III.

[29] Da ich mit einem Bummelzüge fuhr, so wurde in Tangerhütte auch wirklich gehalten. Am frühen Vormittage entstieg ich dem Kupee und nahm im Wirtshaus, einem salopp aus Fachwerk errichteten Hause, das zugleich Bahn-, Post- und Telegraphengebäude war, ein Zimmer. Dank der Berliner Fürsorge und Beihilfe durch meine gütige Wirtin war alles da: Frack, Zylinder, Handschuhe! Dazu mein jugendliches Bewußtsein, so[29] ausgerüstet – dem Herrn entgegen. Draußen ließ ich meine Blicke links und rechts schweifen, nach Ost und West – umsonst – kein säulengetragener Tempel, kein springender Pegasus auf einem Dachfirst, wie ich, reiner Tor, es vorausgesetzt an einem Orte, wo Theater gespielt wird. Nichts als lange Fabrikwerkstätten. Nach langem, vergeblichem Umherirren langte ich endlich wieder tiefbetrübt bei meinem Gasthause an. Das Stubenmädchen, »eine gesunde Pflanze«, stand vor der Türe, und weidlich belustigt von meiner Erscheinung fragte sie mich mit behaglichem Spott: »Sagen Sie mal, Kleener, wat suchen Sie denn eigentlich?« – »Entschuldigen Sie, Fräulein, das Theatergebäude.« – »Det hab ich mich doch gleich gedacht: na, hören Sie, da hätten Sie sick den Schniepel (Frack) ersparen können und die Spaziergänge ins Dorf; der Zauber wird ja bei uns besorgt; jehen Sie man darin, da finden Sie die janze Blase beisammen.« Sie deutete nach einem Zimmer des Wirtshauses. Das war der erste Kaltwasserstrahl! Ich gab mir einen Ruck, klopfte und trat ein. Es war Probe. Aber die Bretter, die die Welt bedeuten, und die hier schlichtweg die der Wirtsstube waren, und deren Abgrenzung von dem übrigen Raum nur eine breite Holzleiste mit einigen Löchern für die Unschlittkerzen-Beleuchtung markierte, waren fast leer; alles gruppierte sich an einem runden Tisch um den Mächtigen, der Halbgötter straucheln, Buhlerinnen erröten, Despoten verstummen machen kann: um den Souffleur. Es gab eine Unterbrechung. Direktor P...., der mir entgegenkam, malträtierte grausam seine Lippen, um ein Lachen, ähnlich dem der strammen Minna vor der Wirtshaustüre, zu verbeißen. Aber auch eine lebhafte Freude, nur gedämpft durch die Würde des Amtes, zeigte sich in dem typischen Theaterschmierengesicht des Bühnenhalters, das noch lebhafte Spuren der gestrigen Kugellackschminke trug und die da sagte: Frack und[30] Zylinder: große, einzigartige Akquisition! Im Geiste sah er bereits meinen Frack, dieses Unikum hier, bei Aufführung eines modernen Stückes kommunizierend von Darsteller zu Darsteller wandern. Ich wurde meinen Kollegen vorgestellt. Der erste Held stak in seinen hohen, braunen Ritterstiefeln und hatte einen grellroten Schal genial um den Hals gewunden; seine Haare waren, damit er am Abend als Lockenkopf erscheine, in Papier-Papilloten gedreht; schwarze Striemen unter den Augen waren Zeugen des gestrigen Jaromir. Der Intrigant und Regisseur hatte Theaterschuhe mit abgetretenen Absätzen an den Füßen und hielt sich, aus Rücksicht für seine Wäsche, sehr zugeknöpft. Er schielte mit seinen zu schmal geschlitzten Augen mißtrauisch nach mir. Ein verwittertes, langes, abgemagertes Exemplar, mit so gekrümmtem Rücken wie ein Katzenbuckel, leeren, verglasten Augen, aus denen verkanntes Genie und gebranntes Wasser redeten, war in einen Havelock gehüllt und ganz Pathos in Miene und Bewegung. Eine großartige, tremolierende Geste seiner Rechten begrüßte herablassend den Anfänger. Ein kaum fünfzehnjähriges Mädchen, Tochter des Souffleurs, grüßte mich mit schalkischen, mutwillig-blitzenden Äuglein. Dann gab es noch zwei andere weibliche Wesen und – die Krone des Ensembles: die Frau Direktorin. Sie war, um münchnerisch zu reden, schon »bissl übertragen«; nicht minder ihr Negligé, dem man es zudem ansah, daß es viel zu lange nicht mehr auf die Bleiche gekommen war. Sie interessierte sich für aufstrebende Talente und warf mir einen feurigen Blick zu, den aber das strafende Auge ihres Gemahls sogleich parallsierté. Meine erste Rolle war der Apothekerbursche in »Anna-Liese«. Ich spielte zwar herzlich schlecht, denn der schüchterne Junge lag mir ganz und gar nicht, aber so sicher, daß mir keiner glauben wollte, ich hätte noch nie gespielt, nie einen Lehrer gehabt. Das Stück gefiel den Leuten in Tangerhütte[31] und ist ja heute noch in der Provinz gerne gesehen. Man denke: ein veritabler Fürst heiratet ein bürgerliches Mädchen; wie wohl muß so was nicht dem Herzen der Frau Bäckermeisterin tun! – Darauf spielte ich gleichwertig den jungen Didier in der »Grille«, einem Schauspiel der Birch-Pfeiffer. Madame hatte es nach der hübschen Dorfgeschichte »Die kleine Fadette« der George Sand fabriziert, aber so viel Süßstoff dazu getan, daß es schmeckt wie verzuckerter Milchkaffee. Danach gab man mir eine ältere Rolle: den Papa in »Philippine Welser«. Ich spielte ihn um eine Nuance besser und – horch, was war das: o süße Musik, das erste Beifallsklatschen! Doch kein Wunder, denn der alte Kaufmann kanzelt ja den König und Kaiser ohne Gnade ab. Und wenn auf deutschen Bühnen ein Niederer einen Höheren ordentlich anschnauzt, so kann er seines Erfolges gewiß sein. Ob der Unterlehrer den Oberlehrer (wie in »Flachsmann als Erzieher«) oder – wie hier – ein Geschäftsinhaber Seine Majestät, den Herrn des Reiches, darauf kommt es wenig an. – Endlich spielte ich noch einen verschmähten Liebhaber in dem Rührstück »Die Lieder des Musikanten« von Rudolf Kneißl. Der Verfasser war selbst nichts anderes als ein Pommern und Brandenburg durchstreifender Theaterhäuptling. Wie sehr er aber den ambulanten Karren mit seinem phantastischen Lumpentum liebte, beweist, daß er ihm auch dann noch treu blieb, als er eine Berühmtheit à la Birch-Pfeiffer geworden war und an großen Bühnen zur Aufführung gelangte. – Direktor P.... schien kein Freund zu sein von rauschenden Verabschiedungen. Wenigstens in Tangerhütte verschmähte seine sein besaitete Natur Geräusch und Lärm der üblichen Schlußovationen; ohne Sang und Klang ging es fort – leise – ganz leise! Auch der Wirt ahnte nichts von seiner Abreise. Mich und noch zwei von der Bande ließ er gleichsam als Geisel oder[32] ahnungslose Versatz-Objekte für die nichtbezahlte Wirtshausrechnung zurück. Da wir aber wußten, daß sich der Meister nach Stendal gewandt, so folgten wir seinen Spuren und folgten ihm nach; gleichfalls leise, ganz leise ...

