4. Zweite Niederschrift der Selbstbiographie.

[215] Eine geistreiche, huldreiche Fürstin, die Herzogin Amalie von Sachsen-Weimar, der ich im Jahre 1802 die Ehre hatte, auf Befragen manches aus meinem Geburtsorte mit meinen früheren Jahren Zusammenhängende[s] zu beantworten, äußerte bei dieser Gelegenheit, jeder fähige Mensch sei schon allein für den Genuß des Lebens selber verbunden, ein schriftliches Zeichen zu hinterlassen, wäre es auch nur als Bekenntnisse an sich selber. Ein besserer Lohn für die Erfindung der Schreibkunst lasse sich kaum angeben.

So ward mir zum Andenken dieser edelsten Fürstin ein Stein auf das Gewissen gelegt, den abzuheben ich durch sehr trübe Stunden angehalten worden. Es waren die eisernen Winternächte von 1806 und 1807, die plötzlich, eine undurchdringliche Scheidewand zwischen Sonst und Heut, wie vom Abgrund zum Himmel aufwachsend sich vor mich hinstellten. Das schwerste Doppelleid für den einzelnen, der Fall des geliebten Vaterlandes und der Tod der edelsten Lebensgefährtin und Mutter meiner elf Kinder fuhr wie Blitze fast kurz nacheinander auf mich her, und zu meiner Aufrichtung unternahm ich, die frühern Tage meines Lebens aufzuzeichnen.

Da nun Trauer und Elend in Worte zu bringen mir nicht gegeben ist, und andre Federn solches hinlänglich bemerkt haben, so fand sich die Gelegenheit, indem ich als Mitglied des Künstlervereins aufgefordert war, den Lauf meiner Künstlerbahn zu den Akten der Anstalt einzureichen; und so sind, nachdem sich die Aussicht in eine[215] hoffnungsvollere Zukunft aufgetan hatte, die folgenden Blätter entstanden.

Die Schwierigkeit, ein zerstreutes Jugendleben mit seiner Folgezeit darzustellen, möge entschuldigen, was durch literarisches Ungeschick versehen worden. –

Ein anhaltend heftiges Schreien am 11. Dezember des Jahres 1758, das kein Ende nehmen wollte, war das Zeichen meiner Geburt und großer Gefahr. Welch ein Gestirn oder Unstern sich meiner Ankunft in dieser Welt widersetzt hatte, wüßte ich nicht zu sagen. Meine Mutter lag für tot, und ich schrie fort. Frau Schley, eine hilfreiche Gevatterin in solcher Not, ward gerufen. »Das Knäblein«, sagte sie, »wird von der schweren Arbeit ausgehungert sein.« – Sie bereitete einen Brei und Getränk, gab mir davon, und nun lächelte ich die Umgebenden an. Meine Mutter erholte sich, und mein Vater freute sich seines Sohnes. Hatte ich auch allen Umständen meiner Geburt in Person beigewohnt, so würde ich darüber in vollkommner Unwissenheit sein, wenn sie mir nicht oft genug wiedererzählt, ja vorgeworfen worden wären, um sie nicht zu vergessen. Hatte ich's doch nicht besser zu machen gewußt, um auf die Welt zu kommen. – Von Schlangenwürgen und dergleichen fiel nichts vor, doch mag ich eines Hundes gern gedenken, der Nante hieß und meine Kindheit bis in das sechste Jahr treu bewachte, besonders gegen andre Hunde, die ich wohl zu necken pflegte.

Einige Hauslehrer, welche nach und nach starben, um meinen Dank für ihre Erziehungskunst nicht abzuwarten, brachten mich so weit, daß ich in das Gymnasium geschickt wurde, wo ich die unterste Klasse zierte.[216]

Der letzte dieser Hauslehrer war ein junger kränklicher Theologe und schien mir anfänglich gewogen, wenn nicht meines Fleißes, doch (wie er es nannte) meines guten Charakters wegen. Die Ursach' erfuhr ich zufällig, denn ich selbst empfand wenig von seiner Zufriedenheit; er aß fast leidenschaftlich gern Mispeln, die er sich um die Jahreszeit täglich einkaufen ließ und sie jedesmal sorgfältig zählte; auch vergaß er nicht, mir davon mitzuteilen. Da ich aber dieser Frucht keinen Geschmack abgewinnen konnte, so legte ich mein Teil still beiseite, um den Mann nicht durch Weigerung empfindlich zu machen, was gar leicht möglich war. Einst gab er mir Geld, um Mispeln zu kaufen, und indem ich die für mich zurückbehaltenen wieder dazulegte, welche durch die Zeit nicht schlechter geworden waren, so wurde bemerkt, daß ich entweder besser einzukaufen verstand oder meine Vorgänger genascht hätten. Zu solchem Einkaufe ward ich denn öfter berufen, den ich für ein zufriednes Gesicht gern übernahm.

Eines Abends hatte er meiner Mutter vorgelesen, und ich war darüber eingeschlafen. Halb erwacht hörte ich zuletzt von mir reden, wie ich nämlich als ein redlicher Knabe von ihm gepriesen wurde, in welchem wahrscheinlich ein tüchtiger Kaufmann stecke, der einen Einkauf zu machen Talent habe; als Beleg ward diese Mispelgeschichte erzählt. Dies Geheimnis hatte ich nun meiner Mutter schon eröffnet, die ihn lächelnd bedeutete, daß ihr Sohn keine Mispeln esse und leicht den schlechtesten Kaufmann von der Welt abgeben dürfte.

Darüber war nun der junge Mann sehr ärgerlich, daß er mich einen falschen Hund schalt und eine frühere Geschichte wiedererweckte, die nicht weniger kindisch herauskam.[217] Meine Mutter hatte ihre jüngste, noch unverheiratete Schwester bei sich, ein gesundes, starkes, männliches Wesen. Sie schien nach ihrem Eigenen zu trachten und sich gedrückt zu fühlen, indem sie uns oft vorrechnete, was sie für unser Haus wirke. Der Hauslehrer, der eine Pfarre erwartete, mochte von ähnlicher Gesinnung sein, und man fürchtete, in den gleichgestimmten Seelen mit der Zeit ein Paar zu finden. Nun hatte er der Muhme zur vorigen Weihnachten kleine Geschenke gebracht, worunter auch eine Maus von Wachs war, die, auf ihrer Kommode stehend, von mir immer lüstern betrachtet wurde. Einst war die Muhme in der Küche mit Seifekochen beschäftigt. Ich komme in ihre Stube und gewahre unter dem Fenster ein Mauseloch im Fußboden. So gehe ich an die Kommode, nehme das wächserne Tierchen und setze es vor das Mauseloch. Dann schleiche ich in die Küche und flüstere: »Muhme, eine Maus! eine Maus!« – Die Muhme kommt: »Wo, wo?«, mit der Seifkelle in der Hand, und indem sie die Maus sieht, schlägt sie sie in hundert Stücke. Ich machte mich von dannen, sie mit der Seifkelle hinter mir her, und rettete mich zur Großmutter, die mich in Schutz nahm und sie mit einem Verweise abziehn ließ. Nun verklagte sie mich bei meinem Vater, der außer sich geriet vor Lachen, und als er mich weinen sah, mir eine derbe Maulschelle mit den Worten gab: »Was weinst du, Schlingel?« – Der Spaß hatte meinen Vater, der von dem Verhältnis eines so ungleichen Paares nichts wissen wollte, in so heiteren Humor gesetzt, daß er die Muhme mit Anwendungen plagte, die denn ich und meine Schwester bei ihr ausbaden mußten. Nun fand sich ein tüchtiger Zimmermeister, an den sie glücklich verheiratet wurde. Der Hauslehrer aber ging[218] auch von uns ab und starb bald darauf an der Auszehrung.

Im Gymnasio lernte ich so viel Latein und Griechisch, um in einige höhere Klassen zu gelangen, in denen ich das unten Erlernte wieder vergaß und dafür allerlei Burschenstreiche eintauschte, bis eine Schlägerei, wobei ich mich zu tätig erwies, mir die Relegation zuwege brachte. Um diese Zeit, gegen mein sechzehntes Jahr, hatte ich, so wie schon vorher meine beiden ältern Schwestern, angefangen, den Flügel zu spielen. Mein Klaviermeister war ein Organist, und in Jahr und Tag war ich wohl so weit, beim Gottesdienste unter Aufsicht des Meisters den Choral mit der Orgel zu begleiten. Auch so weit wäre ich vielleicht nicht gekommen, wenn nicht meine älteste Schwester Luise, die sich unter allen Um ständen meiner anzunehmen wußte, mich vermocht hätte, fleißiger im Spielen zu sein, als meine zu große Beweglichkeit zuließ, indem sie hoffte, dem Vater, der so gern zu ihrem Spiele sang, nach ihrer bevorstehenden Verheiratung diese Freude in ihrem Bruder zu hinterlassen.

