Auf der Reise

[447] Reise


als deren Miniaturausgabe sie ja zu betrachten. Nur gelten hier noch freiere Formen und zwangloserer Verkehr – nie aber freie Formen oder gar formloser Verkehr! Und fast mehr noch als in anderen Lebenslagen gilt es hier, weise Lebenskunst zu Hilfe zu nehmen, um den allgemeinen Höflichkeitspflichten zu genügen, ohne sich zu deren Sklaven zu machen. Denn nur so wird es möglich sein, die köstlichen Reisetage, das Schönste und Anregendste, was dem Menschen vergönnt ist, in vollen Zügen zu genießen.

Freilich nur für den sind sie köstlich, der zu reisen[447] versteht. Bequemlichkeitsliebe, Kleinlichkeit und Peinlichkeit sowie alle Gewohnheiten lasse man zu Haus, ganz besonders letztere. Wenn man sich überhaupt schon nicht seinen Gewohnheiten unterordnen soll, darf das Heer derselben erst recht nicht auf die Reise mitgenommen werden.

Vor allem heißt es da, sich vorher einen festen Plan mit weiser Zeiteinteilung machen. Auch Reisehandbücher – es giebt deren schon sehr billige und wer die Ausgabe für den großen Bädecker scheut, wird auch mit dem kleinen Grieben überall zurecht kommen – sind unentbehrlich, da sie über alles Sehenswerte, das gewöhnlich die Ein- und Umwohner der betreffenden Gegend am wenigsten kennen, unterrichten. Man soll nicht alles auf der Reise sehen wollen, aber auch nicht an wirklich Schönem und Bedeutendem vorübergehn. Dann die Reiseausrüstung. Für längeren Aufenthalt am selben Ort, mit dem ja meist irgend eine Kur verbunden sein wird, ist allerdings Abwechslung notwendig und namentlich das schöne Geschlecht wird sich da ja so reichlich als möglich versehen. Aber für den Reisenden – das Wort Tourist dürfte hier den meisten bezeichnender erscheinen – der da schauensdurstig reist, die Welt oder doch ein Stückchen davon kennen zu lernen, wird viel Gepäck eine Plage sein, die nicht nur die Reise beträchtlich verteuert, sondern auch völlig überflüssig ist. Einen derben, bequemen, nicht zu bell und nicht zu dunkeln, mithin am besten grauen Anzug angelegt, einen[448] zweiten, etwas eleganteren im Koffer, Staubmantel und Plaid, festen Schirm, der gegen Sonne und Regen schützt und im Notfall auch als Gebirgsstock zu benutzen, einfacher runder Hut (für die Bahnfahrt Reisemütze) doppeltes Schuhwerk (bequem, fest und mit niederen Absätzen) und die Reisegarderobe ist vollständig bis auf die Wäsche. Hiervon aber nehme man so wenig als möglich; sie beschwert den Reisesack am meisten und kann doch bei jedem längeren Aufenthalt – und wenn er nur nach Tagen rechnet – leicht gereinigt, im Notfall auch ergänzt werden. Mit den genannten zwei Anzügen kommen auch elegante Damen aus, selbst wenn sie dazwischen in Bädern oder an sonstigen Kurorten kurzen Aufenthalt nehmen. Ein paar farbige Blusen genügen, der Garderobe stets Abwechslung zu geben; oft thut dies schon ein Kragen, eine hübsch geschlungene Schleife oder Blume.

Beim Einsteigen ins Coupé grüßt man leicht, falls es nicht zufällig eine einzelne Dame, die zu lauter Herren hinzukommt. Man belästige andere nicht mit dem Unterbringen des Gepäcks, von dem so wenig als möglich mit hineingenommen werden sollte und warte alsdann ab, ob sich Gelegenheit zu einem Gespräch mit den Reisegenossen ergiebt oder nicht. Damen sollten solches mit Herren nie beginnen, es aber auch nicht unhöflich zurückweisen. Ist man zum Plaudern nicht gestimmt, werden kurze, aber höfliche Antworten dies die andern leicht erkennen lassen. Ebensowenig darf man allzuschnell bekannt oder gar vertraut werden – gerade[449] auf der Reise ist Vorsicht nötig. Damen ist besondere Zurückhaltung zu empfehlen.