Auf dem mittelalterlichen Marktplatz zu Stendal steht ein uralter Roland-Koloß, der sehr burschikos dreinschaut und eine so verwegene Haube mit schneidigem Büschel auf hat, wie ein Wilddieb aus den bayerischen Bergen. Er ist am ganzen steinernen Leib bereits derartig zusammengeflickt, wie der Hosensitz eines Magistratsschreibers. Der ausgesprochene slawische Zug in seinem Gesicht zeugt uns, welche Völker um das elfte und zwölfte Jahrhundert die preußische Altmark bewohnten. – Direktor P.... war ein Kenner der Menschenseele, wenigstens der des spielwütenden Anfängers: als er mich in dem Vorstadtgarten ankommen sah, in welchem er mit Hilfe seines Hamlet und seiner Medea just dabei war, eine »Arena« zu errichten, lächelte er triumphierend: »Na, darauf hätte ick doch Jift jenommen! – so, nu' jreifen Sie aber och feste an, damit Sie morgen schon den Stendalern beweisen können, wat 'ne Harke is.« Im Schweiße meines Angesichtes half ich nun Bretter auf leere Bierfässer legen und eine Mauer von Latten und Schilf um diese armselige Sommerherberge der Musen zu ziehen. In demselben Wirtshause fanden auch mehrere von uns Unterkunft; der Held schlief auf einem Sofa, ich eine Etage tiefer in der Schublade des Möbels. Es sollte wöchentlich ausbezahlt werden, und zwar, um die Sonntagseinnahme abzuwarten, jeden Montag. An Gagetagen fehlte es demnach nicht; die Tage kamen auch – nur die Gage blieb aus! Zumal mir, wollte ich mich schüchtern nahen, rief der Direktor brutal zu: »Nanu, wat wollen Sie denn, seien Sie froh, daß ich einem so blutigen Anfänger Jelegenheit biete, sich an meinem Kunstinstitute auszubilden.« Als mir mein[33] Magen später gebot, etwas zäher zu fordern – wurde er mild und sang mir das Sirenenlied: »Jehn Sie man, Wohlmutheken, ick lasse Ihnen och nächstens den Franz Moor verzapfen.« – Ich war besiegt. Mit dem Tempelherrn im »Nathan« sagte ich: »Die Früchte sind ja reif« – und ging nach wie vor daran, die abgefallenen Äpfel und Birnen im Garten aufzulesen. Ein Gast sollte kommen, der Hamburger Gödemann, einst berühmt als »niedrig-komischer« Jude – aber von Stufe zu Stufe völlig gesunken. Direktor P. erzählte in den Wirtshäusern den Stendalern bei mancher »kühlen Blonden« (Weißbier) Wunder von dem Illustren, den er unter schier unerschwinglichen Opfern für Stendal gewonnen. Am Repertoire für Gödemann standen die Possen »Heiman Levy auf der Alm« und »Die Rekrutierung in Krähwinkel«. Der Direktor hatte die Bühne nach Möglichkeit in Verfassung gebracht. Der kleine, gedunsene Gödemann erschien zur Probe. Einige Couplets trug er noch mit Geschmack vor, sein Gedächtnis glich aber bereits einer zerrissenen Hosentasche, der nichts anzuvertrauen ist. Nach der Probe erbat sich die Kunstruine vom Direktor einen Vorschuß, der ihm auch in der Höhe von zwanzig Silbergroschen bewilligt wurde. Zum Unheil! Denn er versoff das Geld in »Destillationen«; scheute sich auch nicht, dem Wirtshauspöbel für Schnäpschen Couplets zum besten zu geben. Der Abend kam, die Vorstellung sollte beginnen – die Hauptperson fehlte. Direktor P., der schon seit einer Stunde vor dem Theatergarten angstvoll nach ihr aus schaute, lief endlich davon, um seinen Star aufzusuchen; fand ihn auch endlich – im Straßengraben. Staubbedeckt, fertig, Sand drauf! Verzweiflungsvoll kehrte er zu uns zurück. Die angekündigte Vorstellung konnte nicht gegeben werden. Dem Publikum aber das Geld zurückerstatten? »Da müßte ick mir ja selber anspucken«, sagt P. »Aber wat für ein Stück wäre im Augenblick[34] einzuwerfen, Kinder? – »Einzig »Lenore«, Direktor!« »Is recht, dann flink »Lenore«.« – »Nein, unmöglich, Direktor, die Titelrolle fehlt, die Frau Direktorin ist ja nicht zur Stelle.« – »Richtig, verflucht! in Tangermünde, Reklame zu machen für unseren morgigen Abstecher; wir opfern uns ja immer fürs Janze – das hab' ick davon! Herrjott, wat anfangen?« – Das blutjunge, allerliebste Töchterchen des Souffleurs, das P. gleichsam nur als Fußnote am Kontrakt mit ihrem Vater mitbekommen hatte, hüpfte lustig vor und sagte mit ausgelassenem Übermut: »Direktor, für ein Glas Grog spiele ich Ihnen die Lenore!« – »Schon gespielt?« – »Nee, aber das leuchtende Beispiel der Frau Direktorin« –, sagte in einem Ton, in dem sich verhaltenes Kichern barg, der Schalk, »das ich so oft bewundert ... und dann – – der Vater wird schon auf mich aufpassen –,« – »Abgemacht!« rief der gerettete Direktor und eilte, dem Publikum das vierzehnjährige Phänomen als Entschädigung für das siebzigjährige anzupreisen. Und wahrlich, es kam auf seine Rechnung! Denn die Kleine spielte mit einer Sicherheit, daß ein Enthusiast sich nicht enthalten konnte, laut zu rufen: »Und det is erst vierzehn Jahre alt, jroßartig!« – »Und die Gewohnheit nennt er seine Amme –.« P. fuhr fort, mir auch weiter nichts zu zahlen! Und so beschloß ich, ihn zu verlassen, und in Hamburg mein Glück zu versuchen. Für Gepäck war nicht viel zu entrichten; denn mein gesamter Besitz: zwei Hemden, zwei Westen und die paar Bücher, die ich von Hause mitgenommen, verknüpft durch einen Strick, brauchten nicht als Frachtstück aufgegeben zu werden. Selbstverständlich reiste ich vierter Klasse. Mein Nachbar, ein Handwerksbursche, sah meine verzärtelten Hände, ohne die Biederkeit der Arbeitsschwielen und – erriet: »Gelt, Schneider?« Ich erinnerte mich, wie Schneider schon »in goldenen Sporen geritten kamen« und ließ ihn bei seiner Überschätzung. In[35] der Republik angekommen, steckte ich die Hände in die leeren Hosentaschen und gaffte die Häuser an. Wie sollte ich nicht heiter sein! Der schöne Herbstabend und die neuen Eindrücke rundum! Lustig sprang ich dem Gasthause zu, das mir mein Reisegefährte empfohlen hatte; ich gab mein Gepäck ab und spornstreichs ins Thaliatheater. Direktor Maurice gab mir eigenhändig ein Freibillett. Es wurde »Der geheime Agent« von Hackländer gegeben. Der ausgezeichnete Marr, Goethes erster Mephisto, spielte einen Diplomaten der alten Schule mit vieler Feinheit; sein derberer Gegenspieler war Görner. Nach der Vorstellung in mein Gasthaus zurückgekehrt, war ich nicht wenig erstaunt, in einem Raum neben der Eßstube predigen zu hören. Das rundliche, blondgescheitelte Männlein, das auf einer Erhöhung stand und salbaderte, sah aus wie, nach Wilhelm Busch, Jobs auf der Kanzel. Er engagierte sich für eine vom lieben Gott ausschließlich patentierte christliche Sekte. Das ganze frömmelnde Arme-Leute-Milieu hatte etwas so Abgestandenes wie eine Stube mit kaltem Tabaksrauch. Als dazu die andächtigen Jünglinge ein lauwarmes Gesinge anhuben, ergriff ich eiligst die Flucht unter meine Bettdecke. Frühmorgens, wie ich ausgehen will, verstellt mir mein Wirt den Weg: »Nee, min Jung, hier is de Bruk, erst Betolung.« Ich zuckte die Achseln: »Habe nichts!« – »Wat sagst Du, wat?« kreischte der kleine, breite Kerl und wurde rot und zornig. Seine Frau wollte ihn beruhigen, aber er eiferte: »Ick wette, dat det Kerlchen nich mal Snider is.