon das belebte in ihnen den Kredit. Seit der Gründung des Reiches stieg die Kultur und der Wohlstand unserer Provinz in raschem Tempo; manche Gesetze der 70er Jahre halfen dazu. Eisenbahnen und Straßen wurden gebaut, mit dem Anbau der Zuckerrüben kam eine auf die Landwirtschaft belebend zurückwirkende Industrie auf, und sie war nicht die einzige. Die Deutschen hatten die Führung, aber die Polen folgten. In den[28] Organen der Selbstverwaltung, Kreistagen und Provinziallandtag, wirkten sie gedeihlich mit, solange sie in der Minorität blieben. Denn der nationale Gegensatz blieb derselbe, und der kirchliche verschärfte sich durch den Kulturkampf. Die Regierung war wieder wenig wachsam und vermied Mißgriffe nicht. Es war wieder das Regiment aus der Ferne, Bureaukratie. Daß der Landrat zu einem ihrer Organe gemacht und so an den Aktenschreibtisch gefesselt ward, mußte hier besonders schädlich wirken. Die längst notwendige Verkleinerung der Kreise ließ lange auf sich warten. Dabei blieb es, daß die Verwaltungsbeamten möglichst rasch aus der Provinz wieder hinausstrebten, die ihnen die Fremde war, und nur zu oft kamen solche, die man anderswo nicht wünschte. Wie sollte es nicht erbittern, wenn Krotoschin einen Landrat erhielt, der sich anderswo unmöglich gemacht hatte. Die Polen hatten daher Erfolg, als sie sich ihres gesteigerten Wohlstandes dazu zu bedienen begannen, die Deutschen wirtschaftlich zurückzudrängen. Es hieß, daß sie auch Verstärkung durch Stammesgenossen erhielten, welche vor der russischen Vergewaltigung aus Wolhynien weichen mußten. Der polnische Grundbesitz ward so gestützt, deutscher ausgekauft. Da es nun polnische Handwerker, auch polnische Kaufleute gab, wurden die Deutschen möglichst boykottiert. Die Kirche rief eine polnische Darlehnskasse für das Landvolk ins Leben, was nur möglich war, weil die Deutschen nicht rechtzeitig für das Bedürfnis gesorgt hatten. Daß man sich auf dieser Seite zu energischer Abwehr entschloß, war durchaus berechtigt, ebenso, daß man Einfluß auf die Regierung zu gewinnen suchte. So entstand der Ostmarkenverein, dem im Reiche viele gute Patrioten beitraten und seine Führer dauernd unterstützten, denen es am Anfang dieses Jahrhunderts tatsächlich gelang, die Berliner Regierung zu beherrschen; wer anders dachte, galt für national unzuverlässig, und die Presse stellte sich dementsprechend ein. Die Stimmung in der Provinz, nicht nur in den Kreisen des Handels, sondern gerade bei den mit dem Lande verwachsenen Deutschen ward dieser Führung und der folgsamen Haltung der Bureaukratie immer weniger geneigt. Sie erlebten ja die Folgen, von denen die Mitglieder des Vereins in der Ferne nichts ahnten; die Presse sorgte dafür mit gewohnter Umfärbung der Tatsachen, wovon ich mit mehr als einem Belege aufwarten könnte8.[29] Es war begreiflich, daß die Polen den Verein gleich bei der Gründung scharf bekämpften. Sie gaben seinen Mitgliedern den Namen, den sie behielten, Hakalisten (nach den Gründern v. Hansemann, v. Tiedemann, Kennemann) und schrieben ihnen die chauvinistische Gesinnung zu, die leider mit der Zeit zur Herrschaft kam. Es ist gewiß manches Gute gewirkt, wozu die Regierung aus eigener Initiative nicht gekommen wäre. Die Ansiedlungskommission hat namentlich zuerst mit Erfolg deutsche Bauernstellen begründet; eine ungesunde Steigerung der Güterpreise hat das freilich auch zur Folge gehabt. Eine lange Versäumnis ward eingeholt, indem endlich vom Staate für die Volksschule genügend gesorgt ward, und es war nur in der Ordnung, daß die polnischen Kinder Deutsch lernten. Aber unvermeidlich war die Folge, daß die Beherrschung beider Sprachen die Leute im Leben verwendbarer und leistungsfähiger machte als die Deutschen, die kein Polnisch lernten; die Beamten des Staates konnten es ja auch nicht. Althoff hat von mir einmal ein Gutachten über diese Dinge verlangt und wandte gegen die Richtigkeit meines Vorschlages nichts ein, daß in den mittleren und höheren Schulen Polnisch ein obligatorisches Fach werden müßte. Aber er zuckte doch die Achseln – an so etwas wäre jetzt ja gar nicht zu denken. Erreichbar und erwünscht konnte nur sein, daß die Bevölkerung in Frieden und zufrieden zusammen lebte und das Deutschtum in seinem Übergewicht erhalten und gestärkt würde. Dagegen war die Einstellung der Hakatisten chauvinistisch. Sie sahen in dem Polen einen Feind, der gewaltsam eingedeutscht oder aus dem Lande gedrängt werden müßte. Wer Haß säet, wird nie etwas Gutes ernten. Schon jede ungerechte Zurücksetzung verstößt gegen den Grundsatz Suum cuique; der sollte doch in Preußen gelten. Ungerechtigkeiten sind tatsächlich begangen; meistens sind das zugleich Dummheiten, die sich rächen müssen. Was ist es anders, wenn die Volksschule schließlich vergaß, daß das Kind zuerst seine Muttersprache ordentlich lernen muß, schon damit es eine zweite lernen kann. Also muß auch der Lehrer die Sprache des Kindes beherrschen.