Auf der Hochzeit dieser Schwester sah ich zum ersten Male meinen Großoheim, den Hofkupferstecher Georg Friedrich Schmidt, der gut musikalisch war. Ich mußte ihm vorspielen, und er sagte, das wäre schlecht genug; ich sollte nur meine anderen Sachen desto besser lernen. Diese Rede verstand ich nicht recht, weil ich mein Griechisch vergessen hatte. Doch kam mir vor, als ob er mein Spielen nicht gelobt hätte.

Mein Vater ließ mich zur Maurerprofession einschreiben (am 14. Februar 1774 im Hause des damaligen Altmeisters Herrn Weidner in der Zimmerstraße), welche er selber mit gutem Erfolge trieb. Der Frühling nahete,[219] und eben als ich anfangen sollte zu mauern, befielen mich die Blattern so nachdrücklich, daß der ganze Sommer darüber hinging. Mit meiner langsamen Genesung erwachte ein neuer Trieb in mir zur Musik, der mich zum ersten Male in anhaltende Tätigkeit setzte. Ganz für mich allein fing ich an, die Violine zu spielen, um mit dem Flügel abzuwechseln, so daß nichts als Musik getrieben wurde. Und wären solcher Neigung von hier an Umstände günstig gewesen, so wäre man wohl vorwärtsgekommen. Aber aus der Kunst ein Gewerbe zu machen, lag damals ganz außer der Ansicht eines Professionisten. Man begriff nicht, zu was das Musizieren dienen sollte.

Den nächsten Sommer mußte endlich gemauert werden. Hätte es in meiner Wahl gestanden, so hätte ich statt dessen gern noch einmal die Blattern ausgehalten, denn meine Hände gerieten durch ätzenden Kalk und durch Angreifen des Gesteins so in Unordnung, daß ich des Nachts Handschuhe anlegte, welches bei der Arbeit gern bespöttelt wurde.

Ein früheres Leiden lag mir auch noch auf dem Herzen. Es war die erste Verheiratung meiner ältesten Schwester Luise, die ich aufs zärtlichste liebte, da sie mir niemals widersprach und alles auszugleichen wußte. Vielleicht habe ich diese Schwester nie um etwas gebeten oder von ihr gefordert. Was ich wünschte, war immer vorhanden und kam immer von ihr, da ich ihr denn aufs Blut ergeben und immer auf dem Sprunge war, wie ihr schönes Auge winkte. Im elterlichen Hause war dies kaum bemerklich. Den Hochzeitabend, als sie mit ihrem Manne fuhr, war mir's plötzlich wie ein Schnitt in das Herz; ich rasete, weinte, schrie; man mußte mich halten; ich wollte ihr nach und kam in so wütende Leidenschaft,[220] daß man mich bewachte, aus Furcht, ich möchte mir nachts ein Leid antun. Der Haß, den ich auf meinen guten Schwager geworfen hatte, war durch kein Zureden zu mildern, wie sich auch meine Schwester glücklich nannte, und dieser Haß hat bis an seinen Tod gewährt. Mit leidigem Behagen sah ich seinen Sarg in die Erde senken, denn nun durfte ich mein Geliebtestes auf Erden wieder ganz lieben. –

Ein Anfang im Zeichnen und in der Geometrie war schon gemacht. Auf der Königlichen Zeichen-Akademie ward ich, vielleicht meines Großoheims wegen, vom Direktor Le Sueur freundlich angegangen, und ich mag mich wohl nicht ganz ungeschickt gezeigt haben; denn mein Zeichenlehrer, der damalige Professor Krüger, schien auf mich zu halten und gab sich die Mühe, mich in Ol, in halber Figur zu malen, wofür ich ihn hernach mit einem schönen Edelinckschen Abdrucke beschenkte. Auch der damalige Direktor der Akademie, Frisch, erwies mir die Ehre, mich in schwarzer Kreide zu zeichnen. Auf der Akademie machte ich die Bekanntschaft mit dem jüngsten Hackert, welcher Georg hieß. Mit diesem ging ich in seine Wohnung zu seiner Mutter, wo wir zusammen nach Gips zeichneten, was uns auf der Akademie noch nicht verstattet wurde, und ich ihn dafür im Violinspielen zurechtwies.

Um mich gegen Nachrede zu verwahren, welcher ein Meistersohn von Zunftgenossen wohl ausgesetzt ist, hatte mich mein Vater für mein drittes Lehrjahr einem andern Meister übergeben, den er selber für den besten Praktikus hielt; und das war Lehmer in der Tat. Einen bedeutenden Bau vom ersten bis zum letzten Steine anzuordnen und durchzuführen, ohne daß es schien, als wenn er dabei vorwaltete, war ihm gegeben. Gemauert hatte ich nun[221] den ganzen vorigen Sommer. In diesem Jahre ward das Kadettenhaus in Berlin angefangen und ich dabei in Reih und Glied gestellt. Die Pfeilerwand hob sich wie ein Gewächs aus dunkler Erde ans Licht. Fehler wurden angemerkt, ehe sie begangen wurden, Nachlässigkeiten durch ehrbare Abgaben gebüßt; eine rohe Mauer nahm sich heiter, ja appetitlich aus. Was eine gelassene, kräftige Anweisung heißt, war nicht zu verkennen. Ich kam in Zug mit andern, durfte mich vergleichen mit andern und hoffen, ihnen gleich zu werden, wo nicht sie zu übertreffen. Kurz, ich begriff, daß jeder von uns an seiner Stelle etwas sei, wenn einer ein Meister ist. Auch andre Betrachtungen fanden sich ein; man schämte sich nicht, ein Maurer zu heißen und den alten Vorwurf zu leiden, daß Maurerschweiß mit Golde bezahlt werde. Man hört solchen Vorwurf oft genug von Unbeschäftigten und bedenkt kaum, daß nichts leichter von sich geht als bauen, wenn es dabei nicht an der Zutat fehlt. Der Maurer scheint stillzustehen, und seine Arbeit wächst kaum sichtbar. Dabei leidet er von jeder Jahreszeit; Wind und Regen, Kälte und Hitze, alles will ihn vertreiben; wenn der Schatten fertig, das Dach gedeckt, der Keller gewölbt ist, überläßt er anderen den Vorteil, und der Winter legt ihm das Handwerk ganz. Eine Unvorsichtigkeit, ja fremde Schuld setzt oft genug seine Familie in den Waisenstand. Solche Betrachtungen hatte ich freilich schon früher angestellt und gefunden, daß ich mich zum Handwerke nicht schickte, da ich jetzt aus Achtung gegen meinen Meister mich auch den schweren Arbeiten als Brechen, Graben, Rüsten im Wassermauern nicht entzog, was ich allenfalls gedurft hätte. Auch war mir ein Sinn der Handwerks-Ehrbarkeit angeboren, demzufolge ein Maurer seine Prosession[222] zu den unvergänglich edlen rechnet. Sittenlosigkeit und Unzucht wurden von der Gesellschaft selber oft schwer geahndet, selbst kleinere Vergehen; Befleckung eines Mauerwerks, lose, freche Reden bei der Arbeit blieben nicht unbestraft; auch ein leidenschaftliches Verhältnis in den Lehrjahren mußte beim Lossprechen abgebüßt werden. Hierin nahm sich unser Meister geschickt und meines Wissens niemals scheltend. Wenn sein Falkenauge einzelne Fehler gewahrte, richtete er seinen Vorwurf gegen die Mitarbeitenden, ob sie es so recht fänden, und ging sogleich von dannen. Der Sünder hatte sich nun mit den Seinigen abzufinden, und wenn er sich hier zu hart angezogen hielt, rief er endlich wohl noch den Meister um Beistand an. Schlechtes Werkzeug, zerrissne Kleider, wunderliches Erscheinen auf der Arbeit galten ihm für Zeichen eines unbrauchbaren Menschen. Für solche, meinte er, wäre die Welt groß genug, wenn auch bei ihm kein Raum. Mit diesen gemeinschaftlichen Eigenschaften unterschied sich Lehmer dadurch von meinem Vater, daß jeder Gesell, der Lust hatte zu lernen, zu ihm kam, und wer von ihm gelernt hatte, meines Vaters Arbeit suchte, welcher letztere seine Leute, wenn sie schöne Arbeit machten, auszeichnete, beschenkte und sie gern durchwinterte, indem er ihnen andere Beschäftigung gab. Dies wurde von Lehmern keineswegs genehmigt, welcher meinte, der Winter sei die Verdauungszeit des Maurers, der den Frühling sehnsüchtig zu erwarten habe; gute Arbeit aber zu machen sei er schuldig, denn nur dafür gebühre ihm der Lohn aus der Hand des Meisters, der nicht wie ein Liebhaber ein fertiges Werk bezahle; das Handwerk sei keine Kunst, und über das Handwerk hinauszutreten sei auch keine Kunst.[223]