« – »Ach, doch, Vadding«, beschwichtigte ihn seine in Wirklichkeit bessere Hälfte. »Die Wahrheit ist Gottes Spiegel« lehrt der Talmud – und, weil ich zudem weiter keine Sünde darin sah, Meister Böcks Kollege nicht zu sein, so gestand ich es freimütig. Jetzt zersprengte es das Männlein schier: »Warum kommst Du dann in eine Sniderherberge?« Ich witterte Morgenluft![36] Das hatte mit seinem Rate der in der vierten Wagenklasse getan. Darauf griff der Herbergsvater verächtlich nach meinem Päckchen mit Shakespeare und der geliebten Dramaturgie und sagte »Wat soll mir nun der Quark?!« Dem ungeachtet behielt er meinen mageren Besitz und gab mir die Weisung, nicht eher zu erscheinen, als bis ich zu zahlen imstande wäre. – Der Abend kam, und ich war ohne Zimmer. Die Worte des Narren im »Lear« verließen mich nicht: »Wer ein Haus hat, seinen Kopf hineinzustecken, der hat einen guten Kopfputz.« Aber trotz alledem, ich ging doch wieder ins Thaliatheater. Die Schneeberger (die spätere Frau Hartmann des Burgtheaters) spielte entzückend in einem Stück von Görner und glich einer lieblich-gaukelnden Libelle. Nach der Vorstellung irrte ich einige Stunden planlos umher und setzte mich dann in der Nähe des Alsterbassins auf eine Bank. Ich war tieftraurig, völlig ratlos und fror kläglich. Ich hatte viel Mitleid mit mir selbst – aber nicht einen Augenblick verdammte ich meinen Entschluß, Schauspieler geworden zu sein. Endlose Nacht! Und wenn der Tag hellt, wird sich darum mein Schicksal erhellen? Sieben Uhr! Seelisch und körperlich zermürbt, entschloß ich mich zu einem Sturm auf das Herz meines Herbergvaters. Doch »dieser Republikaner blieb starr wie Eis«! Traurig senkte ich den Kopf und ging. Als ich indes schon wieder die Treppe hinabstieg, winkte mir seine Gattin in eine Nebenstube, riegelte zu und gab mir einen Topf heißen Kaffee. Ich sog gierig wie eine verstaubte Musikantenkehle und küßte meiner Wohltäterin dankbar gerührt die Hände. – Ein Theateragent auf St. Pauli bot mir einen Kontrakt für jugendliche Liebhaber nach Neumünster (Holstein). Doch gleich seinem Berliner Kollegen verlangte er bares Geld: einen ganzen harten Taler und bereitete mir dadurch Tantalusqualen. Eine rätselhafte, soll ich sagen, perverse Anhänglichkeit[37] zog mich zu dem Bänkchen, auf dem ich die traurige Nacht zugebracht. Ein zartes Männlein mit weißem Bart in einem langen, schwarzen, tadellos gebürsteten Rock, setzte sich zu mir und brach eine Gelegenheit vom Zaun, ein Gespräch mit mir anzuknüpfen. Alsbald war ihm meine ganze Lage bekannt, ja, fast glaube ich, er hatte sie schon bei meinem Anblick erraten und sich nur deshalb zu mir gesellt. »Junger Herr,« sagte er, »es gibt bei uns Leute, die sich für junge Künstler interessieren; erwarten Sie mich, ich bin bald zurück.« Er verließ mich, verschwand in ein großes Haus – kam wieder heraus –, es folgte ein zweites – er bog um die Ecke. Es war keine Stunde vergangen, so sah ich ihn von weitem wiederkehren. Er wickelte etwas in ein Kuvert, das er aus seiner Brusttasche gezogen hatte, kam zur Bank und reichte es mir. »Hier, junger Herr, und Gottes Segen mit Ihnen« – damit entfloh er so flink, wie ich es seinen alten Beinen nicht zugetraut. Ich öffnete. Hurra, Geld! In großen und kleinen Münzen gegen dreizehn Taler. Der Alte hatte für mich »geschnorrt«. Täfelchen an alten Häusern künden uns rühmend: hier lebte und wirkte der und der Ausgezeichnete. Etwas ähnliches möchte ich vollführen, indem ich die Adresse auf dem Kuvert des gütigen Greises reproduziere: »Herrn Oberlehrer Nathan Zelle, Hamburg«. – Eine Stunde später besaß ich meinen Kontrakt nach Neumünster im funkelnagelneuen Preußen. Das erste, was ich, dort angekommen, zu tun hatte, war: mich sterblich in die »Muntere« (es war immer die Muntere) zu verlieben. Ich debütierte als Don Eugenio in »Preziosa«. Und weil ich mich bei der Probe nicht mit Grandezza aufrecht hielt, mahnte sie: So halten Sie sich doch gerade, Sie dummer Junge. Dieser »dumme Junge« drang mir tief ins Herz – ich sah sie dankbar gerührt an. Weiß nicht, was mich an ihrem »dummer Junge« so beglückte? Ich schlief mit ihm ein und wachte mit[38] ihm auf. Ich machte ihr täglich Fensterpromenaden und hatte Gelegenheit, täglich auf einen andern österreichischen Offizier eifersüchtig zu sein. Kein Wunder: es ist bekannt, daß die Habsburger Monarchie zum gemeinsamen Angriff mit Preußen gegen Dänemark sorgfältig die bildschönsten Leutnants ausgewählt hatte. Während nun Preußen die Düppler Schanzen brach, nahmen die schmucken Herren vom Donaustrand die weiblichen Herzen in Holstein im Sturm. Da ich mich für jugendliche Liebhaber ganz und gar nicht eignete, so war ich für Neumünster in wenigen Wochen erledigt. Es ging nach Berlin. Wo und wovon ich dort lebte – weiß Gott! Aber es geht alles, wenn man jung ist. Eine Handvoll Zwetschgen als Mittagessen – auch gut. Durste ich mich doch jetzt Mime nennen, und das war die Hauptsache! Eines Tages, da ich vor dem Museum die Amazone von Kiß aufmerksam betrachtete, – was ist das? – mehrere Stimmen rufen meinen Namen. Ich wende mich rasch und erblicke – die Stendaler Bande. Die bekannten, jugendlich-frohen Gesichter drangen wie gute Gedanken in meine Seele. »Du mußt mit! – Wir berappen die Reise – haben nur einen Ausflug nach Berlin gemacht. Wir spielen in Werder bei Potsdam – komm!« rief das übermütige Völkchen durcheinander. Der kleine, charmante Vorwitz hing an meinem Arm, zu Hause war nichts zu holen, so ging ich auf dem Fleck mit. Das Städtchen Werder liegt auf einer Havelinsel; eine Fähre trug uns übers Wasser. Wir hatten uns verspätet, und Direktor P. wartete bereits am jenseitigen Ufer und räsonierte, da der Nachen anstieß: »Gewissenlose Mitglieder, ihr ruiniert mich; ich soll pünktlich die Gage zahlen (Wer lacht da?), und ihr verpraßt sie in Berlin.« Er beruhigte sich bald, freute sich, mich unter den Ankömmlingen zu erblicken, und drückte mir sogar – hört und staunt! – einen Taler in die Hand. »Aber nu' schnell, die Kartoffelbauern warten schon.«[39] – »Was spielen wir, Direktor?!« »Ejal, – wartet, Wohlmuth hier – den »Verschwender«. Nu' aber macht fix.« – »Sind denn die Verschwenderzettel ausgetragen, Herr Direktor?« fragte ich. – »Jawoll, der is och darunter.« Die Kollegen lachten: sie wußten, daß P. in solchen Dingen kein Engherziger war. Denkend wie sein Kollege im »Faust«-Vorspiel: »Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen«, ließ er in die Häuser tragen, was just an Zetteln vorrätig. Jeder konnte bei ihm haben, was ihm Spaß gemacht hätte. Auf einem Zettel erschienen »Die Räuber« angekündigt, auf einem andern »Pechschulze«, auf diesem »Kabale und Liebe«, auf jenem »Lumpazivagabundus« oder »Don Carlos« usw. Und die Darsteller, die auf diesen Anzeigen prangten! Direktor zu Werder, fast meine ich, du warst nicht nur ein großer Erfindergeist, sondern auch ein kleiner Schalk! Da las man: Herr Helfaus, von Reinfall, Luft usw. Daneben die stolzesten der Bühnenwelt: Seidelmann, Devrient, Rachel. – In der schmalen Kegelbahn, die uns als Garderobe diente, vollzog sich unsere Umwandlung so flink, als ging's auf den Maskenball. Der Direktor, der den Diener des Verschwenders Flottwell, den treuen Valentin, spielte, stak im Nu in semer Livree. Plötzlich tauchte seine Gemahlin, draußen auf einer Leiter stehend, im Fenster so spontan auf, wie Figuren auf Lichtbildern. Hastig und mit gedämpfter Stimme rief sie: »Der Mann wartet, wat soll ick austrommeln lassen?