Schließlich erzwangen die Hakatisten das unbestreitbar tyrannische und verhängnisvolle Enteignungsgesetz, das noch dazu durch die Änderungen des[30] Abgeordnetenhauses unbrauchbar gemacht war, wie der damalige Laudwirtschaftsminister Freiherr von Schorlemer-Lieser 1918 im Herrenhause vor seiner Fraktion erklärte, der ich auch beigetreten war. Angenommen ist es auch im Herrenhause nur, weil die vielen Inhaber von Virilstimmen, die sonst nie erschienen, von der Regierung aufgeboten wider ihre Überzeugung stimmten; vielleicht ebenso bei der Abschaffung, die im Herrenhause 1918 noch erreicht ward, als es zu spät war. Ich hielt gerade in den Tagen der Annahme einen Vortrag in Wien; der Kultusminister Graf Stürckh, der später einem sozialistischen Mordbuben, noch heute einem Helden der Partei, zum Opfer fiel, gab mir zu Ehren einen Rout, und ich sah mich von polnischen Herren umringt und begriff erst allmählich, daß ich die Auszeichnung meinem Namen verdankte, als ein Herr zu mir sagte »meine Familie sitzt seit 600 Jahren im Kreise Wirsitz«, worauf ich ihm mit scharfer Betonung wünschte, daß sie noch ebenso viele Jahrhunderte dort blühen möchte. Die Haltung meines Bruders war ihm bekannt; wir haben es vorher und nachher nicht anders gehalten, und er hatte, als er noch ein ganz unabhängiger Mann war, die praktischen Vorschläge gemacht, um durch eine musterhafte Verwaltung diese fremdartigen Bestandteile mit der Gesamtheit innig zu verschmelzen9. Niemals darf bei den Angehörigen eines anderen Volkes Grund zu dem Verdachte gegeben werden, daß sie ihrer Nationalität, ihrer Sprache, ihrem Glauben entfremdet werden sollten. Der Überlegenheit der eigenen Kultur durften die Deutschen im ganzen sicher sein, aber jedes Volk hat seine eigenen Gaben, und auch hier fehlten sie selbst da nicht, wo sie erst durch unsere Schule erweckt werden mußten. Das nächste leicht erreichbare Ziel war, daß sich alle als Posener fühlen lernten: auf der gemeinsamen Erde war das von der Natur gegeben. Gemeinsam sollten sie auch die Vergangenheit ihres Landes kennenlernen und die erhaltenen Zeugen derselben pflegen. Welcher Widersinn, daß in Posen eine deutsche und eine polnische Sammlung der heimischen Altertümer bestand. Das wirtschaftliche Leben gab Gelegenheiten vieler Art zum Zusammenwirken; davon ist manchmal, aber viel zu wenig Gebrauch gemacht. Selbst bei dem polnischen Adel würde[31] geschickte Behandlung manches erreichen können; wenn ihn der Staat nicht gewann, für Verbindungen mit dem Hofe war er empfänglich. Es war schon klug gewesen, daß einst der Prinz August in Bromberg ein Haus gemacht hatte, König Friedrich Wilhelm IV. hatte im Anfang seiner Regierung noch die Provinz in langsamen Zuge durchfahren, was des Eindruckes nicht verfehlt hatte. So etwas hat sich nicht wiederholt. Bei uns stand noch lange die »Königsbirke«, unter der er durchfahrend einen Imbiß eingenommen hatte. Dann kam erst der Kronprinz, als er Gouverneur von Pommern war, zur Inspektion der Truppen seines Armeekorps und kehrte in vielen, doch nur rein deutschen Häusern ein10, aber seine glänzende Erscheinung imponierte doch allem Volk; es ließen sich ihm wohl auch vornehme Polen melden. Man hätte dafür sorgen sollen, daß ein Prinz in der Provinz Hof hielt, am besten auf einem Landgute; das konnte den polnischen Adel, gerade seine Frauen, auch an den Berliner Hof locken. Ein flüchtiger Besuch Wilhelms II. in Posen reichte nicht aus. Und doch waren viele hochangesehene Herren, die im Provinziallandtage und somit in der Selbstverwaltung tätig waren, noch am Ende der 90er Jahre bereit, zu erscheinen, wenn der Kaiser nach Posen käme. Da hielt dieser eine jener unseligen Reden, deren Theaterdonner alles verdarb. Schließlich ward in Posen das Schloß gebaut, das schon äußerlich den Charakter einer Zwingburg trägt, im Innern so wenig wohnlich, daß es schwerlich eine prinzliche Familie darin ausgehalten haben würde.