Lehmer war aber auch ein Musikus und wußte sich etwas damit, auf der Violine und dem Violoncelle nach Noten zu spielen. Bauen und Musik waren ihm unzertrennliche Dinge. So kam denn in Wintertagen ein kleines Konzert bei ihm zusammen, wobei auch ich tätig war, indem ich bald den Flügel, die Violine, Flöte und was eben erfordert wurde, und hier gleichsam den Meister des Meisters spielte. Da ich schon komponierte, so wurden meine Versuche hier ans Licht gezogen, und wie sie nun gegen andre beliebte Stücke ausfielen, belächelt oder belobt. Damit ich mir aber auch hier nicht zuviel zugute tat, so hatte Lehmer meinen Violinmeister Schultz, welcher die Komposition recht gut verstand, mit in sein Haus gezogen, weshalb ich mich denn nicht mausig machte, weil Schultz mir die Fehler laut und derb verwies.

Zu diesen Winterlustbarkeiten gehörte noch das Montagskonzert im Brunowschen Garten, wo man Sinfonien, Konzerte und italienische Opernarien (welche letztern auf der Oboe geblasen wurden) hörte. Ein Jude namens Lewin führte dies Konzert nicht ungeschickt an, was in einer rauschenden Gesellschaft, im Nebel unzähliger Tabakspfeifen nicht leicht sein mochte. Was hier meine Aufmerksamkeit zuerst auf sich zog, war der Paukenschläger Froloff, der meines Wissens noch lebt. Dieser schlanke, lange Mann wußte durch eine sinnreiche Führung der Schlägel, welche er an beiden Enden gebrauchte, ein interessantes Spiel für alt und jung zu veranstalten und mir einen ganz unverhofften Respekt gegen ein Paukenpaar abzugewinnen. Ich wüßte kaum zu sagen, ob seit all der Zeit eine Paukenmusik noch zu ähnlichem Anteil bewegt hätte. Über einem ruhigen Wirbel als Grundton floß ein phantastisch melodisches Wesen daher,[224] das man zu verstehen glaubte; durch eine Anzahl Kurven, welche sein Schlägel vom Zentro nach der Peripherie und zurück beschrieb, entstanden Tonleitern nach oben und unten, denen er durch Anwachsen und Zunehmen eine modulatorische Haltung zu geben wußte. Tränen flossen, wenn sein crescendo sich zu Schlägen erhob, als ob das Firmament krachte, ungerechnet eine Menge von Künsteleien, womit er Frauen und Kinder ergötzte, indem während des Spieles die Schlägel, in die Luft geworfen, auf die Pauke fielen und von da aufgefangen wurden. Dabei war ihm eine seltne Eigenschaft natürlich, indem er, die Umstehenden im Auge, zu schließen wußte, wenn er sein Höchstes erreicht hatte. Dies war endlich nicht sein ganzes Verdienst. Sein Paukenpaar belebte, ja es dirigierte das Orchester. Eine Sinfonie, von ihm begleitet, durfte jeder zu hören wünschen, obgleich es schien, als ob die Schlägel kaum die Felle berührten. Da ich ihm günstig war, so war auch er mir gewogen, indem ich ihm oft etwas aufgab, das er auf der Stelle ausführte. Sein Paukenpaar hielt er wie Augäpfel. Wenn ein Stück aus war, hing er seine Schlägel an den Knopf seines Kleides. Einst wußte ich ihm die Schlägel unvermerkt abzunehmen, um seine Pauken damit zu versuchen. Froloff kam wie ein Pfeil geschossen; mit einem Griffe waren die Schlägel in seiner Hand. Dann machte er selber eine Kadenz, die ich unvollendet gelassen, und steckte die Schlägel in den Busen.

An diesem Orte machte ich [die] Bekanntschaft des jungen Possin, nachherigen Kapellmeisters des Prinzen Heinrich. Possin spielte hier Flügelkonzerte, und indem ich ihn beobachtete, fand ich bald, daß er viel weiter war als ich. Alle Stücke ohne Unterschied wurden damals mit[225] dem Flügel begleitet, der den bezifferten Baß mitspielte, wodurch ich denn Luft bekam, das Ähnliche öffentlich zu versuchen, wenn ich nur herangekonnt hätte.

Hierzu fand sich endlich die Gelegenheit. Ich stand hinter Possin, und indem dieser von Nasenbluten befallen war, huschte ich auf den Flügelstuhl und vollendete das Stück, so gut ich vor Eifer dazu kommen konnte. Hier merkte ich zuerst, wie weit ich in der Begleitungskunst war, und daß zum Spielen die Finger allein nicht hinreichen. –

Nach drei Lehrjahren wurde ich Maurergesell. Da mir das Handwerkswesen von Grund nicht zusagen wollte, so dachte ich es nun baldigst wieder zu verlassen und dazu meine Wanderjahre zu benutzen, ohne welche man nicht Meister werden konnte, wie ich es doch sollte. Mein Unstern wollte es anders. Denn eben um diese Zeit hob der König Friedrich der Große die Pflicht der Wanderjahre auf, weil mehrere Kantonpflichtige im Auslande geblieben waren, um sich dem Soldatenstande zu entziehen. Unterdessen hatte ich mich an unsern Stadtpfeifer George gemacht, der Gesellen und Lehrjungen unterhielt. Mit diesen letzteren, die freilich auch nicht appetitlich zu schauen waren, ging ich spielen auf Hochzeiten und Gelagen, auf die Stadttürme, um abblasen zu helfen, und schickte mich in iche Sitten.

Wenn dieser George seine Leute hart und rauh anließ, so tat es mir fast wehe, schonender behandelt zu werden. Da er ein sehr geschickter Mann war, so war sein Schelten und Schimpfen meinem Ohre so gut Musik wie sein Spielen, und ich würde meinen Vater, den ich sehr liebte, angebetet haben, wenn er mir verstattet hätte, statt des gottlosen Mauerns die Stadtpfeiferei zu erlernen. Daran aber war gar nicht zu denken, wie denn diese Leute[226] damals wenig galten, indem sie bei Aufwartungen sich eine Behandlung gefallen ließen, die gegen ihren Künstlerstolz abstechend genug war. Durch den häufigen Besuch solcher Konzerte, welche in öffentlichen Gärten wöchentlich gegeben wurden, hatte ich, wie schon bemerkt, die Bekanntschaft des nachmaligen Kapellmeisters Possin gemacht, der die Musik auch aus Neigung trieb, denn auch er hatte nach Bestimmung seines Vaters die Handlung erlernen müssen. Diesem Freunde bin ich aufs höchste verpflichtet worden, denn wie sein Eifer zur Musik den meinigen zu überbieten wußte, so war er von vornherein gründlicher unterrichtet worden, und durch ihn konnte ich nachholen, was ich anfangs versäumt hatte. Ich war nämlich in der Fingerordnung vernachlässigt und fühlte diesen Mangel am meisten, als ich Konzerte übte, wo denn dieser Freund mich zurechtewies. Zu dem nächsten Konzerte, das ich mit Begleitung spielte, hatte ich mir eine schwere Kadenz ausgearbeitet und hoffte meinen Possin, der zugegen war, damit nicht wenig zu überraschen. Als ich an die Kadenz kam, war mir der Anfang derselben entfallen, und ich saß wie ein Stock vor dem Flügel, indem das Orchester die Kadenz erwartete. Possin rief mir leise zu: »Mache doch den Triller!« – Ich saß ohne Bewegung. Nachdem er zwei- bis dreimal gerufen hatte, sagte er endlich: »Du Rindvieh, mache doch den Schlußtriller!«, und nun erwachte meine Kadenz, die mir von den Fingern ablief, worauf denn unmäßiges Gelächter und Beifall in Menge folgte. –

Von meinem verdienten Lohne als Lehrbursch hatte ich mir so viel erspart, eine Steinersche Violine zu kaufen, die so gut war, daß ich vierundzwanzig Jahre darauf gespielt habe, ohne eine bessere zu wünschen.[227]

Mein Großoheim Schmidt war eben am 25. Januar 1775 gestorben; sein für einen Künstler bedeutendes Vermögen fiel an seine beiden Schwestern, von denen die eine meine Großmutter war. Der Anblick eines ordentlichen Künstlerhauses, das ich hier zum ersten Male sah, wirkte elektrisch und bestätigte meinen Widerwillen gegen das Handwerk. Die Hauptentdeckung aber in Schmidts Hause, welche ich sogleich machte, bestand in einer Garnitur musikalischer Instrumente, um ein vollständiges Konzert auszustatten. Eine italienische Violine, eine Bratsche und ein gutes Violoncello aus diesem Vorrate wurden mir sogleich zuteile, die ich wie Siegeszeichen auf meinem Rücken am hellen Tage nach Hause trug.