« Der Direktor halblaut: »den Verschwender! Wohlmuth aus Berlin als Gast in seiner berühmten Rolle als Kammerdiener Wolf. Nicht zu vergessen, Zauberposse mit Gesang!« Freilich wurde bei P. der Zauber ohne Dekorationen und der Gesang ohne Musik besorgt. »Is was zugekommen?« fügte der Bühnenleiter noch eilig bei. »Es jeht!« replizierte seine Gattin und war auch schon nach unten verschwunden wie durch eine Bühnenversenkung. Zwar hatte[40] auch sie zu spielen und als Fee Cheristane im Wolkenäther zu erscheinen, doch war es immer so eingerichtet, daß eine der beiden Direktionshälften in der ersten Szene unbeschäftigt blieb, um an der Kasse sitzen zu können. Direktor P. steckte wie bei allen seinen Rollen Mittel- und Zeigefinger in ein Schächtelchen mit roter Schminke, färbte mit einem kühn virtuosen Strich seine beiden Wangen, zog seinen Straßenüberzieher über die Valentin-Livree, stülpte den Rockkragen hoch und folgte seiner Frau durchs Fenster, um Kassenschluß zu machen. – Doch waltete über meinem Debütabend kein glücklicher Stern. In der Gesellschaftsszene des zweiten Aktes soll, durch einen Wortwechsel gereizt, ein junger Kavalier (der Bräutigam des von Flottwell heimlich geliebten Mädchens) seinen Gastfreund und Nebenbuhler zum Duell fordern. Bei dem Mangel an Personal mußte bei P. der liebenswürdige Franzose und harmlose Naturfreund Chevalier Dumont die Ausforderung übernehmen. Der Darsteller dieser Rolle war, was seine Räusche anbelangt, ein Uhrwerk: zuverlässig tags benebelt, abends nüchtern. Heute aber war er schlecht aufgezogen und schwankte beim Bühnenlicht. Weil Dumont unaufhörlich die Natur zu bewundern hat, so unterstrich der Künstler diesen Zug seiner Rolle und klammerte sich krampfhaft ans Fenster, das leicht angebohrt vorne stand. Die Ausforderung kommt – aber der Naturfreund schaut zum Fenster hinaus. Direktor P. in seiner Dienerlivree auf der Szene gerät in Schweiß, nähert sich dem Chevalier und flüstert wütend: »Fordern Sie aus, Sie betrunkenes ...« Hier nannte er ein antimosaisches Tierchen. Frommer Wunsch! Der Naturfreund, froh, sich an etwas klammern zu können, blickt durch bläulich gestrichene Leinwandscheiben auf Flur und Au. Die Pause wird beängstigend. P. souffliert mit heißem Atem: »Ausfordern, Mensch, oder Sie sind augenblicklich entlassen.« Aber Deutschland[41] weiß es ja von seinem Kanzler: Not kennt kein Gebot. Der Chevalier hält am Fenster fest; nur ein rührender Blick sagt dem grausamen Meister: »Ach, könnte ich!« Verzweiflungsvoll blickt P. mich an, ob ich, der Kammerdiener, nicht vielleicht ausfordern möchte? Ich schüttle verneinend! Da – ein Wetterleuchten über dem Antlitz meines genialen Brotgebers. Man sieht's, sein Gehirn kreist, einen verwegenen Gedanken zu gebären; er stürzt vor und – ha, Mut in der Seele eines Lakaien! und ruft höchstselbst: »Herr von Flottwell, das geht zu weit, wir schlagen uns!« Das ging nun dem Darsteller des Flottwell denn doch über den Spaß; er riß Mund und Augen auf, gaffte seinen Diener und Gebieter einen Augenblick verdutzt an und mit einem gedämpften: »Sie Ochse!« verschwand er von der Bühne. Betroffen, meinend, es gelte ihm, wendet sich der Naturschwärmer am Fenster, verliert das Gleichgewicht und bedeckt im Fall einen Teil der Bühne. Das Fenster aber, das er in Treue auch jetzt nicht läßt, folgt ihm und deckt seine Schmach. Nach diesem Knalleffekt fiel der Vorhang. Das Athen im Havelsee hielt alles für Absicht und applaudierte entzückt. Direktor P. aber rieb sich vergnügt die Hände und sagte: »Kinder, det Stück jefällt!« Noch wenige Vorstellungen und P. zog mit seiner Kunstkarawane weiter durch den märkischen Sand. Nach Werder wurde Beelitz unserer Kunst überantwortet. Wir erhielten Weisung, unsere Koffer, Körbe, Schachteln zum Direktor zu senden, der den Transport der Effekten zu besorgen hatte. Auch bei diesem Anlaß zeigte sich der originelle Geist dieses merkwürdigen Mannes; das Versetzen lag ihm im Blut. Nachdem er uns auf einen Leiterwagen geladen und expediert hatte, verpfändete er, um von Werder loszukommen, unser Hab und Gut, dieweil er seine Habseligkeiten (Barnum, Strußberg und all ihr Fürsten im Reiche des Schwindels, was seid ihr für Pygmäen!) in Stille bereits vorausgeschickt[42] hatte. – Der Stammtisch der Kneipe neben dem Theatersaal in Beelitz ähnelte am Abend unserer Ankunft einem närrischen Quodlibet, von einem übermütigen Spaßmacher in weinseliger Laune erfunden. Das Komödiantenoölkchen hatte sich nämlich, einer Einladung folgend, zur Honoration des Städtchens gesellt: Der Herr Bürgermeister, steif wie seine überlebensgroßen Vatermörder, ehrte das Direktionspaar, das ihn sterbend in Devotion flankierte, durch herablassendes Schmunzeln. Neben der tiefroten Bardolphnase des Beelitzer Ochsenmörders erschien unsere Luise blaß auch ohne Schminke. An der Seite unseres vierzehnjährigen Genies mit dem blonden Lockenköpfchen vermochte die fadenscheinige, wie von Motten benagte, nachlässig sitzende Perücke des Polizeigewaltigen nur schlecht zu täuschen. Nachdem uns die Beelitzer Würdenträger mit Schnäpschen und kühlen Blonden reichlich regaliert hatten, steuerten sie mit der Polizeistunde ihren Ehebetten zu, schnurgerade wie der Esel zu seiner Krippe. Darauf bekam das weibliche Personal ein abgesondertes Zimmer, für das männliche wurde Stroh im Theatersaal aufgeschüttet, einem alten Freund der Musensöhne, auf dem sich's prächtig träumen ließ von schönen, großen Rollen. Das Theater war sehr schmal und die Möglichkeit, die Garderobe hinter die Kulissen zu verlegen, ausgeschlossen. Ein glücklicher Zufall half! Der Ziegenstall, der an die Bühnenseite grenzte, wurde, indem man die rechtmäßigen Insassen umquartierte, zu unserm Ankleidezimmer gewandelt. P. tat ein übriges und ließ den Neueinziehenden frisches Stroh streuen. Die Eröffnungsvorstellung war das rührende, echt märkische Volksschauspiel »Lenore« von Holtei. Ich spielte den preußischen Husarenleutnant Wilhelm, um den Lenore sich die rabenschwarzen Haare rauft. Hegel fertigt die Liebe mit der Bemerkung ab: »Sie ist die Kaprice auf die Eine«. Auf mich aber, bin ich überzeugt,[43] hätte sich kein menschliches Wesen kapriziert, wenn's nicht Vorschrift der Rolle gewesen wäre. Das Gesicht hatte ich mir in Ermangelung von Schminke und Puder mit Mehl angestrichen, das sich aber auf der von der Kälte geröteten Nase nicht heimisch fühlen wollte und schnöde abfiel. Statt der weißen Trikots