Eine große Schwierigkeit lag in der Religion. Obgleich es an katholischen Deutschen und evangelischen Polen nicht ganz fehlte, fiel für die Menge des polnischen Volkes doch deutsch und ketzerisch zusammen. Die Deutschen konnten gar nicht an die schwarze Gottesmutter von Czenstochau glauben, auch wenn sie gewollt hätten, und sie konnte sich auch gar nicht um sie kümmern, da sie nur polnisch versteht. Diese Vorstellung mag der unpolitische Pfaffe, der sie verbreitete, selbst gehabt haben. Erhöht ward die Schwierigkeit dadurch, daß die deutschen Katholiken, zumal die des Westens, im Landtage[32] immer die Partei der Polen nahmen: Konfession ging auch den Redlichen über das eigene Volkstum, und es fehlte im Zentrum auch nie an solchen, die mit Bewußtsein gegen Preußen Partei nahmen. Es wäre gerade das Wünschenswerteste gewesen, wenn sich Dörfer von deutschen Katholiken gebildet hätten, die stand hielten und bewiesen, daß Gott alle Sprachen versteht. Aber die Süddeutschen verachteten den Osten. Ihnen ist auch heute der Verlust des deutschen Koloniallandes gleichgültiger als der von Samoa. Ohne Schuld ist der preußische Staat gewiß nicht. Er hat die Bildung der Geistlichkeit allzulange in den Händen des Erzbischofs gelassen, der sie nicht über das Niveau hob, das jenseits der Grenze vorhanden war. Als die Maigesetze auch hier eine tiefere Allgemeinbildung erzwangen, verschärfte der Kulturkampf die Gegensätze und Ledochowski wußte die Waffe zu führen, die ihm der Staat in die Hand gegeben hatte. Im Jahre 1875 sagte mir ein zynischer Kaplan: »Es lebbe das Kulturkampf, kein Erzbischof, ich kann machen was ich will.« Im Jahre 1916 sagte zu mir ein anderer junger Vikar, damals sehr gefügig, später ein wilder Chauvinist: »Wir müssen Bismarck dankbar sein: er hat uns gezwungen, mehr zu lernen: nun sind wir den Amtsbrüdern in Rußland und Galizien überlegen.« Diese deutsche Bildung hätte die Regierung nicht im Kampfe, sondern im Einverständnis mit der Kirche in den Zeiten durchführen müssen, welche den nationalen Gegensatz noch nicht kannten, dann ergab sich eine entsprechende Hebung der Schule, die ja noch in den Händen der Kirche war, und ebenso eine Hebung der Sittlichkeit des Volkes. Polen wären die Polen geblieben, das war ihr Recht, aber schon der Blick über die Grenzen würde sie mit dem Staate, der so für sie sorgte, treu verbunden haben.

Staat und Kirche, beide hatten die breite Masse des Volkes in jener Verwahrlosung belassen, von der ich noch für die 50er Jahre Zeugnis ablegen kann. Ein Unterschied zwischen den Bauern und den Landarbeitern war nicht zu erkennen. Das schöne Buch von Reymond, »Die polnischen Bauern«, zeigt diese auf einer höheren Stufe, aber verlaust und verschmutzt muß man sie doch denken; der Dichter hat mit Recht nicht dabei verweilt; die Liederlichkeit der Weiber kommt trotz einer Lynchjustiz an den Tag. Die Gestalt des Pfarrers ist ähnlicher. Der unsere saß in Ludzisk, denn die ansehnliche Barockkirche, die ein frommer und kunstsinniger Herr am Anfang des 18. Jahrhunderts in Markowitz errichtet und mit Reliquien, die er aus Rom mitbrachte, ausgestattet hatte11, besaß zuerst noch keinen eigenen Geistlichen. Das Klostergebäude gehörte dazu. Darin war die Schule, in der eine Überzahl[33] von Kindern, auch aus den Nachbardörfern, nichts lernte. Wer Kirche oder Kloster betrat, konnte von Glück sagen, wenn er nur eine Legion Flöhe mitbekam. Im übrigen wohnte meist das übelste Gesindel im Kloster. Um den Kirchhof zog sich eine hohe Mauer; der Pfarrer ließ sie halb abtragen und sich aus den Steinen eine Scheune bauen. Der Ertrag des Kirchenackers blieb in seinen Händen. Er war ein rüstiger Herr; eine Weile hatte er immer wieder einen Neffen oder eine Nichte anzubringen, wozu ihm die deutsche Herrschaft behilflich sein sollte, und sie war ihm gefällig, denn er sollte doch auf seine Beichtkinder einwirken. Wirklich führte er auch nach Ostern regelmäßig eine Summe Geldes ab, Ersatz für Diebstähle, die in der Beichte bekannt waren. Nur hörte das auf, als er wegen seiner Hetzerei beim Aufstande von 1863 in unliebsame Berührung mit der Polizei gekommen war; die Sittlichkeit der Arbeiter mußte sich wohl gehoben haben. In Wahrheit nahm die Dieberei womöglich zu.