Schmidt war der berühmteste, wo nicht der geistvollste deutsche Kupferstecher seiner Zeit. Er war im Jahre 1712 am 24. Januar mit Friedrich dem Großen in einer Stunde geboren. Die Freude seiner Mutter, als sie die Kanonen um die Geburt des Kronprinzen donnern hörte, überbot die Schwäche der Wöchnerin, indem sie ausrief: »Ich habe ein großes Glück geboren! Mein Sohn wird die Freude und die Ehre seines Namens sein!« – Dies Familienzeichen ward in unserm Hause an jedem 24. Januar aufgefrischt, wie alles, was sich nur mit dem großen Friedrich in Beziehung bringen ließ. Wenn solche Anregungen von einer Seite und auf der andern die Aussicht auf ein nährendes und edles Gewerbe, das fast alle schönen Künste umfaßt, wozu mir aber die Neigung fehlte, mich hin und her rissen, so war ich auch leichtsinnig genug, in den Tag hinein zu leben, so daß von keiner Seite etwas Ordentliches geschah. Schon beim Stadtpfeifer hatte ich nach Art dieser Leute alle gangbaren Instrumente versucht, ohne auf einem etwas Rechtes zu[228] leisten. Auf die nämliche Art wurde komponiert, Sinfonien, Konzerte und was mir gefiel, zu schreiben, ohne etwas zu vollenden. Dazwischen wurde gezeichnet, Mechanik und Perspektive, welche auf der Akademie gelehrt wurden, getrieben, Verse gemacht, sogar italienische und lateinische, und was sonst so gut war als nichts. Auch hatte man sein Schätzchen, und zärtliche Briefchen wollten auch geschrieben sein. Ein Freund meines Vaters ließ seine Töchter im Tanzen unterrichten, wozu auch ich gezogen war. Der Mann war ein wohlhabender Butterhändler und nicht ohne Ansprüche auf gesellschaftliche Bildung, denn seinen Hund nannte er Canis und seine Töchter ließ er im Französischen, im Singen und Spielen unterrichten, wie es die Zeit erforderte. Hier lernte ich den sehr geschickten und fleißigen Organisten Ringk kennen, der mich lieb gewann wegen meiner Luft zur Musik, und ich wüßte ihm manchen Fingerzeig zu verdanken. Da in diesem Hause fast alles musikalisch war, denn auch der Vater spielte Violine, so fand ich hier Gelegenheit, ein Konzert anzuordnen, das ich beschaffte und dabei so despotisch verfuhr, daß, als man zugleich eine zärtliche Neigung zwischen mir und der sehr artigen jüngsten Tochter bemerkte, man sich meiner auf gute Art zu entledigen wußte. Denn als ich eines Abends mein Konzert abgespielt hatte, sagte der Vater, nachdem er mein Spiel übermaßen gelobt, ganz lakonisch: »Mit heut hören unsre Zusammenkünfte vor der Hand auf, weil die Nachbarn darüber reden, daß in einem Butterkeller Konzerte und noch andre Dinge gehalten würden.« –

In der Geometrie war ich etwa so weit, um die Prüfung als Feldmesser zu bestehen, weil ich nichts anderes dachte, als mich nur erst vom Handwerke zu entfernen.[229]

Dazu wollte jedoch mein Vater nicht lauten und übergab mich dem Geheimen Rat Riedel dem Ältern zum Unterricht in der bürgerlichen Baukunst. In Riedels Hause fand ich ein Klavier, einen alten Jäger, der Orgel spielte und ausgelassen musikalisch war. Riedel selbst kannte nichts über Musik. Dieser erfand am Klaviere phantasierend artige Melodien, die ich zu Papiere brachte und auf gefällige Art variierte. Da ich ein flinker Bursch und nicht ohne allgemeine Fähigkeit war, so wurde ich meinem Riedel bald so wert, daß er mich nicht gern vermißte und mich auf Baukommissionen als Kondukteur mit sich in die Provinzen führte, wodurch ich nicht ohne Gewandtheit in Baugeschäften blieb. Da ich ihm treu ergeben und unverdrossen war, so durfte er mir manches anvertrauen, daher er denn bis an seinen Tod mich seiner innigen Freundschaft gewürdigt hat.

Indem ich mich unter Riedel praktisch mit Mechanik und Statik beschäftigte und deshalb die Wassermühlen der Stadt besuchte, ward ich mit dem Mühlenmeister Bruwill bekannt, der die Werderschen Mühlen beschaffte. Diesen fleißigen und geschickten Mann arbeiten zu sehen und ihm dabei helfen zu wollen, war mir ein rechtes Fest, und da er sich eine kleine Orgel, eine Violine, auch einen Flügel nach guten Mustern verfertigt hatte, so besuchte ich ihn oft genug, da man denn zuletzt aus der Mühle hinaufstieg in die Mansarde, wo die einzige Tochter, etwa in meinen Jahren, sich auf dem genannten Flügel nicht un eben hören ließ.

Ganz natürlich ward hier sogleich geankert, um nach und nach fast täglich um ein schüchternes, sittsam erzogenes weibliches Wesen zu sein, dessen Fähigkeit ich bald bewunderte. Ich lehrte sie, so gut ich konnte, einen bezifferten[230] Baß spielen. Es ward gesungen, und sie fand so schnell das Rechte, daß mein Wissen bald nicht mehr ausreichte und ich in die Notwendigkeit kam, mich selber vorzuarbeiten.

Da ich mich hier wie ein Bruder betrug, so blieb ich ganz wert gehalten. Der Vater wollte mir wohl, und die strenge Mutter schien mich gern bei ihrer Tochter zu sehen. Ein mäßiges Quartett hatte schon vor mir sich hier zusammengefunden, woran auch Possin teilnahm, und endlich fanden sich noch zwei Flöten dazu. Die beiden Bläser waren Brüder und verwandelten dies einsame Mühlenkonzert, welches alle vierzehn Tage stattfand, in ein Kränzchen, das nun wöchentlich gehalten wurde. Rosine, die Schwester dieser Brüder, ein frisches, entschlossnes Mädchen, die wohl an Werthers Lotte erinnern konnte, war nicht musikalisch, aber ausnehmend liebenswürdig. Sie hatte ihren Bräutigam durch den Tod verloren. Der junge Mann war mir wert gewesen. Er führte unsre Konzerte an, und ich spielte mit ihm von einem Blatte. So sehr mir das Mädchen gefiel, hatte ich keine Absicht, mich ihr besonders wert zu zeigen. Ich nahm Anteil an ihrem noch frischen Verluste, was jedermann tat, denn jedermann sah sie gern. Ohne Poschen, Culs und falsche Aufsätze trug sie sich so nett und eigen, daß sie ohne Neid gefiel, wie denn auch ihre kleine Haushaltung ein Muster war von Sauberkeit und Ordnung.

Daß ich außer den Konzerten auch hier mit dem Brüderpaare abends Trios spielte, ward bald genug bemerkt, und als ich eines Nachmittags in die Mühle kam, die Mutter allein fand, zog diese etwas heftig los auf die jungen Männer, welche von einer Blume zur andern naschen. Diese Predigt, welche ich geduldig ausgehört[231] hatte, verursachte, daß ich seltner und zuletzt nur zu den Konzerten in die Mühle kam.

Die hieraus entstandne Lücke in musikalischen Übungen fand ich Gelegenheit dadurch zu decken, indem ich in Komödien und Opern die Violine mitspielte, dadurch ein freies Theater gewann und doppelt entschädigt war.