hatte ich Beinkleider meines Chefs an, die, im Prinzip weiß, unter dem Regime seiner Gemahlin nie zur Entfaltung ihrer Unschuldsfarbe gelangten. Statt schneidiger Kavalleriestiefel staken meine Beine in abgesetzten hohen Schäften wie in Trichtern. Wie Don Quichote in einem Falstaffgewande sich verloren hätte, so ich in meiner viel zu weiten Husarenjacke. Viel zu groß war mir auch mein Tschako und gravitierte unaufhörlich abwärts zur Nase. Ein alter Riesensabul hing mir so salopp vom Leibe, daß er sich nicht selten von links nach rechts verirrte. Dergestalt angetan durchkroch ich das große viereckige Loch, das Stall und Bühne verband. P. hatte auch in Beelitz eigenhändig die Szene erbaut, und weil ein Podium fehlte, Bretter über »Böcke« gelegt und festgenagelt. Nur leider, die Zeit war knapp, nicht alle. Unglücklicherweise trat ich, just als ich auf die Szene sollte, auf eines der nicht festgenagelten Bretter, das sich durch meine Last hinter den Kulissen auf der Bühne hoch aufbäumte, dieweil es mich hinten unwillig an die frisch geweißte Wand warf. Die Beelitzer hatten ihr Geld nicht umsonst ausgegeben und amüsierten sich königlich. Meinem Papa, dem stolzen Herrn Baron, der auf der Bühne stand, riefen sie munter zu: »Oller Junge, Boden flicken lassen!« Hohnlachen war also mein Auftakt. Ich begann loszulegen und von meiner Lenore zu schwärmen. Die Heiterkeit hielt nicht nur an, im Gegenteil, sie schien noch allgemeiner zu werden. Geschah's immer noch, weil die Welt der Bretter aus den Fugen war? Nein, das ging mich an, ganz ohne Zweifel, mich. »Alle Teufel,« denke ich, »ist vielleicht dem jungen Kriegshelden etwas[44] an seinem Kostüm in Unordnung geraten?« Ich wende mich, um visitieren zu können, und reize durch die weiße Farbe meines Rückens, die ich der Kalkwand von vorhin verdanke, noch mehr die Lachmuskeln der Zuschauer. Nein, nein, alles hermetisch ... Aber – o Lumpenkomödianten! – was entdecke ich? In meinen Stiefelschäften zwei hohe Strohhalme, die, so wie ich schritt, ihre leichten Köpfchen wiegten und wie verständnisinnig ins Publikum nickten und grüßten. Ich riß die Zeugen des Humors meiner Kollegen und unserer Garderobe aus den Stulpen und schwärmte weiter von meiner geliebten Pfarrerstochter. Wenige Wochen nach dieser glanzvollen Aufführung verließ ich Beelitz, und zwar in der normalsten Weise – d.h. ich ging durch.

In Verden, der uralten Welfenstadt, war der Theatersaal geräumig, die Truppe um ein Bescheidenes besser. Ich spielte trotz meines Knabenalters den Stauffacher, den Heldenvater in dem Schicksalsdrama »Die Schuld« von Müllner, den Waffenschmied Friedeborn in »Käthchen von Heilbronn«. – Die Muntere in Verden nahm mich um eine Nüance ernster als die zu Neumünster. Es war so recht eine weibliche Theaterbude, das Stübchen, in dem sie hauste, und nur ein Philister hätte die Nase rümpfen können beim Charme dieser liebenswürdigen Unordnung. Hier stand die offene Schminkschatulle auf dem Theaterkorb, dort lagen Rokokoschuhe oder Spitzenhäubchen puderbestaubt; auf Stühlen, Fensterbrettern Rollen, Schleifen, Nadelkissen, Strumpfbänder; – in einer Ecke aber hatte ich mich eingenistet, büffelte meine Rollen und las meiner Freundin, dieweil sie sich ihre Kostüme für den Abend zurechtschneiderte, nähte und richtete, die ihren vor. Das Gedächtnis der Frauen – ich habe die Erfahrung – ist ein viel flinkeres als das des männlichen Geschlechts. Das meiner Munteren war schier unheimlich: der dickste Part, wenn ich ihr ihn zweimal vorlas – »saß«! Es war,[45] als ob sich die Worte in ihrem Gehirn abphotographierten. Auch sonst machte ich mich bei ihr nützlich, wie ich konnte: besorgte ihr hundert kleine Kommissionen, die bei Schauspielerinnen nie ausgehen, und trug ihr tägliches Liebesbriefchen an ihren Bräutigam in Königsberg zur Post – und zwar ohne die geringste Eifersucht. Dafür bemutterte mich die Kleine, strickte mir hohe, schwarze Franz-Moor-Strümpfe und häkelte mir einen breiten Ritterkragen. – Ostern kam, die Saison war zu Ende. Ein Winkelagent schickte mich nach Arnswalde (Pommern), wo ich jedoch nur kurze Zeit verblieb. Ich fuhr nach Stettin, wo es mir so traurig ging, daß wiederholt eine Wiese hinter der Stadt mein Nachtlager war; aber es war warmer Juni, und die Gastgeberin forderte, so wie der schattige Zweig in dem wunderlieblichen Uhlandschen Gedicht »Der Apfelbaum«, keine Zahlung von mir. Ich erfuhr von einer Lücke im Personal in Pasewalk und wandte mich dahin. Aber wehe, auf dem Wege zum Direktor, just am Marktplatz, sprang über dem Spann meines linken Fußes radikal von einer Seite zur andern – es klang wie ein kurzer, dumpfer Aufschrei! – das Leder meines Stiefels. Ich hinkte ins Wirtshaus zurück, suchte meine schwarzen Theaterstrümpfe von lieber Hand hervor, drückte sie erst an meine Lippen und zog sie dann über die blamierten Füße, schlupfte in meine Franz-Moor-Schuhe und so ausgerüstet dem Bühnengewaltigen Pasewalks entgegen! Dieser aber überschaute mit einem Blick meine ganze klägliche Lage und riet mir, mein Glück in Prenzlau zu versuchen. Aber auch da wollte man den armen dramatischen Wanderburschen nicht einstellen. Darauf versuchte ich es in Neustadt-Eberswalde. Umsonst! Die Truppe hatte das Städtchen vor kurzem verlassen. Das viele Gehen, die frische Luft, die jungen Jahre – und mehr als vierundzwanzig Stunden nicht einen Bissen! Ich war hungrig wie ein Wolf der[46] Steppe und fühlte mich dazu tief beschämt. Trotzig sah ich vor mich hin und grollte: Fechten oder sich ersäufen! Mit gesenktem Kopf durchzog ich das Städtchen. Vor einem der besten Häuser blieb ich stehen ... nein, nein – unmöglich: – weiter! Am Ende des Städtchens hielt ich, lehnte mich an einen Wegweiser, schloß die Augen und sann –. Ich sah die Wagschalen vor mir und wog ab. Mein ganzes kurzes Leben zog in schattenhaften Bildern an mir vorüber. Am deutlichsten sah ich die bekümmerten Gesichter meiner Eltern und Geschwister. Auch Gestalten der Bettler, die ich zu Hause beschenken durfte, tauchten vor mir auf. Ach, und all die schönen Rollen, die ich noch zu spielen hoffte! Dummes Zeug, zurück ins Städtchen! Jagos Wort: »Ersäuf' Katzen und junge Hunde« hielt mich gefangen wie der Refrain eines Gassenhauers. An einem Hause der Hauptstraße, mit einem Schnittwarengeschäft, hielt ich – schrecklicher Entschluß! – Da kam etwas Unerwartetes: eine Art Lustigkeit sprang plötzlich auf in mir, ein Übermut, der alle ideale Blödigkeit für einen Augenblick zur Seite schob. Jaja, er ist keine Fabel, der Galgenhumor! Er stupfte und schupfte mich die Steintreppe empor zur offenen Ladentür: sei kein Narr! Ein Moment des Schwindels, und ich trat ein. »Was wünschen Sie?«, fragte mich eine junge Frau, die am Ladentische stand. Alles Blut, das in mir war, stieg mir in den Kopf, und verwirrt stotterte ich: »Sie verzeihen, wohnt hier der Theaterdirektor?« Dabei traten mir Tränen, groß wie Wassertropfen bei einem Platzregen, in die Augen.