Über den Gasthof, in den man einzukehren gedenkt, sollte man stets vorher im klaren sein und dies nicht dem Geratewohl überlassen. Reisehandbücher geben auch hier den besten und meist zuverlässigen Anhalt. Es empfiehlt sich durchaus, größere Gasthöfe vorzuziehen, sie sind nur wenig teurer als die kleinen und man ist besser aufgehoben. Beim Verkehr im Gasthof und an der Gasthofstafel gelten die allgemeinen Höflichkeitsregeln, nur eben etwas zwangloser. Man begrüßt sich bei Tafel mit gegenseitiger stummer Verneigung und fast ausnahmelos sind es Engländer, die auch dies zu unterlassen pflegen. Auch an der Gasthofstafel darf man nicht in den Speisen herumstochern, sich die besten Stück auffällig heraussuchen und vielleicht eine übergroße Portion eines besonders leckeren Gerichtes auf den eignen Teller thun, unbekümmert darum, ob für den Nachbar etwas übrig bleibt. So ein schlecht behandelter Nachbar aber sollte sich nie scheuen, in solchem Fall dem Kellner oder sonstigen Aufwartenden Weisung zu geben, Ergänzung herbeizuschaffen. Da alle Gäste vollen Preis bezahlen müssen, haben sie auch gleiche Berücksichtigung zu verlangen. Lautes Lachen, weithin vernehmbares Sprechen, sowie jedes auffällige oder geräuschvolle Benehmen ist an der Gasthofstafel zu meiden. Besonders sind es Damen, die oft gegen diese Regel verstoßen und sich geberden, als sei es ihre Pflicht, den ganzen[450] Umkreis der Tischnachbarn zu unterhalten – was natürlich meist der Eitelkeit entspringt, für geistreich oder »interessant« gehalten zu werden.

Junge Mädchen erhalten ihren Platz an der Seite der Eltern. Geschieht es, daß sie allein erscheinen, werden sie besonders vorsichtig sein müssen und sich am besten garnicht in eine Unterhaltung mit Herren einlassen.

Nicht jeder trifft übrigens den rechten Ton im Verkehr mit Kellnern und ähnlichen Bediensteten, welche zur Aufwartung des Publikums da sind und doch nicht als persönliche Diener betrachtet werden dürfen. Man sei höflich, aber kurz und bestimmt; nie lasse man sich in Gespräche, die nicht zur Sache gehören oder gar auf Auseinandersetzungen ein. Unhöflichkeiten sind sofort dem Wirt zu melden. Was die Trinkgelder betrifft, sollte man, da der einzelne diese Unsitte nicht abzuschaffen vermag, sie wenigstens beschränken. Wie kommt das Publikum dazu, das Personal der Gasthofsbesitzer – auch der Speisehäuser – zu besolden oder, falls sie Lohn empfangen, ihre Leistungen noch einmal zu bezahlen – wer erhält denn doppeltes Gehalt, zweifaches Honorar? Jeder Abschied aus irgend einem Gasthof gestaltet sich schon deshalb ungemütlich, weil ein Heer von Bediensteten, zahmen aber nicht weniger beutegierigen Wegelagerern gleich, am Ausgang auf den Fremden fahndet und wer auch nur als halbwegs anständig gelten will, muß mindestens ein Fünftel der Gasthofsrechnung[451] noch auf Trinkgeld zugeben. Da aber die Bediensteten doch nie zufrieden sein werden, auch wenn man ein Drittel darauf anlegt, sollte man nach Ermessen geben und wenig danach fragen, ob Kellner uns für anständig halten oder nicht. –