Um diese Zeit war der treffliche Georg Benda von Gotha nach Berlin gekommen, den ich im Orchester des Döbbelinschen Theaters kennenlernte, woselbst er die Proben seiner Opern und Melodramen eigen[d]s anführte. Indem ich diesen Proben mitspielend beiwohnte, mochte der gute Benda meine Teilnahme an seiner Musik und an seiner Direktion wahrgenommen haben, denn wo er mich sah, war ich seines freundlichen Grußes gewiß. Er ließ das Orchester fast allein gehen, als wenn er zu erfahren gedächte, ob und wie es sentierte. Dann pflegte er durch gemäße Worte aus dem Stücke selbst dazwischenzureden. Dadurch wurde das Orchester zur mithandelnden Person und blieb im Zusammenhange mit dem Theater. Was auf diese Art gelang, konnte ihn in sichtbares Entzücken setzen, und unser Orchester hatte sich noch niemals so belohnt gefunden. Nun konnte er auch ernsthafte Forderungen machen, die man ihm als einem gefeierten Gaste wohl zugestand. Von italienischen Sängern her war ein Gebrauch auf die damals noch jugendliche deutsche Oper übergegangen, demzufolge die Sänger in den Proben sich kaum hören, noch weniger verstehen ließen (ein Gebrauch, der längst wird abgekommen sein; wir erzählen alte Geschichten). In einer Probe der Oper »Romeo und Julia« zu Anfang des zweiten Akts tritt Laura, Juliens Kammerfrau, heraus mit den Worten: »Ach, eben schloß ihr tränenmüdes Auge der[232] Schmerzenstiller Schlaf.« Diese Worte wurden so unvernehmlich gesungen, daß Benda die Sängerin anredete: »Wer schläft denn, die Herrschaft oder das Gesinde?« – Die Sängerin faßte sich und sagte: »Verzeihen, Herr Kapelldirektor, ich dachte, es sei Probe?« – »Die Probe, meine schöne Laura,« versetzte Benda, »ist eine Aufführung, und zwar für uns. Unser Beifall will auch verdient sein; wir probieren nicht ob wir können, sondern vielmehr was wir können.« – Die Szene ward von neuem wiederholt, und die gefällige Sängerin wußte den guten Humor wiederherzustellen. Nun aber an der nämlichen Stelle bliesen die Hörner etwas zu scharf. »Sachte, sachte, meine Herren!« rief Benda, »bitte, bitte, nun hören Sie es ja: das liebe Kind ist eben eingeschlafen. Daß wir sie ja nicht wieder aufblasen!« – Unter solcher Anführung kam das Orchester mit wenigen Proben so in eins, daß die Proben selber zum größten Vergnügen der Teilnehmer ausfielen.

Einst faßte ich den Mut, ihn zu fragen, ob ich ihm wohl ein Violinsolo von seiner Arbeit vorspielen und um seine Zurechtweisung bitten dürfte, was er höchst freundlich erlaubte. Nachdem ich mein Solo abgespielt hatte, sagte er nach einer sehr langen Pause in seinem böhmischen Deutsch: »Wenn ich mit der Absicht spiele, um mich hören zu lassen, so stelle ich mir vor, ich spiele aus dem Stegreife, tue auch wohl hinein, was nicht eben dasteht; außerdem halte ich das Abspielen der Konzerte für nichts mehr als das Aufsagen eines Pensums, denn wenn es mir kein Vergnügen machen sollte, so wüßte ich gar nicht, wie ein anderer daran wollte Freude haben.« – Mit dieser Lektion ging ich, eben nicht geschmeichelt, von dannen und hatte sie nicht einmal verstanden. In der[233] Nacht wachte ich auf. Das Wort des Meisters ging mir wie ein Mühlrad im Kopfe herum; das Solo wurde wieder vorgenommen, und nun merkte ich, daß manches unbeholfen herauskam, wie ich es auch übte. Endlich glaubte ich, hinter das Rätsel gekommen zu sein; ich veränderte die Konzertstimme nach meiner Hand, spielte sie ohne Sorge und zuletzt sogar mit Beifall. –

Die Brüder waren nun eigentlich meine Leute nicht. Sie trieben Chemie; das Blasen auf der Flöte ging ihnen schwer ab und wollte nicht besser werden. Desto lieber war mir die Schwester geworden, und um ihretwillen hielt ich aus. Eines Abends wurde vom ältesten Bruder behauptet, die Flöte sei ohne Vergleich das schwerste aller Instrumente, was nicht bestritten wurde, da er kein andres Instrument spielte. Rosine, welche jede Unterhaltung zu beleben wußte, verlangte durchaus meine Meinung, und ich sagte: »Man kann, was man will, wenn man die Nase danach hält!« – »Nun,« sagte der Älteste, »so halten Sie einmal die Nase danach! Wollen Sie einmal, was man kann, und blasen über vier Wochen ein Flötenkonzert!« – »Wenn ich nun aber nicht wollen will,« sagte ich, »so brauche ich auch nicht zu können! Sie sind es ja, nicht ich, der da will!« Indem fiel mir mein guter Kapelldirektor Georg Benda ein. Ich fuhr fort: »So etwas tut man nicht um nichts! Gäbe es etwas zu schmausen dabei, so ließe es sich Rat leben.« – Rosine, die gern kochte, war gleich mit einem artigen Souper bei der Hand, indem sie zugleich die mäßigen Kosten veranschlagte, die der Verlierer bezahlen sollte. Ich veränderte nun ein bekanntes Flötenkonzert so, daß die Begleitung die nämliche blieb und ich die Hauptstimme ohne Anstrengung herausbringen konnte. Meine Wette war,[234] nicht ohne alle Widerrede, gewonnen; aber Rosine hielt darauf, daß mir kein Unrecht geschehen durfte, und man hatte einen lustigen Abend. Solche Späße zogen mir auch wohl manchen Beinamen zu, den Rosine erfand, und nun hieß ich: »Der Konzertmeister.«

Ein andrer Beiname entstand auf folgende Art: »Der Dicke« – so nannte man den jüngsten Bruder – hatte sich verheiratet. Die Frau war guter Hoffnung und ihre Entbindung näher, als sie selbst glaubte. Eines Nachmittags fand ich die beiden Eheleute ganz allein und wurde gebeten, dazubleiben, um L'hombre zu spielen. G egen Abend klagte die Frau über Wehen, welche so plötzlich zunahmen, daß der Mann in größter Eile fortlief, um Hilfe zu holen, die auch nicht lange ausblieb. Unterdessen aber war bereits ein Sohn angekommen, den ich auf meinen Knien zwischen meinen Händen hielt und den kleinen Zappler der Geburtshelferin auslieferte, die denn das letzte verrichtete. Ich war einer Ohnmacht näher als die Wöchnerin, welche sich ganz munter befand, und als Rosine nach Hause kam und die Geschichte erfuhr, sagte sie: »Das ist ja ein Junge wie ein Hirsch!« Und nun hieß ich »Der Hirschfänger«. –

Ein edler Mann bewarb sich um die Hand des trefflichen Mädchens, und sie lebte als glückliche Mutter zweier tüchtiger Söhne. Was mich schon früher, und endlich ganz von diesem Hause entfernte, will ich nicht verschweigen. Eine von Rosinens Freundinnen fand sich gern des Abends zu uns, eine ausgewachsne ernsthafte Figur mit großen blauen Augen. Einige Gedichte, die mir Rosine in Musik zu setzen gegeben, waren von dieser Freundin, ohne daß ich es wußte. Als ich sie vorsang, sah man Bella zum erstenmal auf das huldreichste lächeln. Sie sah über[235] allen Ausdruck schön [aus], und ich war nicht ungeneigt, solche Wirkung meiner Melodie zuzueignen. Nach und nach fand man sich mehr zusammen. Ich begleitete sie oft nach Hause, und was wir sprachen, gefiel uns. Eines Abends in unsrem Kreise war ich ausgelassen aufgeräumt und konnte mich wohl über Maß verstiegen haben. Bella ward still und entfernte sich noch vor dem Abendessen. Rosine ging ihr nach und kam verdrießlich zurück. »Sie weiß nicht, was sie will,« sagte Rosine; »sie will sich nicht halten lassen. Ich will's nur heraussagen: Bella glaubt, Zelter ist betrunken, wovor sie einen großen Abscheu hat.« – »Glauben Sie das auch?« fragte ich hastig. »Das ist ja eben, als wenn ich sagte: Bella ist verrückt, wovor ich einen großen Abscheu habe.« – Der Vorfall wurde durchgesprochen, und kurz, es war ein verdorbner Abend. »Das wollen wir bald wieder zurechtsetzen«, sagte Rosine. »Bella ist nicht gescheit. Sie sieht Sie gern, sehr gern. In Summa, ihr habt euch alle beide lieber, als ihr es selber wißt!« – Ich ward ungeduldig, glaubte mich beleidigt und sagte: »Sie reden wie ein Kind!« – »Dann rede ich auch die Wahrheit!« versetzte sie, »was wollen Sie leugnen, was ich besser weiß?« – »Was kann ich dafür,« sagte ich, »wenn Sie besser wissen, was ich nicht wissen will!« – »Das ist ein andres«, sagte Rosine, die recht geschickt einzulenken wußte.