»Hier hält sich ja gegenwärtig keine Truppe auf.« »Ich danke«, brachte ich hervor, mich nach der Türe zurückziehend. – »Oder doch,« sagte die Frau, »jetzt besinne ich mich; warten Sie, ich schreibe Ihnen die Adresse auf.« – Nach wenigen Augenblicken legte sie ein Papier in meine Hand, das zwar nicht die[47] Adresse eines Theaterdirektors, wohl aber eine an alle Welt enthielt: Geld. – Ich merkte mir Hausnummer und Firma, und wenige Monate darnach erhielt die Schnittwarenhandlung von einem Anonymus einen kleinen Betrag in Briefmarken zugeschickt. – Nach Neustadt beschloß ich in Angermünde mein Heil zu versuchen. Verlorene Liebesmüh auch hier! Man empfahl mir Freienwalde. Ohne Rast dorthin! Aber »wenn das Unglück kommt, so kommt es in Geschwadern«! Kaum eine halbe Stunde hinter Angermünde fing es heftig zu regnen an, was für meine dramatische Fußbekleidung eine förmliche Auflösung bedeutete. Jeder zur Beschotterung der Landstraße aufgeschichtete Steinhaufen war mir eine willkommene Oase. Plötzlich, da ich gerade wieder, behende wie eine junge Katze, über so ein steinernes Gebirge voltigiere, rief mir ein Angermünde zueilender Bürgersmann zu: »Sie woll'n wohl wachsen und jedeihen, weil Sie bei die Nässe auswandern? Kommen Se man zurück, und warten Sie in einer Schenke ab, bis die Schleusen sich jelegt.« Ich hielt und machte eine verlegene Miene. Der Psychologe erriet und sagte gutmütig: »Na, kommen Se man, ick zahle.« Diese Zauberformel brachte mich im Nu an seine Seite. Wir kehrten in der ersten Wirtschaft ein, und da mir mein Gönner die Wahl des Getränkes freistellte, so erbat ich mir den lang entbehrten Kaffee. Am runden Stammtisch bei ihm durfte ich freilich nicht Platz nehmen – um so ungenierter verschlang ich an einem andern abseits eine Unzahl Semmeln zu der Brühe, die von den drei Bedingungen, welche Voltaire an den Begriff Kaffee gestellt haben soll: »schwarz wie die Nacht, süß wie die Liebe, heiß wie die Hölle«, wenigstens die letztere erfüllte. Bevor der biedere Märker sich entfernte, schob er mir noch zwei Zweieinhalb-Groschenstücke, taktvoll in ein Papier gewickelt, zu. Die Wirtin sah's, und da ich mich zur Weiterwanderung erhob, sagte sie: »Nu[48] jeben Sie der Minna wenigstens en Trinkgeld, Männeken, nachdem Sie hier jenassauert haben.« »Gerne!« log ich und gab der pausbackigen Kellnerin, die sich an meiner Seite ausnahm wie auf Heiligenbildern blasende Posaunenengel neben einem Asketen, die Hälfte meines Vermögens, mit dem meine verwegene Phantasie bereits Luftschlösser gebaut. Kurz vor Freienwalde sah ich eine Gestalt sich hinkend fortschleppen, deren Anblick mich erschütterte. Was noch an Haut und Fleisch an diesem zerbrochenen Gerippe hing, war eine Wunde: zerrissene Füße, blutigrote Augenränder, Schwären überall. Das Ganze mitsamt den Fetzen am Leib in Schmutz getaucht. Vom Rücken schlampte dem Greis ein grober Sack mit zusammengebettelten Kartoffeln und Brotresten. Törichter Staat, der solch zertretenen Wurm auf die Straße läßt! Das kranke Alter, das nichts mehr erwerben kann, dessen sehnsüchtiger Traum ein bißchen Stroh in einem Stall für die heutige Nacht ist, ruft ihm zu: Ich klage an! Der Ärmste streckte mir bittend die Hand entgegen und – unnütz waren auch meine hochfliegenden Pläne mit der zweiten Münze! Psychologen mögen ergründen warum; aber ich fühlte mich mit eins wie erlöst, so leicht, als ob meine Seele Flügel bekommen hätte. Ich sprang weiter wie besoffen von Idealismus. Auch in Freienwalde fand ich kein Engagement. Aber durch Zufall einen Ruf nach Soldin, und ein Landfuhrmann lud mich im Auftrag des dortigen Bühnenleiters zum Torf auf seinen Leiterwagen, der da ist der Tespiskarren des uckermärkischen Sandes. In Soldin stellte ich mich dem Direktor nach altem Brauch der Schmiere im Theatergasthaus vor. Mein Chef fragte mich: »Haben Sie schon Logis?« – »Ich bin eben erst angekommen.« – Ein anwesender Gast erhob sich und bot mir unentgeltlich Logis an – es war einer von der Polizei. »Sie haben kein Unterkommen und wahrscheinlich keine Legitimation, kommen Sie mit!« –[49] »Bitte, hier ist mein Paß!« – »Hm, – aber er ist nicht richtig visiert, also –.« Dem Direktor nur, der die Garantie übernahm, daß meine Anwesenheit in Soldin Preußen nicht aus den Angeln heben würde, verdanke ich, daß der strebende Diener des Staates von mir abließ und zu seiner kühlen Blonden zurückkehrte. Direktor Struwe zog hier nur seine Gesellschaft zusammen, um an einem andern Platze sein Gerüst aufzuschlagen. Während unseres kurzen Aufenthaltes in Soldin spielten wir »auf Teilung«. Auf Teilung ließ Struwe mit Vorliebe an solchen Orten spielen, wo außer der Rollenverteilung selten was anderes zu verteilen übrigblieb: zweieinhalb bis drei Groschen für einen Ferdinand oder Wilhelm, für eine Stuart oder Lenore. Es war Brauch – auch einer von jenen, »wo der Bruch mehr ehret als der Brauch« –, daß wir selber das Städtchen durchzogen, um zu den Vorstellungen einzuladen. War's Mitleid, war's Enthusiasmus? Eine brave Bäckersfrau steckte mir einmal bei dieser Gelegenheit ein paar Semmeln in die Tasche – sie waren freilich altbacken. Keiner von uns, keiner im Ort erfuhr, wohin nach Soldin die Reise gehen sollte. Direktor Struwe, der sich selbst rühmte, »hell im Koppe« zu sein, folgte auch hier seiner altbewährten Praxis, durch falsche Gerüchte seine Gläubiger irrezuführen. Endlich kam Order: heute in später Nacht mit den Reisetaschen vors Tor. Hier erst harrte unser ein mit Dekorationen beladener Leiterwagen, nahm uns auf und rollte mit dem ganzen Künstlerballast hinaus auf die dunkle Landstraße. Erst als in Letschin, einem sehr großen, reichen Dorfe der Uckermark, der Wagen hielt, erfuhren wir, daß unser Bestimmungsort erreicht sei. Hier gingen die Geschäfte ausgezeichnet, und unser altes, kleines Direktionsfäßchen, mit einem Gesicht wie eine Butzenscheibe, schlappte im Garten, in dem die »Arena« errichtet war, in seinen gestickten Pantoffeln[50] vergnügt umher. Auch sonst befand er sich stets in so tiefem Negligé, daß sich der große, dunkle Knopf, der seine weite Nankinghose hielt, auf seinem Bauche markant abhob. Das Würdenhaupt des Direktors deckte ein breitkrempiger Strohhut, und typisch für ihn war die ewig belegte Butterstulle in seiner Rechten Struwe ließ mich eines Tages, da er, ein geborenes Finanzgenie, eben dabei war, seinen Mitgliedern die kürzlich bezahlte Gage wieder in Sechsundsechzig abzugewinnen, ins Wirtshaus kommen und machte mir, mit der einen Hand sein Wänstlein, mit der andern meine Backen streichelnd, den ehrenvollen Antrag, das Amt eines Requisiteurs inklusive Zettelbesorgung zu übernehmen – gegen fünf Silbergroschen Diäten pro Tag. »Die Requisiten mit Genie besorgen«, meinte er, »steht mir höher in der Kunst, als sämtliche Mööre in den Räubern spielen.