Die Landarbeiter hatten es eigentlich besser als in vielen Gegenden Deutschlands. Sie erhielten so reichliches Kartoffelland, daß mancher sich ein Schwein halten konnte, und die Herrschaft hielt jeder Familie eine Kuh. Sie sorgte für Arzt und Arzneimittel und für die Witwen ihrer Leute; für diese war ein eigenes Haus da, denn der Typhus ergriff gerade die kräftigsten Männer. Es bewährte sich die Praxis, einer Witwe eine Kuh zu schenken, dann fand sich bald ein Freier. Die Verwahrlosung der Frauen war wohl am schlimmsten; sie mußten mit auf Arbeit gehen, und jede Familie einen sogenannten Scharwerker, einen ledigen Arbeiter halten, wenn nicht ein arbeitsfähiges Kind da war. Aber es hat sich ja später gezeigt, daß sie Zeit genug hatten, das Haus in Ordnung zu halten; damals buken sie nicht einmal Brot, sondern der Knecht, der sich am herrschaftlichen Tische von Brot genährt hatte, bekam nach seiner Verheiratung Fladen mit ein wenig Rüböl. Die Häufigkeit der ehelichen und unehelichen Geburten ward durch die Kindersterblichkeit aufgewogen. Dreimal hat meine Mutter vor den Arbeiterhäusern kleine Gärten angelegt, Beerensträucher und Gemüsepflanzen oder Samen zur Verfügung gestellt. Dreimal ist alles vernichtet worden; die Bewohner zogen es vor, den Vorplatz als Abtritt zu benutzen12. Erst ihre Enkelin hat es erreicht, und jetzt stehen da[34] schmucke Gärtchen, Blumenstöcke im Fenster: die Verbesserung der Schule und der wirtschaftliche Aufschwung, die Erfahrung der vom Militär Heimkehrenden, schließlich auch die nun erwachte Mahnung der Kirche hatten Erfolg gehabt. Zuletzt tat die Kirche auch etwas gegen das Saufen, das fürchterlich gewesen war, gerade auch bei den Weibern. Der Krug war herrschaftlich, da ließ sich gegen die nächtlichen Tanzvergnügungen und auch sonst manches tun. Aber kirchliche Feste gab es genug, und viermal im Jahre »Ablaß«, wie es hieß; die kirchliche Veranlassung kann ich nicht angeben. Dabei war Jahrmarkt. Buden mit allerhand Waren, Leckereien und vielbegehrtem Tand wurden aufgeschlagen, uns Kinder reizte es natürlich auch. Die Leute der Umgegend strömten herzu, und wenn es nur zu allgemeiner Betrunkenheit und mäßigen Schlägereien kam, war man froh. Das Erntefest endete ebenso; da standen schon am gesitteten Anfang die Branntweinfässer auf der Rampe vor dem Hause. Die Mütter brachten ihre Kleinsten mit und machten sie betrunken; sie sollten schlafen und die Mutter nicht stören. Das weitere spielte sich in einer Scheune ab, »und von der Scheune scholl es weit, Geschrei und Fiedelbogen«, wo es dann so weiterging, wie das Gedicht in seiner jetzigen Bearbeitung nur andeutet, aber mit anstandsloser Brutalität. Der Garten zeigte auf den Blumenbeeten am andern Morgen, daß sie zu Blumenbetten geworden waren. Auch das mußte als landesüblich hingenommen werden.

Diebstahl an allen Naturalien war nach der Volksauffassung kein Unrecht, auch wenn er durch Einbruch geschah. Ein Schaf aus dem Stall zu holen und auf dem Felde zu schlachten, würde wohl der Hirt aus seiner Herde nicht leicht auf sein Gewissen genommen haben, aber es kam vor. Einmal ward der Eiskeller erbrochen und ausgeräumt. Seine leere Scheune anzustecken hielt sich der Bauer für berechtigt. Anfang Juni war unsere Spritze gegen Abend immer bespannt, die Bemannung war auch gern bereit, weil sie an den Prämien für das Löschen Anteil bekam. Als die Schwurgerichte eingeführt wurden, also viele polnische Bauern und Gutsbesitzer zu Geschworenen berufen wurden, sagte ein Richter, Brandstiftung und Notzucht können wir nur selten bestrafen; da stimmt die Majorität aus Gewissensbedenken für nicht schuldig. Aber Widersetzlichkeit gegen die Herrschaft kam kaum vor, im Gegenteil. Die Leute hatten ja immer unter einer gesellschaftlich streng getrennten Minderheit gestanden, sozusagen unter einer anderen Menschenklasse, und wenn sie nun unter wohlwollenden Herren standen, waren sie willig und gewannen sogar Vertrauen, selbst wenn die mündliche Verständigung schwer war. Einzelne stiegen wohl zu der Stellung eines Vogtes (Vorarbeiters und[35] Aufsehers) auf, aber die Handwerker, Schmied und Stellmacher, Aufseher in Kuh- und Pferdestall oder gar Schafmeister, die vornehmste Stellung, konnten nur Deutsche werden; in den Städten war das ebenso bei Schneider und Schuster. Das hat sich ganz geändert, seit die Schulen besser geworden sind, und auch in den Fabriken haben sie sich sehr anstellig gezeigt, während die Beamten der Zuckerfabriken zuerst klagten, sie drehten an jeder Schraube und jedem Ventil wie die Kinder. In der Tat, wie die Kinder waren sie, und daß sie es nicht mehr sind, danken sie den Deutschen ganz allein. Ebenso wie das Land sind auch die Menschen ganz anders geworden. In einem waren die Polen den Deutschen überlegen: der Pferdeknecht, der sein Gespann führte, der Fornal, versteht nicht nur mit der langen Peitsche zu knallen, wie es kein anderer kann, sondern sorgt für seine Tiere und ist stolz auf die Leistung, die er mit ihnen erreicht. Diese hochgewachsenen strammen Jünglinge, die so gute Kavalleristen wurden, nahmen sich beim Erntefeste in ihrer schmucken Tracht ebenso stolz aus wie die Mädchen anmutig in der kleidsamen Festtracht, wenn sie das Erntelied sangen. Wie traurig, daß der Abend die wüsten Orgien brachte.

Von Aberglauben merkte man wenig, wie ja überhaupt die Unkenntnis der Sprache die Kenntnis des Volkes stark behinderte. Daß die weisen Frauen und Schäfer zauberten und die Krankheiten besprachen, verstand sich von selbst; von solchem Glauben waren und sind die Deutschen aller Stände ja auch nicht frei. Aber zwei bezeichnende Beispiele verdienen Erwähnung. Als alle Bewachung des Obstgartens nichts half, kam ein schlauer deutscher Gartenjunge auf einen erfolgreichen Einfall. Er verbreitete, daß er sich an einem bestimmten Kreuzweg, wo eine Kruschke neben Schlehengebüsch stand, dem Teufel verschworen hätte: der würde die Diebe nicht nur angeben, sondern selbst packen. Ein anderes. Mein jüngerer Bruder lag bald nach seiner Geburt im Starrkrampf, die Mutter saß am Bette. Da stürmte das Küchenmädchen herein, riß dem Kinde schweigend mit hastiger Gewalt das Hemdchen ab, lief vor das Dorf, wo am Eingang kürzlich ein hohes Kreuz geweiht war. Um dessen Stamm schlang sie das Linnen; es hat da noch lange geflattert. Das Kind genas: das äußerste Mittel hatte geholfen.