Eine aufrichtige Neigung zu diesem edlen Mädchen konnte ich mir freilich selbst nicht verbergen, die jedoch mit einer Art von Furcht vor ihrer Gegenwart vermischt war, weshalb ich ihr am liebsten schrieb. Nach etwa acht Tagen begegnete ich Rosinen auf der Straße. »Wo wollen Sie hin?« fragte sie. – »Zu Ihnen!« war meine Antwort. - »Gut,« sagte sie, »kommen Sie mit herauf zu Bella,[236] und in einer halben Stunde gehen wir zusammen.« – Ich ließ es geschehn. Bella fanden wir am Fenster sitzend, und eine Freundin bei ihr. Sie war still und schien mir wundersam anders aussehend. Ich wußte allerlei zu erzählen, was sie nach gewohnter Art ruhig anhörte. Zum Abschiede erinnerte ich sie, mir gewisse Verse mitzugeben, wel che in Noten zu setzen sie mich schon ersucht hatte.

Auf einmal fielen ihr große Schweißtropfen vom Haupte; sie schäumte, sprang umher, schrie, schlug und stieß um sich; kurz, sie ward vor unseren Augen völlig rasend. Meine gute Kraft war nicht hinreichend, sie zu halten, um die erschreckendsten Gebärden zu verhindern. Die beiden Frauenzimmer wurden zurückgestoßen. Endlich kam Hilfe, und wir mußten dem geliebten Wesen die schönen Arme binden sehen, indem sie auf herzzerreißende Art über Gewalt schrie.

Der Schreck und die Pein bei dieser Arbeit bedarf keiner weiteren Worte; ich selber fürchtete unsinnig zu werden und konnte lange keine Ruhe finden.

Sie starb wahrscheinlich im Irrenhause. Ich hatte nicht das Herz, danach zu fragen und große Mühe, mir das edle Bild wieder in seine vorige Anmut zurückzurufen. Nachher verlautete, ein junger Militär von Familie habe sich um sie beworben; der Vater aber habe das Verhältnis nicht gestatten wollen, weil der junge Mann dem Trunk ergeben gewesen.

Ihre Schwester war an den Mathematiker Euler verheiratet. –

Rosinens Verheiratung schien kein Hindernis zu sein, mein Wohlgefallen an ihr zu behalten, indem sie sich als Frau womöglich noch besser ausnahm. Eines Abends kamen wir in größerer Gesellschaft von einer Landpartie[237] zurücke; jeder führte seinen Part, und da Rosine sich zu mir zu halten pflegte, weil wir beide frisch auf den Beinen waren, so waren wir allein weit voraus an Rosinens Wohnung angekommen. Wir hatten die beiden Treppen erstiegen und standen vor der Türe, als Rosine ausrief: »Nun können wir eine Stunde hier warten! Mein Mann hat den Stubenschlüssel!« – »Das hat nichts auf sich«, versetzte ich, zog meinen eignen Stubenschlüssel hervor und schloß zu meiner eignen Verwundrung die Tür damit auf. Als die anderen nachkamen, fanden sie das Abendessen serviert. Man setzte sich zu Tische. »Wie bist Du denn hereingekommen?« fragte der Mann, »ich habe ja den Schlüssel bei mir!« – Rosine erzählte nun in aller Lust und Unschuld den Vorfall, und es wurden spaßhafte Glossen gemacht, deren Wirkung mich hinlänglich belehrte, wie weit man in solchen Dingen gegen respektable Personen zu gehen habe. –

Possin, der nach dem Willen seines Vaters die Handlung hatte lernen müssen, besaß ein glückliches Naturell, Widerwärtiges gefaßt zu ertragen, ja sich solches zunutze zu machen. Sein Lehrherr stand in Verbindung mit französischen Handlungshäusern. Durch diese Gelegenheit ward Possin der französischen Sprache und des Buchhaltens so mächtig, daß man ihn nach vollbrachten Lehrjahren ungern fahren ließ. Unterdessen hatte er sich durch *** beim Lotteriewesen eine Sekretärstelle ausgemittelt, die ihm so viel Zeit übrig ließ, in der französischen Oper die Bratsche so gut als möglich zu spielen. Hier lernte er den nachmaligen Kapellmeister Schulz kennen, der das Orchester anführte. Daß Schulz ihm nicht gewogen war, wurde bald bemerkt, und Possin[238] fürchtete deswegen, vom Orchester verabschiedet zu werden, woran vielleicht sein Äußeres mit schuld sein mochte. Auch hier wußte er sich jedoch zu helfen; er ging zum Musikdirektor, der ihn bis jetzt nach außen beurteilt hatte, und bat um seinen Unterricht in der Komposition. Schulz wies ihn lächelnd an Kirnbergern, dessen Schüler er selber war, mit dem Bemerken, daß Kirnberger der bessere sei. Possin sagte, er wünsche sich nur erst das Gute; das Bessere, hoffe er, werde sich finden; darum sei er hieher gekommen und bäte Herrn Schulz, sich seiner anzunehmen. Schulz, liebenswürdig und verständig, mochte den sanften Vorwurf fühlen und versprach, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Nach wenigen Monaten behauptete Schulz, noch keinen solchen Schüler gesehen zu haben, und es entstand eine aufrichtige Freundschaft zwischen Lehrer und Schüler. –

In meinem dreiundzwanzigsten Jahre stellte mich mein Vater an, den Bau des Artillerieschmieds Göricke als Polier[er] auszuführen. Er hatte mir dabei einen alten, verständigen Gesellen namens Lorenz zur Hand gegeben. Nach Handwerksgebrauch verfertigte ich hier mein erstes Kreuzgewölbe mit alleinigen Händen und wollte mir durchaus dabei nicht helfen lassen. Mit Zuziehung eines ganz rohen Lehrburschen riß ich mir die Lehrbogen vor, arbeitete sie sauber aus und stellte sie auf. Wie ich in dieser Arbeit begriffen war, sagte der Lorenz: »Herr Polier[er], das geht nit!« – Ich antwortete: »Wenn's nur steht!« – Er fuhr fort: »Es steht auch nit!« – »Nun,« sagte ich, »so will ich's tragen!« – Mein Gewölbe war geschlossen. Der Lehrbursche mußte oben die Widerlager ausmauern, und ich ging unters Gewölbe und schlug die[239] Lehrbögen heraus. Mein Gewölbe aber fiel mitsamt dem Lehrburschen so hart in den Keller, daß ich beinah erschlagen wurde. Indem ich mich aus den Trümmern hervorarbeitete, kam eben mein Vater gegangen, der ohne Verdruß einige scherzhafte Worte zu Lorenz sprach und hinzusetzte: »Laßt ihn! Wer nichts baut, dem wird nichts einfallen!« – Mein Lehrbogen wurde sogleich wieder aufgestellt. Den Fehler hatte ich bald eingesehen; das Gewölbe stand und steht noch. –

Im Jahre 1782 ward in der St. Georgenkirche eine neue Orgel gebaut, und ich gedachte, zur Einweihung derselben eine neue Jubelmusik zu setzen. Kantor Schmidt und der Organist Böhme machten große Augen, daß ein Mauergesell eine Kirchenmusik bauen wolle, und nahmen meinen Antrag kalt genug auf.

Die Schwierigkeit, einen Text zu finden, der so gut gewesen wäre, als meine Musik werden konnte, war bald überwunden. Ich fand einen schon einmal vom Kantor Kühnau komponierten Text nicht zu schlecht, und was meine Komposition anlangte, so hoffte ich, hinter meinem Vorgänger nicht zurückzubleiben.