« Ich schlug ein, klebte Zettel an und schleppte aus allen Ecken und Enden des Dorfes all den verrückten Kram zusammen, der für eine Vorstellung oft erforderlich und auf einem Fleck beisammen aussieht wie?ine Diebsbeute. Freilich war ich recht beliebt, und alle im Dorfe borgten mir, was ich im Namen der Kunst erbat; selbst der Herr Pastor einen schwarzen Rock für seinen Amtsbruder in »Lenore«. Ach, und erst seine Frau! Diese unsagbar gütige alte Dame! Nicht ohne Rührung kann ich an sie denken, die jeder so gerne mit dem russischen Liebeswort »Mütterchen« angeredet hätte. Was nur möglich, suchte sie im Hause für mich zusammen und erleichterte mir auf diese Weise mein beschwerliches Amt. Und wie oft, wenn ich, mit Flinten, Schaufeln usw. beladen, erhitzt über den weiten Dorfplatz lief, rief sie mir, am Zaun des Pfarrgartens stehend, zu: »Herr Wohlmuth, etwas Obst, Sie essen es ja so gerne.« Und damit gab sie mir eine Schüssel mit Äpfeln und Birnen, und jedesmal fanden sich in den Tiefen Zehngroschenstücke, auch halbe und ganze Taler. Die »Räuber«[51] kamen zur Aufführung, und um die böhmischen Wälder zu »wattieren«, sollten Hunde auf die Bühne. Doch, woher sie nehmen? »Ach was,« rief bei der Beratung Karl, »das ist Wohlmuths Sache: Hunde sind Requisiten.« Hatte er recht? Oder hört mit der Bewegung das Requisit auf? Die Rechtsbücher seit Moses schweigen sich aus darüber. Und so blieb mir, dem Franz Moor des Abends, nichts übrig, als im Dorf auf Hundefang auszugehen. Ein »Gutsbesitzer« (so ließen sich die reichen Bauern der Gegend gerne nennen), der just die Straße kam, war mir hilfreich und pumpte mir seinen großen Köter, Ulmer Rasse. Dieser Prachtkerl aber sollte meine Schmach rächen! Mehr Kunstverständnis als die Zuschauer beweisend, winselte und heulte er am Abend, übertönte Karls Organ und' geriet ihm einmal derartig zwischen die Beine, daß er den Helden beinah zu Fall brachte. Tags darauf stand das vierzigjährige Jubiläum des Direktors auf dem Spielplan. Schon seit einer Reihe von Jahren feierte Struwe diesen glorreichen Tag in allen Städtchen und Dörfern. Und warum auch nicht? Die Sache warf ihre 25–30 Taler ab und erforderte keine Regiespesen; denn die nötigen Requisiten: der bronzierte Lorbeerkranz auf einem Kissen, überzogen mit dem Samt einer abgelegten Pluderhose, die Adresse des Personals usw. waren längst dem Theaterfundus einverleibt. Die Ehre, in einer feierlichen Ansprache die seltenen Verdienste des Jubilars um die deutsche Kunst herauszustreichen, wurde mir zuteil. Präzise aufs Stichwort begann der erhabene Greis seine Tränen zu bekämpfen und seiner Rührung mühsam Herr zu werden. In Ermangelung anderer Jungfrauen überreichten darauf – natürlich alles coram publico – zwei meiner Kolleginnen dem wie überrascht Dastehenden den Kranz. Die Fettmassen seines Gesichtes zuckten wehmütig – es verschwamm! Kollege W.'s Part war's nunmehr, dem Gefeierten[52] den Kranz aufs Haupt zu setzen; er mußte wenigstens so tun, denn der Erschütterte lehnte mit der Würde, mit der Cäsar schon vor ihm den Kronreif zurückwies, den dargebotenen Schmuck ab, – stammelte sodann, die Ehrengabe in Händen, einige Worte des Dankes, verschwand von der Bühne, vertauschte de. Lorbeer mit einer belegten Butterstulle, und die Feierlichkeit hatte ihren Abschluß gefunden. Von Letschin ging Struwe nach Strausberg. Ich aber verließ ihn; mein Ehrgeiz trieb mich nach Seelow wo das klassische Repertoire, wie es hieß, sehr gepflegt wurde Ich ging zu Fuß und unterschied mich von anderen Handwerksburschen nur vermöge eines Zylinders, den mir ein Letschiner Schneider aus Kunstbegeisterung aufgebügelt hatte. Der Direktor in Seelow war eine stattliche Gestalt, in langem, überbequemem Gehrock; sein altes Gesicht mit den vielen schlappen Wulsten hatte den friedfertigsten Ausdruck. Er empfing mich mit größtem Wohlwollen. »Herrjemersch nee, ja,« rief er, »ich habe von Sie gehört, Sie sollen ja ä verfluchtes Dierchen sein: Sie spielen nicht alleene den Franz Moor, sondern besorgen auch schenial die Requisiten. Nu ja, da kann ich Sie meinem Institut einverleiben; denn ich pflege die Glassiger wie leen anderer. Mutter, bring uns ä paar herzstärkende Schnäpschen und etliche Butterbemmen! – Heut' muß die Maria Stuart dran glooben.« In welchem Staate die Wiege des Redners gestanden, bedarf nach der gegebenen Probe wohl nicht erst gesagt zu werden. Ich schlug dem Direktor als Antrittsrolle den Mephisto vor. »Nee, hören Se,« rief er, »den »Faust« von Goethen, nee, den wollen wir denn doch nicht riskieren; ich hab' zwar das Material für das Stück – in meiner Bibliothek –, kann mer auch vorstellen, daß Ihnen der Herr der Wanzen und der Flöhe auf den Leib geschrieben is, denn dafor haben Se was (ich verbeugte mich), aber nee, nee – wenn's durchaus ä Schubiak sein soll, so spielen[53] Sie eben übermorgen den Erzbischof Leopold in »Eine feste Burg ist unser Gott« – Mutter, gib ihm die Rolle.« Ich war's zufrieden, eilte stehenden Fußes zum Barbier und rief ihm zu: »Bitte scheren Sie mir eine Tonsur!« Der gute Mann, der von dieser römisch-katholischen Frisur nie gehört hatte, glaubte, nicht recht verstanden zu haben und fragte: »Wat woll'n Se, det ick Ihnen scheren soll?« – »Hier, eine Tonsur, so groß wie ein Doppeltaler!« Der Mann mit dem Geschäftsschild, das Don Quichote für Mambrins Helm hielt, retirierte hinter seinen Operationsstuhl. Nachdem ich ihn aber über alles aufgeklärt, und daß katholische Priester, sobald sie das Gelübde der Keuschheit ablegen, sich die Haare scheren lassen, so sie ihnen nicht schon vorher ausgegangen, beruhigte sich und tat mir meinen Willen. Nun im Triumph zurück zu meinem Direktor. Den aber zerriß es schier vor Lachen. »Ach, Herrjemersch nee, – das is ja – ich berschte schier – Dunner ja, Sie sind ja ä junges Viech, nehmen Sie's nicht ungut: Erschtens könnten Sie ja eene Perücke aufsetzen, und dann hab ich für den Erzbischof ä blaues Käppchen in der Garderobe, und schließlich hab' ich mir überlegt, daß ich das Stück gar nicht geben kann – na, beruhigen Sie sich nur, mein gutes Dierchen, Sie spielen das Würmche in »Kabale und Liebe«. – Sie haben also umsonst Haare gelassen, armer Absalom – nee, es is zum Dotschreien.