Wer Ausflüge unternimmt, wird gut thun, früh aufzubrechen, um bei guter Zeit zurück zu sein. Überhaupt gilt auf der Reise die Regel: Früh auf und früh zu Bett – das macht den Körper frisch und widerstandsfähig. Bei großen Bergpartieen, die nicht in den Morgen und ersten Vormittagsstunden zu erledigen sind, muß man mittags in der heißen Stunde rasten, sich auch nie über Körperkraft anstrengen, da der folgende Tag dann ein verlorener ist. Man steige überhaupt langsam, stetig, schweigend und mache ab und zu stehend, nicht sitzend eine kleine Ruhepause. Unverständiges Bergsteigen hat manche gute Gesundheit zerstört. Bei allen schwierigen Partieen ist ein Führer zu nehmen, welcher auch zugleich die nötigen Verhaltungsregeln in Bezug auf passende Kleidung und alles übrige geben wird. Besser einige Mark vielleicht überflüssiger Weise opfern, als Leben oder Gesundheit verlieren. Auf der Höhe angekommen, schütze man sich durch Umhüllen gegen Wind und Zug, der nach der Erhitzung des Steigens doppelt schädlich wirken muß Ferner dürfte für manche Reisende auch die Mahnung nicht überflüssig sein, sich nicht zu geberden, als habe Gott das Stück schöne Welt, das sie von berühmten Aussichtspunkten[452] aus überblicken, für sie allein geschaffen und andern den Genuß nicht durch lärmende Ausbrüche des Entzückens zu stören. Auch hier Rücksichtnahme auf andere, bitte! Freilich braucht diese nicht soweit zu gehen, daß man sich zum Ritter völlig fremder, zufällig des Wegs daherkommender Frauen macht und ihnen die Dienste erweist, welche man auf Ausflügen den zur Gesellschaft gehörenden Damen widmet. Auf der Reise hat eben das »Jeder ist sich selbst der Nächste« seine Berechtigung. Man erweise sich überall so entgegenkommend als möglich, aber bis zur Selbstverleugnung, Überbürdung und Verzicht auf eignen Reisegenuß darf das nicht gehen.

Auch rechnen soll man auf der Reise – und muß es wohl in den meisten Fällen – jedoch nicht sparen. Falsche Sparsamkeit kostet oft mehr als leichtsinnige Verschwendung. Vor allem aber darf man nicht an auskömmlicher Verpflegung sparen.

Bei Wasserpartieen vermeide man streng das leichtsinnige und stets unangebrachte – weil keinenfalls zum Vergnügen beitragende – Schaukeln, das schon soviel Unheil angerichtet!

Bei längerem Badeaufenthalt oder solchem zu irgend einer Kur kommt gleichfalls alles Gesagte in Anwendung. Kein weltmännisch geschulter Reisender wird sich hier vornehm abschließen und sich als etwas Besonderes aufspielen wollen, denn alle, die an der Heilquelle oder am Meer Kräftigung suchen, verbindet schließlich schon derselbe Zweck und führt sie[453] einander näher. Freundlich und entgegenkommend kann man auch zum Geringsten oder an Bildung weit unter uns Stehenden sein – es bedingt das ja nicht gleich freundschaftlichen Verkehr, am wenigsten solchen, der nachher daheim unter veränderten Verhält nissen fortzusetzen wäre. Mit Anknüpfen vertraulicher Bekanntschaften sei man allerdings auf der Reise vorsichtiger noch als sonst und empfinde auch nicht als Kränkung, wenn andere solcher mit uns aus dem Wege gehen. Reisen doch viele, um sich gerade von den Anstrengungen eines übergroßen geselligen Verkehrs zu erholen und suchen Ruhe und ungestörten Naturgenuß, nicht neue Bekanntschaften.

Das Verhalten der alleinstehenden Dame auf Reisen ward bereits früher in großen Zügen angedeutet. Hier nur noch einmal, daß sie auch im Bade allein wohnen, allein an der Gasthofstafel und auf Spaziergängen erscheinen darf, es aber selber als Annehmlichkeit empfinden wird, es nicht zu müssen. Passender Anschluß aber dürfte sich um so leichter finden, als heutzutage niemand mehr der alleinreisenden Dame mit Mißtrauen begegnen wird, sofern sie sich angemessen und würdig benimmt. Und das müssen wir der Einzelnen überlassen – es giebt sich eben jeder seine Stellung selber, nicht nur auf der Reise, sondern überall im Leben.


Quelle:
York, B. von: Lebenskunst. Leipzig [1893], S. 447-454.
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