In das Herrenhaus kamen die Leute zweimal, Weihnachten zur Bescherung die Kinder, zum Teil mit den Müttern, allerdings wohl in Auswahl, und zu Fastnacht kam ein Trupp junger Männer mit den Dorfmusikanten und den drei Tieren, Bär, Storch und Ziegenbock; die beiden letzten waren nur irgendwie vermummt und hielten einen Stock, an dem oben ein Ziegenbockskopf und ein Vogelkopf mit langem Schnabel roh geschnitzt war. Die Hauptperson[36] war der Bär, dick in Erbsenstroh gewickelt, so daß er sich auf dem Boden herumtrudeln konnte, während die beiden anderen seltsame Sprünge machten, der Storchschnabel die Anwesenden piekte und der Geißbock, vom Bären gepackt, kläglich meckerte. Was sich die Leute dabei dachten, weiß ich leider nicht. Der Ziegenbock befremdet, denn Ziegen wurden nicht gehalten. Heute freilich weiß ich und durchschaut der Leser, daß dieser Volksbrauch über die christlichen Zeiten zurückweist. Englische Forscher haben Vergleichbares im Balkan und auf den vorliegenden Inseln, z.B. auf Skyros beobachtet und an thrakische Dionysien gedacht. Es ist mir nicht zweifelhaft, daß es gemeinsame slawische Frühlingsfeiern sind, von der Kirche an den Vorabend der großen Fasten verwiesen, wo auf altrömischem Boden der Karneval ähnlich entstanden ist.

Wer das Land und das Volk jetzt betrachtet, wird sich kaum vorstellen, daß es noch vor 50 Jahren so ganz anders war. Jetzt mag kaum noch ein Unterschied zwischen einem polnischen und einem deutschen Bauernhofe sein, auch der landwirtschaftliche Betrieb übereinstimmen. Natürlich hat sich dadurch das polnische Element überall gekräftigt, ist auch in den Städten ein Mittelstand aufgekommen. Noch in der Mitte der 70er Jahre ritt ich mit meinem Bruder durch ein nahes Dorf, in dem sich Bauern der beiden Nationen mischten. Damals schien die Zeit nahe, wo die Polen ihre Höfe durch Mißwirtschaft und Trunksucht verlieren würden. 25 Jahre später kamen wir desselben Weges, ich fragte nach und erhielt die Antwort: »Es ist ganz anders gekommen, die Polen wirtschaften so gut wie die Deutschen.« Wie man sich zu einer solchen Tatsache stellte, darin lag der Unterschied. Ein Chauvinist würde über die Zurückdrängung der Deutschen geklagt haben. Wir freuten uns, daß es auch diesen Preußen gut ging, die doch unsere Landsleute waren und deutsche Kultur angenommen hatten. Sie waren nicht mehr dieselben wie drüben in Rußland oder in Galizien, dem Lande, das sich ja in Wahrheit selbst regierte, das heißt so regierte, wie es die Schlachta immer getrieben hatte. Die Hakatisten mußten eigentlich bedauern, daß man das Volk nicht in der Vertiertheit erhalten hatte, so wie sie zu Preußen gekommen waren. Aber dagegen hatten sie nichts, daß die Polen in das Heer eintraten, also der Ehre gewürdigt wurden, für König und Vaterland zu streiten und zu sterben. Sie haben sich in allen Kriegen wahrlich tapfer gehalten, und es war eine Freude zu sehen, wie gern sie schon nach 1866 ihre Kriegsmedaillen trugen. Für die richtige Behandlung war auch Dankbarkeit vorhanden. Noch im letzten Kriege haben alle Frauen ohne Ausnahme für ihre abwesenden Männer eine Glückwunschadresse an die Herrschaft von Markowitz[37] unterschrieben und ihr sogar ein Gemälde geschenkt, das Haus und Garten eines der Güter darstellt. Es ist die gröbste Unwahrheit, daß sich die Mehrheit der Landbevölkerung nach Erlösung aus dem preußischen Staate und nach der Herrschaft ihrer Schlachta und ihrer Advokaten gesehnt hätte, geschweige nach den Galiziern.

Die Juden waren 1772 auch ein Fremdvolk, ganz in sich abgeschlossen, rechtlos bis 1812. Flottwell erweiterte ihre Rechte, ließ sie Synagogengemeinden und eigene Schulen bilden, eröffnete auch den einzelnen den Weg zur Naturalisation, also zum vollen Bürgerrechte. Sie saßen nur in den Städten, und die Menge verlangte gar nicht aus dem Schmutz und der Enge heraus, wie sie bis 1873 in dem Judenviertel von Inowrazlaw herrschten, das Sibirien genannt ward. Erst die Cholera des Jahres führte zum Niederreißen der verseuchten Häuser, in denen oft mehrere Familien sich mit derselben Stube begnügt hatten. Und doch fühlten sich die elenden Schnorrer als Kinder des auserwählten Volkes, trugen mit Stolz das Joch eines in vielem sinnlos gewordenen Gesetzes, und ihre Lehrer dünkten sich im Besitze einer allem Fremden überlegenen Weisheit. Unleugbar stand hinter all dem Schmutze der Gegenwart die Erinnerung an eine alte Kultur, der Glaube an den Uradel des Volkes und eine Eschatologie, die es für alle Bedrückung und Erniedrigung entschädigen sollte. Religion und Rasse fielen zusammen. Eine Verschmelzung mit den anderen Völkern war unmöglich, solange dieser Sondergeist herrschte. Und doch mußten alle neben einander leben, weil sie ohne einander gar nicht leben konnten.