« – Nach einigen Wochen verließ ich Seelow und reiste nach Wrietzen an der Oder ins Engagement zu Direktor Hartmann. Man hatte mir viel Gutes von dem Mann erzählt; er übertraf meine Erwartungen: Ich fand einen ungewöhnlich intelligenten, ehrenhaften, alten Mann mit einem Fleiß, der einen Zug ins Geniale besaß. Ohne seine graue Liszt-Mähne hätte man ihn für einen Handwerksmann gehalten; denn um die körperlichen Arbeiten, die ein Theater fordert, ausführen zu können, sah man Hartmann fast[54] immer, eine Schürze vorgebunden, mit zurückgestreiften Hemdärmeln. Er war Feuer und Flamme für die Kunst und seine Truppe. Es war übrigens eine recht patriarchalische Schmiere. Hartmanns Gattin hatte ihm in seinen vier Söhnen einen Theatermeister, ersten Helden, Dekorationsmaler und Kapellmeister geschenkt. Jeder tüchtig oder doch genügend in seinem Fache. Auch ein Töchterchen gab's, in das ich mich, obgleich es sentimental spielte, munter verliebte. Zu diesem eisernen Familienbestand engagierte Hartmann nur noch wenige Mitglieder. Seine Frau, von behaglicher Rundlichkeit, mit ihrem stereotyp gutmütigen Lächeln, sah viel eher aus wie eine begüterte Bäckersfrau als ehemalige »Sappho«. Sie hatte den reichen Garderobeschatz, den Hartmann eigenhändig musterte, besserte und flickte, zu verwalten. Er war ihre Mitgift gewesen, als Hartmann bei ihrem Vater, gleichfalls einem herumirrenden Theatermann, um ihre Hand anhielt. Die Bühne betrat sie nicht mehr. Jeder Ankömmling vernahm von ihr: Unser Theatervorhang ist eine Reliquie: er bestand schon, da Dessoir als Anfänger bei meinem Vater gespielt. Die alte Dame kam auch darum so gern auf dieses Thema, weil sie dabei Gelegenheit fand, die Bemerkung einzuschmuggeln, wie Dessoir in das jugendliche Direktorstöchterchen sterblich verliebt gewesen. Die Trauben hingen aber für das arme, polnische Jüngelchen zu hoch. Eines der ersten Stücke, in denen ich bei Hartmann in einer Nebenrolle auftrat, war Shakespeares »Die Komödie der Irrungen«. Der lustige Wirrwarr in der übermütigen Kapriole des Gewaltigen entsteht dadurch, daß zwei Herren und zwei Diener sich ähneln wie zwei Tropfen Wasser. Damit vermochte Hartmann so aufzuwarten, daß sich sogar sein Kollege aus Stratford dankend vor ihm verneigt hätte: Er ließ die vier Leute von seinen vier Söhnen spielen. Es wird zwar viel nachgemacht auf deutschen Bühnen, aber ich[55] wette, das wird nach Hartmann beim stärksten Wollen kein Theaterleiter mehr zustande bringen. Nach drei Wochen schon ging's von Wriezen nach Prenzlau. Hier bot mir Hartmann Gelegenheit, mich an das Kühnste in der Schauspielkunst zu wagen: ich spielte den Mephisto, Nathan, Shylock, Harpagon, Richard III. Die letztgenannte Riesentragödie, die ich nie vorher auf der Bühne gesehen, richtete ich für unser knappes Personal ein. Die Rollen schrieb ich nachts aus, wobei mir ein armer Soldat, mit dem ich mein bescheidenes Mahl teilte, beistand. Mit seiner Hilfe schaffte ich auch den Sarg, der im ersten Akt über die Bühne getragen wird, ins Theater. Und so, wie ich die Rollen damals gab, so blieben sie nach zwanzig und dreißig Jahren. Technisch wurde später manches nachgeholt, aber an der Intention nichts geändert: Der Diktator in mir befahl: so und nicht anders. In dem Einakter »Im Vorzimmer Seiner Exzellenz« spielte ich einen greifen Diätisten, auf dessen Bittgesuch um Beförderung der Minister, nachdem er ihn mit einem kurzen Seitenblick gemustert, die Randbemerkung schreibt: »Zu alt und darum ad acta.« Diesen Minister spielte ein Schauspieler Lips und hatte die geniale Idee, den bösen Mann in der Maske – Bismarcks zu geben und noch dazu mit einem Stich ins Komische: die berühmten drei Haare forcierte er zu drei Spitzen wie die der Pickelhaube. Ich berichte diese Sache absichtlich, damit man sieht, was man in Preußen, noch knapp vor dem 1866er Sieg gegen den märkischen Junker und baldigen Nationalheros wagen durfte. – Genannter Mime zog auch nie auf der Bühne die Kopfbedeckung in normaler Weise; tat vielmehr wie alle »scharfen Spieler« jener Zeit: er verdrehte die Rechte wie im Krampf, zwang sie wie mühsam in die Höhe nach links und riß dann mit einem schnellen Ruck Hut oder Mütze vom Haupt. Ich fragte mich immer, was diese »Nuance« zu bedeuten habe, und[56] kriegte es endlich heraus, daß diese armseligen Ableger ein Gebrechen des großen Ludwig Devrient nachäfften, der das Chiragra hatte und nur auf diese Weise zum Barett gelangen konnte. – Mitte Februar 1886 übersiedelte die Truppe nach Friedland (Mecklenburg-Strelitz). Auch hier durfte ich mich in den größten Aufgaben des Charakterfaches zeigen. Die Empfindung, die die Leutchen des kleinen Landstädtchens für meine Darbietungen an den Tag legten, muß mich heute noch in Erstaunen setzen! Wo nahmen sie nur bei einem Gesichtskreis, eng wie ihre Stadtmauern, Sinn und Blick für das Echte in der Kunst? Sie unterschieden nicht zwischen mir und den andern, sie schieden mich förmlich von ihnen: ich war der »Kirl« (Kerl), die andern die »lütt'en Später« (kleine Spieler). Die mecklenburgischen Lorbeeren waren kompakter Art: Gänsebrüste, Würste, Schinken, Torten kamen zu Hauf' in meine Stube; dazu täglich in vergoldeten Porzellankannen dampfender Kaffee – auch Punsch und Grog. Eine besondere Ehrung wurde mir dadurch zuteil, daß das Wochenblättchen, künstlerischen Angelegenheiten bis dahin fernstehend, neben der Ankündigung des nahen Viehmarktes eine Kritik über meinen »Nathan« brachte. Eine Anerkennung aparter Art war es gewiß auch, daß im Schaufenster der Apotheke zwischen Töpfen, Büchsen und Flaschen mit Giftwappen meine Photographie als Franz Moor prangte. – Mit den Feldarbeiten des Frühjahrs brach der Theaterbesuch des ackerbautreibenden Ortes radikal ab. Die Truppe kehrte nach Prenzlau zurück. Deutlich erinnere ich mich: es war während der Vorstellung »Ben David oder Christ und Jude«, als Hartmann die Schreckensnachricht hinter die Kulisse brachte: Krieg mit Österreich! Traurig spielte ich meinen edelmütigen, alten David zu Ende, packte noch zur Nachtzeit meine Habseligkeiten, um schon früh am Morgen in mein Heimatland zurückzukehren.[57]

Quelle:
Wohlmuth, Alois: Ein Schauspielerleben. Ungeschminkte Selbstschilderungen von Alois Wohlmuth. München 1928, S. 29-58.
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