Nach tausend Hindernissen, da mir niemand zu Hilfe kam, weil man nichts erwartete, wurde meine Musik in der Kirche aufgeführt. Mein guter Stadtpfeifer George umarmte mich väterlich entzückt und stellte mich seinen Leuten, die mich bisher wie einen Böhnhasen ansahen, zum Muster dar. Der berühmte Marpurg kam aufs Orgelchor, legte seine Hand auf meine Achsel und munterte mich zum Fleiße auf, indem er meine Keckheit lobte. Ich durfte diesen Tag zu den glücklichen zählen, denn anch Kantor Schmidt lud mich ein zu einem Schmause dieses Tages, wo mir der Ehrenplatz zwischen der Frau[240] Kantorin und einem artigen Mädchen angewiesen wurde. Was ich nun auch mochte geleistet haben, so hatte die Sache in ihrer Art Aufsehn gemacht, wenn auch mein Vater keinen Anteil merken ließ. Kirnberger ließ mich zu sich kommen, verlangte meine Musik zu sehen und schalt mich derb darüber aus. Seine Schülerin, die Prinzessin Amalia, Schwester Friedrichs des Großen, ließ mich rufen und verlangte, daß ich auf ihrer Orgel spielen solle. Ohne Vorbereitung und Vorrede setzte ich mich hin und spielte.

Als ich lange noch nicht fertig war, sagte die Prinzessin: »Hör Er man auf. Er kann ja nischt. Da reden die Menschen gleich von Genie! Das is ja nischt. Geh' Er man zu Kirnbergern, der wird Ihm schon sagen, wo's Ihm sitzt, denn was Er da macht, is alles nischt nutze.« – Wo mich nun diese gute Prinzessin hinschicken wollte, da war ich schon gewesen, und diese doppelte Demütigung würde mich umgebracht haben, wenn ich vor Leichtsinn, Schüchternheit und was sonst der Jugend beiwohnt, an etwas andres gedacht hätte, als es besser zu machen.

Auch war ich in der Tat nicht der Meinung, etwas Besonderes geleistet zu haben. Indessen wurde diese nämliche Musik bei anderer Gelegenheit, wozu Burmann einen andren Text unterlegte, mehrmals wiederaufgeführt. Hier hörte sie der schon genannte Kapellmeister Schulz, der mir darüber manches Belehrende sagte, was mich wieder ermunterte. Wenn ich über diese ersten Versuche hier ausführlicher gewesen bin, als es eine Schülerarbeit verdient, so darf ich hinzusetzen, daß ich ihn ganz vergessen hätte, wenn nicht der sehr geschickte und bekannte Musikdirektor Schicht in Leipzig diese Musik ohne mein Wissen sich anzuschaffen gewußt hätte, der sie mir[241] denn vor einigen Jahren bei meiner Anwesenheit in Leipzig, also nach vierzig Jahren, vorzeigte. Der nächste Vorteil, den ich nun von dieser Musik hatte, bestand darin, ein Ganzes angefertigt zu haben, dessen Überblick mir die Einsicht gab, was mir fehlte. Was ich bisher gemacht hatte, waren Sonaten, Sinfonien, Konzerte; Namen, die alle drei das nämliche aussagen, aber indem sie einer wandelbaren Observanz unterliegen, keinen festen Begriff einer Form geben, ja späterhin Formlosigkeit als Bedingung angenommen haben. Meine neue Orgelmusik war für den höchsten Ort, für das tiefste Gefühl bestimmt, und da ich von meiner Mutter religiös erzogen war, so fühlte ich hier zum ersten Male das Bedürfnis eines Stils.

Daß zu einem guten Stil eine gute Kunst gehöre, die ich als Anfänger nicht besitzen konnte, war mir klar. So beschloß ich, zu einem Meister zu gehn und die Schule zu machen.

Meine Wahl war bald getroffen. Sie fiel auf Fasch, den ich längst im stillen verehrte, ohne seine Arbeiten zu kennen. Zu diesem ging ich, brachte ihm einige meiner Arbeiten und bat um Unterricht. Er sah sie mit Ruhe durch und nahm mich an. Da er aber, wie viele andre, mich für weiter hielt, als ich war, so wurde abermalen beliebt, da anzufangen, wo wir hätten aufhören dürfen; kurz, Fasch behandelte mich nicht als einen Lehrling, sondern wie einen Dilettanten, was zu meinem größten Verdrusse viel zu spät von mir bemerkt wurde, wodurch sich denn endlich ein Widerwille gegen die Dilettanterei in mir ausbrütete, der mir in der Folge manchen Verdruß gemacht hat.

Allerdings war es seltsam, nicht für das gelten zu wollen, wozu ich mich äußerlich bekannte und dadurch[242] einen verfehlten Beruf zu erkennen gab. Fasch glaubte seinem Schüler abraten zu müssen, die Musik als Bestimmung fürs Leben zu ergreifen. Kirnberger tat das nämliche und pflegte dazuzusetzen: »Wer uns nachfolgen will, der lerne erst sein Kreuz tragen!« – Das konnte jedoch mich nicht rühren, da ich eines guten Handwerks gewiß war und meine Luft an der Musik in der Tat an Schmerz grenzte. Es war mir daher bitterer Ernst, das Höchste einer Kunst zu überkommen, mit der ich mein Tiefstes verwandt fühlte, und wenn mir alles merken ließ, daß mein Vaterland dafür kein Grund und Boden sei, so wollte ich ihn suchen und finden. –

Seit Jahr und Tag war ich in einem Hause gern gesehen, wo die älteste Tochter, ein ganz vorzügliches Mädchen, das Klavier spielte und eine sehr schöne Stimme hatte. Diese, ob sie gleich einen Singlehrer hatte, wurde von mir nebenher auch im Singen unterrichtet und machte von nun an so bedeutende Fortschritte, daß der gut bezahlte Singlehrer, der zum Überfluß Bach hieß, in großen Ruf kam. Ihre Schwester Janny beschäftigte sich mit Malen, und mit dieser geriet ich bald in ein leidenschaftliches Verhältnis. Wir kamen überein, heimlich nach Italien zu gehen, wo sie ihrem Vorbilde, der berühmten Angelika, nahe sein, und ich das Land der Gesänge mit eigenem Munde küssen wollte. –

Eines Sonntags sagte mein Vater mit ungewohnter Heiterkeit: »Mein Sohn, morgen ist Quartalversammlung der Meisterschaft, und da sollst Du Dich melden, das Meisterstück zu machen.« – Hieran war schon lange nicht mehr gedacht, und ich hätte die Sache gern für Spaß genommen, doch ich wußte, daß mein Vater, wenn er das Wörtchen »soll« aussprach, nicht spaßte.[243]

Auf seine Rede wußte ich daher nur zu sagen, daß von meinem guten Willen alles, nur kein Meisterstück zu verlangen wäre. – »Ich danke für die gute Lehre«, sagte mein Vater; »Du wirst Deine Schuldigkeit tun wie jeder andre. Man wird von Dir verlangen, was billig ist, und wenn man Dich Meister heißt, dann wirst Du anfangen zu lernen. Der Fleiß, die Notwendigkeit, die Verlegenheit, das sind die Lehrer, ohne welche es keinen Meister gibt. Ich weiß nur zu gut, daß Du am liebsten Musik machst, und habe Dich ungern darin stören wollen. Du bist jedoch alt genug, um einzusehn, daß man nicht immer das Vaterhaus hat und den gedeckten Tisch, und daß zum Leben noch mehr gehört als Musik, Sonnenschein und dergleichen schöne Sachen. Du mußt ein Bürger werden, ein Vater Deiner und anderer Kinder, und wenn diese leben sollen, so mußt Du zu leben haben. Meine Vaterpflicht ist es, Dich, meinen einzigen Sohn, so gut ich kann, in den Zustand zu versetzen, der Dich unabhängig macht und zum Herrn Deines Willens. Ein Maurermeister darf ein großer Künstler sein und Hütten, Häuser, Paläste und Tempel bauen, die man haben und bezahlen muß. Das weiß ich, weil ich mich dabei immer wohl und rechtfertig befunden habe. Musik, und was Ihr Herren Kunst nennt, ist eine schöne Hoffnung. Hoffen ist kein Haben, und Haben kann nur durch Schaffen erlangt werden, was freilich der Künstler auch kann; aber die Kunst ist lang, und leben ist die erste Kunst, von der die anderen alle zehren. Weiß ich doch, daß hier wie überall Ausnahmen sind von der Regel, denn großes Talent ist mächtig und läßt sich nicht gebieten. Es duldet lieber und leidet lieber, als daß es von sich selber abließe, – ein solches Talent kann ich in Dir nicht finden, und darum ist es besser, Du gehst meinen[244] Weg als einen solchen, den wir beide nicht kennen. Das Handwerk hat seine Stufen. Auf jeder kann man ehrlich stehen. Der unverdrossne Anfänger, der fertige Gesell, der kluge Polier[er], den Du anziehst und festhältst, diese machen Dich zum Meister. Ich kann wohl sagen: solchen Leuten bin ich manches schuldig worden. Kurz, ein wohlbekannter Handwerker ist immer besser daran als ein mittelmäßiges Talent, das die Kunst als Handwerk gebrauchen muß.« –

Solche Vorstellungen wirkten um so mehr bei mir, da ich ein unermeßliches Zutrauen zu meinem Vater und keine zu große Meinung von meinem Talente hatte.