Ich kann nur berichten, wie sich das Verhältnis in meiner Kindheit darstellte. Da kamen die schmierigen Trödler in die Häuser, kamen immer wieder, sooft sie hinausgeworfen wurden, schwatzten den polnischen Mägden gegen Hasenfelle die roten Glasperlen auf, die in langen Schnüren ein beliebter Schmuck der Braut sind. Andere Kleinhändler hatten die Buden beim Ablaß inne, trotz aller Verachtung unentbehrlich. Auch in der Stadt waren die Kaufläden fast ausschließlich in jüdischen Händen und neben unlauteren waren auch sehr achtbare Kaufleute darunter. Auch wer lieber seine Einkäufe in Bromberg oder Berlin machte, war in vielem auf die nächste Stadt angewiesen; daß er teurer kaufen mußte, lag schon in den Verkehrsverhältnissen. Der wichtigste Großhandel in allem, Getreide, Vieh und Wolle lag ganz in jüdischen Händen, und da wiederholte es sich, daß Redlichkeit und Unredlichkeit anzutreffen war. Es gab seltsame »Usancen«; der Wollhändler rechnete 1C6 Pfund auf den Zentner u. dgl. und der Produzent mußte sich dem fügen und nur zu oft kam er in den Fall, auch den Geldverleiher in Anspruch[38] zu nehmen, schon wenn er auf seine Ware Vorzahlung nötig hatte. Da haben Wucherer unendlich viel Schaden gestiftet und gerechten Haß erzeugt, wenn sie den Bauern und den Rittergutsbesitzer um Haus und Hof brachten. So stiegen mit guten und mit verwerflichen Mitteln immer mehr Juden aus dem selbstgewählten Ghetto empor, schließlich doch durch Fleiß und Klugheit. Der Kaufmann pflegte, sobald er dazu die Mittel erworben hatte, seinen Platz einem Anfänger zu überlassen und selbst nach Berlin zu ziehen. Die wenigen, die ihr Geschäft zu Hause vom Vater auf den Sohn vererbten, pflegten nicht nur eine Elite zu sein, sondern sich auch allgemeine Achtung zu erwerben. Aber gesellschaftlicher Verkehr war ja ausgeschlossen, solange der Rassendünkel sich mit den Gojim nicht an einen Tisch setzte; es war seine Schuld, daß sich Rassendünkel auch auf der anderen Seite ausbildete. In einem Stücke war doch schon ein wichtiger Fortschritt erreicht. Zu Anfang waren die Juden unsicher, ob sie sich auf die polnische oder auf die deutsche Seite schlagen sollten; noch bei den ersten Wahlen zum Landtage soll es sich fühlbar gemacht haben. Aber immer mehr trieb sie schon der Vorteil auf die deutsche Seite, und so durfte man sie bald durchaus als deutsche Juden rechnen. Welcher Partei sie sich anschlossen, war demgegenüber Nebensache. Besonnene Politik hätte mit ihnen immer so rechnen müssen, wie es Flottwell getan hatte. Es blieb auch nicht aus, daß immer mehr Juden innerlich für die deutsche Kultur und das deutsche Wesen gewonnen wurden und die engen Bande der Thora lockerten oder lösten. Als die deutsche Schule an die Stelle der Synagogenschule trat, war hierfür der Boden bereitet, und den Schmutz Sibiriens räumte die Staatsgewalt weg. Zugang aus dem Osten war unterbunden. Dort blieb die alte Erstarrung, nicht ohne daß Entsittlichung sich zeigte; unsere Heere haben nach dieser Seite grauenvolle Erfahrungen gemacht, die nur von der deutschen Judenpresse weggelogen werden. Die Emanzipation zeugte dann dort die jüdischen Führer der Bolschewiki. Schuld an beidem trägt doch vor allem die Unterdrückung auf der einen Seite noch mehr als der Rassen- und Glaubenshochmut auf der anderen.

Ich will nur zwei Beispiele geben. Es verschlägt nichts, ob sich in meiner Erinnerung typische Züge auf den Namen Feibusch13 übertragen haben; die[39] Person ist gleichgültig. In meiner Jugend war er schon ein erfolgreicher Bewucherer der Bauern und fuhr in einem Einspänner herum. Mein Vater erzählte, er hätte den kleinen Bocher gekannt, der neben dem herrschaftlichen Wagen Rad schlug und Kupferdreier oder auch -vierer (die gab es noch) zugeworfen erhielt. Namentlich in einer Vorstadt von Inowrazlaw trieben das die Kinder regelmäßig; daß jüdische darunter waren, fiel auf. Mit den Jahren blühte das Wuchergeschäft, schließlich fiel ihm bei der Subhastation das Gut anheim, das einmal dem General Kolatschkowski gehört hatte. Der Einspänner blieb in Gebrauch, obwohl die Mittel für einen Viererzug gereicht hätten. Die alte Praxis war gewesen, auf den Gütern vom Inspektor hier ein Bündelchen Heu, dort einen Sack Hafer zu erbitten; es ging auf Kosten der Herrschaft, redlich war es nicht, aber der Unterhalt des Pferdchens ward so beschafft. Als nun der neue Herr auf sein Gut gefahren kam und die Besichtigung vorüber war, sagte er wieder zum Inspektor: »nicht wahr, Sie geben mir ein Säckchen Hafer fürs Pferdchen.« Daß er sich selbst bestehlen wollte, kam ihm nicht in den Sinn. Es war ihm noch eine andere Erfahrung beschieden: er verlegte seinen Wohnsitz auf sein Gut, denn es stand ja in den Judenzeitungen, daß die Gutsbesitzer in unerhörter Weise steuerlich bevorzugt wären. Da kamen zur Grundsteuer die Kreis- und Provinzialsteuern, der Wegebau und vor allem die Schullasten. Nach einem Jahre zog der enttäuschte Rittergutsbesitzer wieder in die Stadt und schlug das Gut möglichst rasch wieder los. Die Gutsleute atmeten auf.

Ein anderes Bild. Es kam vor, daß wir beiden Buben aus dem Garten gerufen wurden, reine weiße Hosen anziehen mußten (die hatten doch immer Grasflecke) und sonst gesäubert wurden: der Herr Michel Levy war bei unserer Mutter, und wir sollten einen artigen Knix machen. Der alte Herr legte Wert darauf; uns war sein Hörrohr sehr merkwürdig, aber er machte selbst noch einen stärkeren Eindruck als der immer freundliche Superintendent, und wir wußten, daß Mama auf seine Besuche größten Wert legte. Obgleich er ein strenger Jude war, nahm er ein Ei, etwas Salat, ein Glas Portwein wohl an. Später habe ich erfahren, daß er als Berater und als Warner kam, als Warner auch vor Juden, aus Hochachtung und uneigennütziger Hilfsbereitschaft der deutschen sorgenden Frau zuliebe. Ich bin einmal in sein Haus gekommen, als ich alt genug war, eine reiche Bibliothek anzustaunen[40] und etliche alte Münzen, auch antike, zu bewundern. So etwas sah ich zum ersten Male, der Eindruck war unverwischlich. Seine Familie gehörte zu den wenigen, die nicht fortzogen, sondern ganz in das Deutschtum aufgingen, und die freundschaftliche Verbindung hat sich durch den Wechsel der Generationen bis auf diesen Tag erhalten.

Ich brauche nicht zu sagen, daß es einen Antisemitismus, wie er sich später herausgebildet hat und auch von den Hakatisten vielfach geteilt ward, damals trotz allem Widerwillen gegen den physischen und moralischen Schmutz vieler Juden nicht gab, und daß er in unserem Hause und vollends bei mir nicht aufkommen konnte. Schwierig und nur in Generationen erreichbar war die Eindeutschung unserer jüdischen Landsleute gewiß, aber sie war im Gange und mußte erreicht werden. Treue Deutsche waren nicht wenige geworden; in der Wissenschaft, die ich zunächst übersehe, und die ihrem Wesen nach keine Rücksicht auf Herkunft oder Konfession nimmt, glänzen so manche Namen und wird der Friede weiter bestehen. Was von einem polternden, zum Rassenhaß ausgearteten Antisemitismus, was auch von jüdischer Seite gefehlt ist, will ich nicht hervorheben; zu bessern war auch da, und die Regierenden hatten manchmal Veranlassung, auf ihrer Hut zu sein. Jetzt ist alles verschoben, da die Novembermänner geradeso wie die Bolschewiki sich auf jenes glaubenlose, staatlose, gewissenlose Judentum stützten, dessen Presse längst unsere Brunnen vergiftete, und zu ihren Helfern die Ostjuden hereingerufen haben, die wir weder vertragen noch loswerden können. Wie das werden soll, in der Welt und bei uns, nur ein Prophet könnte es künden, und glauben würde ihm niemand.

1

Claus von Heydebreck: Markowitz, Beiträge zur Geschichte eines kujawischen Dorfes. 1917, Ostdeutsche Buchdruckerei und Verlagsanstalt A.-G. Posen.

2

A. E. Hölscher, Der Netzedistrikt. Königsberg 1793. S. 114.

3

In Möllendorf fehlte Wasser auf dem Hofe, und als der Brunnenmeister keinen Rat wußte, kam ein Zauberer mit der Wünschelrute, und ein Brunnen ward nach seiner Angabe gegraben; der Brunnenmeister aber lachte und sagte: »Wenn Sie's außerhalb des Hofes gewollt hätten, konnten Sie's näher haben, das seh' ich doch dem Boden an.« Man glaubt es auch jetzt zu sehen, aber nun war man einmal dem Zauberer gefolgt.

4

Einmal hatte sich ein zweijähriges Füllen ein Bein gebrochen, so daß es getötet werden mußte. Gerade waren Gäste geladen. Da ließ meine Mutter die Keulen braten und alle Anwesenden lobten den zarten Kalbsbraten übermäßig. Leider ward das Geheimnis verraten, denn nun wurde manchem übel. So stark ist das törichte Vorurteil geworden, wo doch unsere Ahnen ihren Göttern das Roß besonders gerne geopfert und mit ihnen verspeist haben. Der fremde Glau be hat es verboten, weil die Sitten der Völker des Südens und Ostens sich schon festgesetzt hatten, als die Indogermanen der ersten Völkerwanderung das bisher unbekannte Pferd mit sich brachten.

5

Bock 56 erhielt auf einer landschaftlichen Ausstellung einen Preis und zum Lohn einen Überzug über seine schöne Wolle mit rotgestickter Zahl. Es mutete mich heimisch an, als ich auf der Schule im Horaz las, daß die Tarentiner Schafe auch solche Kleider getragen hatten. Das war griechische Sitte, für Megara ist sie bezeugt, da wird sie in Milet auch gegolten haben, das die feinste Wolle für seine Webereien brauchte.

6

In ihrer Ratlosigkeit liefen die Frauen aus dem Dorfe wie immer zur gnädigen Frau. Trotz aller Gefahr der Ansteckung wurden sie nicht abgewiesen, obgleich ja überhaupt niemand Rat wußte. Als meine Mutter eines Morgens die Tür zu der Treppe öffnen wollte, um zu den Wartenden oder doch dem Gesinde hinunterzugehen, ging die Tür nur mit Gewalt auf. Es lag die Leiche eines Mädchens davor. Übrigens blieben wir alle verschont. Aber bei der letzten Epidemie 1873 lag das älteste Söhnchen meines Bruders schwer krank, während der Vater als Landrat mit einigen beherzten Leuten herumfuhr und die Toten begrub; es waren ganze Häuser ausgestorben, und die Nachbarn scheuten sich, sie zu betreten.

7

Der ganze Osten trank damals so gut wie ausschließlich französische Weine, weil der Transport zur See nach den Ostseehäfen billiger war als die Fracht über Land. Was sich Rheinwein nannte, war so abscheulich geschmiert, daß er mit dem sogenannten Bordeaux, der namentlich in Stettin billig zu haben war, auf einer Stufe stand, trinkbar nur für Kehlen, die auch im Weine den Schnaps suchten.

8

Nur eines. In Opalenitza war es wirklich zu einem Zusammenstoße der polnischen Menge mit der Polizei gekommen. Die Schuld trug der Distriktskommissar, der rücksichtslos in eine Prozession hineingefahren war, die ganz ordnungsgemäß ihre Straße zog, ich erinnere mich des kirchlichen Anlasses nicht mehr. Die tiefere Schuld lag daran, daß in solche Stellungen der polizeilichen Landesverwaltung, die Flottwell geschaffen hatte (anderswo gab es sie nicht) oft ungeeignete Elemente, z.B. früh aus dem Heere entfernte Offiziere, hineingeschoben wurden. Da erhob sich nun ein gewaltiges Geschrei gegen die Polen und den Erzbischof Stablewski, als ob der dafür gekonnt hätte. Ich habe ihn kennengelernt; er hatte wirklich nicht das Zeug zum Rädelsführer und Aufständler, war froh, seinen guten Ungarwein zu trinken und in Ruhe künstlerischen Neigungen zu folgen; die in Wahrheit gefährlichen Kreise und Personen waren ganz andere.

9

Preußische Jahrbücher 1877 »Die Provinz Posen und die neue Kreisordnung«. Als er als Oberpräsident den Abschied nahm, hat er dem Könige seine Grundsätze in einer Denkschrift niedergelegt, die ich nicht kenne, aber von sachkundigen Kennern rühmen gehört habe. Wenn die Geschichtsforschung sich einmal mit unseren Schicksalen befassen wird, mag sie Aufklärung geben und Anerkennung finden. Es sagt sich wohl schon jetzt mancher, daß er die richtige Einsicht hatte, aber er war zu weich, um den Widerstand der Bureaukraten zu überwinden, und zu vornehm, um der Hetze der Hakatisten mit den entsprechenden Mitteln zu begegnen.

10

In Markowitz war er oft, bezauberte durch seine Leutseligkeit, wies meine Mutter auf ein Paar hin, meinen älteren Bruder, der als Landrat Ehrendienst bei ihm hatte, und seine Nachbarin: die würden bald einig sein, und er melde sich zur Patenschaft bei dem ersten Sohne. So ist es gekommen und er ist den Meinen immer gnädig gewesen, die Kronprinzessin aber nicht. Ich habe ihn nie gesprochen. Zu jenem Besuchstage hätte ich kommen können, wenn ich zwei Tage vor den Ferien von der Schule entlassen worden wäre. Aber so etwas wies der Rektor unerbittlich ab. Vergünstigungen gab es in Pforte nicht. Uns tat es da mals sehr leid, und richtig war es doch. Freilich ein greller Gegensatz zu dem modernen Schlendrian.

11

Ein wundertätiges Marienbild, das früher hier verehrt ward, ist verschwunden.

12

Auf einem der Güter meines Bruders habe ich noch in diesem Jahrhundert erlebt, wie die Anschauung von Reinlichkeit in Russisch-Polen war. Ein Ukas der Regierung hatte verordnet, daß die von dort für die Rübenernte bezogenen Arbeiter gesondert wohnten (was sich von selbst verstand) und ein besonderes Abtrittshäuschen erhielten. Wir ritten hinüber, uns von der Ausführung des Ukas zu überzeugen. Es stand auch da, blank und sauber, aber unbetreten, unbetretbar durch den Zustand seiner Umgebung, und der Verwalter sagte, er hätte die Leute nicht hineinbringen können, die erklärten sie wären keine solchen Schweine, das schöne Häuschen zu verunreinigen. Also ...

13

Als ich Wellhausen von Feibusch erzählte, schlug er sein lautes Lachen an und erklärte den Namen: das ist Phöbus, also einer der vielen Namen von Sklaven aus der Spätzeit des römischen Reiches, vererbt aus Gallien, wo es eine starke orientalische Zuwanderung immer gegeben hat, Syrer, hellenisierte Kleinasiaten, die für die jüdische und christliche Propaganda empfänglich waren. Die Kirche war, solange es noch Bekenner des alten Glaubens gab, gegen die Juden milder, so daß sie sich dort vermehrten und später in den Osten vertrieben die nicht mehr verstandenen Namen mitführten, den Götternamen Phöbus und den Isidor, in dem die Isis doch unverkennbar ist.

Quelle:
Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Erinnerungen 1848–1914. Leipzig 1928, S. 11-41.
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