Was mich dabei am verlegensten machte, war meine jetzige Lage. Mit Janny wollte ich nach Italien laufen, bei Fasch wollte ich den Kontrapunkt lernen, und auf ein Handwerk, das ich nicht liebte, sollte ich Meister werden, wobei ich denn in Gefahr war, mich zu prostituieren, indem ich das Meisterstück in künstlerischem Sinne nahm. Nun traute ich mir auch wohl zu wenig zu, wenn nicht meine angenommne Bescheidenheit längst entschiedne Unlust war. Ein Meistersohn, der nicht von der Natur selber verlassen ist, hat von allen Seiten Gelegenheit, das Handwerk in sich aufzunehmen, ohne es grade zu beobachten, um so mehr, wenn die Hausfrau Anteil nimmt, wie es meine Mutter tat, ja die Bauten besuchte und meines Vaters Leute, welchen von ihr ausgezahlt wurde, richtig beurteilte. Zu den Leiden, die sie mit mir getragen hatte, erzählte sie gern, daß sie einmal von der Rüstung gefallen sei, indem sie mit mir schwanger war, und daß ich zu einem Maurer müßte geboren sein. Daneben hatte sie schon früher achtzehn Jahre hindurch zwei Ziegeleien, welche mein Vater gepachtet hatte, fünf Meilen von[245] Berlin, die eine Stunde weit auseinander lagen, mit einer Sicherheit bewirtschaftet, deren sich ein Mann hätte rühmen dürfen, dessen einziges Geschäft es gewesen wäre, gegen zweihundert Arbeiter anzustellen und zu beaufsichtigen.

Als Beleg ihres Benehmens in diesem Geschäfte möge folgender Vorfall dienen: Friedrich der Große ließ gleich nach dem Siebenjährigen Kriege besonders in Potsdam so eifrig bauen, daß die Ziegeleien kaum so viele Steine beschaffen konnten. Darüber wurden die Arbeiter aufsässig und forderten größeren Lohn. An einem Sonntage in Abwesenheit meines Vaters versammelten sich unsre Arbeiter an der Ziegelei vor dem Hause, stellten sich im Halbkreise auf, und sangen, mit ihren Stöcken zeigend, in hundertstimmigem Unisono: »Will se woll Lohn toleggn! Will se woll Lohn toleggn!« unter unaufhörlichem Da Capo.

Indem sie sich nun einstweilen zu erholen schienen, trat meine Mutter, eine hochgewachsne Frauengestalt, mitten unter sie:

»Ihr guten Männer« (die Weiber hatten sich gleich hinter ihren Männern gelagert), »es ist heute Sonntag. Ihr wißt, daß ich euer mehr als je benötigt bin und nie verlangt habe, den Sonntag durch Arbeit zu entheiligen, die ich euch gern vergütete. Nun legt ihr euch selber die saure Arbeit auf, hier zu musizieren, und habt nichts dafür als die schnöde Freude, mich zu ängstigen, die ich verlassen unter euch stehe und nur den unmündigen Sohn neben mir habe. Möchtet ihr nur bedenken, wie es euch gefiele, wenn sich ein Mann so gegen eine eurer Frauen ausließe, und euer sind so viele gegen eine! Ihr sollt aber nicht fehlgegangen sein. Wir sind in den längsten[246] Tagen, und wenn ihr morgens eine Stunde früher anfangt und abends eine Stunde länger arbeitet, Sonntags vormittag in der Kirche eure Andacht verrichtet und nachmittag, statt auf der Kegelbahn die Zeit mit Trinken vertut, so tut ihr euch und mir wohl, und mein Mann wird euch gewiß lohnen.« –

»Dat lett sick heren!« rief einer. Sie traten in Gruppen, berieten sich, Betrunkne wurden entfernt und die Ruhe hergestellt. – Als mein Vater von Berlin zurückkam, erzählte ihm der Ziegelmeister die Geschichte und setzte hinzu: »Herr Zelter! siene Fru, dat is en Mann! De verstaht den Rummel!« –

Sie konnte nur Gedrucktes lesen. Von ihrer Mutter selber war sie abgehalten worden, schreiben zu lernen, weil es für unnützlich, ja für schädlich gehalten wurde, daß ein Mädchen schreiben könne. Hierüber war sie in ihrer jetzigen Lage sehr traurig. »Ja, wenn ich schreiben könnte!« seufzte sie oft, indem sie ihre Kinder glücklich pries. Mein Vater, der als ein Sachse eine sehr schöne Hand schrieb, wußte diesem Mangel dadurch abzuhelfen, daß er alles mit Fraktur schrieb, welches die Mutter lesen konnte, was jedoch nicht überall ausreichte. Darüber wurde ich denn angehalten, ihr in allen diesen Dingen beizustehn. Mein älterer Bruder, der frühzeitig gestorben war, wurde von meiner Mutter tief betrauert. Wenn sie Sonntags mit uns zur Kirche ging, betete sie an seinem Grabe, und es schien, daß dieser Johann, wenn er gelebt hätte, der Sohn ihres Herzens gewesen wäre.

Eines Abends, ich mochte fünfzehn Jahre alt sein, kam ein Geschäftsbrief, der mit Ungeduld erwartet war. Mein Vater war verreiset, der Brief mußte erbrochen und beantwortet werden. »O mein Hannchen!« rief meine Mutter[247] in bittern Tränen, »wenn du nur lebtest, du hättest mich längst schreiben gelehrt!« – Ich war tief bewegt und erbot mich, sie zu unterrichten, so gut es mir möglich sein würde.

Es wurde sogleich ein Anfang gemacht, und nach wenigen Wochen fand sich mein Vater durch einen Brief von der Hand seiner Gattin überrascht, der einen ausführlichen Bericht über den Geschäftsgang der Ziegeleiangelegenheit enthielt. Meine Belohnung bestand in dem Ausspruche meines Vaters, daß dies das erste Gute sei, was ich mein Lebelang getan. – Meine Mutter aber beschenkte mich mit einem Friedrichsdor, eine für sie und mich unendliche Summe, die ich mir zu Pfennigen berechnete.

Wenn ich bisher die Zärtlichkeit meiner Mutter mit einem abgeschiednen Bruder teilen müssen, den ich kaum gekannt hatte, so ward ich von jetzt an mit einer Art von Respekt angesehen, dessen ich mich so wenig schämte, daß ich in der Tat fleißiger wurde, um die Aufmerksamkeit meiner Mutter gegen den jungen Lehrer zu rechtfertigen.

Wiederholtes Hin- und Herreisen zu den Ziegeleien, Holzablagen, Stadt- und Landbauten verursachten gleichfalls rührige Bewegung, die das ganze Haus in Anspruch nahm und in die Erziehung überging, woher mir denn dies Geschäftswesen nicht fremd sein konnte.

Jetzt war ich im vierundzwanzigsten Jahre, und wenn ich seit sechs Jahren zu eifrig Musik getrieben hatte, so tat ich doch auch aus Gehorsam, wozu ich angehalten wurde. Ich hatte die Anschläge zu berechnen, die Rechnungen in die Hauptbücher einzutragen, auszuheben und Konzepte zu mundieren. Im Zeichnen war ich wohl imstande,[248] einen Grundriß zu disponieren, ein Profil zu machen und dergleichen. Etwas Geometrie, Mechanik und Statik war auch vorhanden. Was ich las, verstand ich; was ich wußte, konnte ich nach meiner Art aufschreiben; ein Mauerwerk aufnehmen, ein Haus taxieren, und was sonst täglich vorkam. Das alles lag in mir wunderlich durcheinander und wartete auf Gelegenheit. Gemauert hatte ich vier Sommer hindurch, was nicht zu viel ist, doch hatte ich die verschiedenen Verbände der Mauergewölbe und Dacharbeiten eigenhändig versucht, unsre besten Arbeiter dabei beobachtet und nach Art junger Leute alles kindisch leicht befunden.

Dies wußte mein Vater, wenn ich es mir auch nicht anrechnete. Was mir fehlte, konnte ich erfragen, wie ich es brauchte; und so bestand er auf seinem Sinne, indem er mich nur in Zug zu bringen suchte. Ein Entschluß mußte gefaßt werden, und ich fügte mich in meines Vaters Willen.

Ein besonderer Umstand, der wohl anderen verdrießlich gewesen wäre, war mir dabei fast willkommen und unvermutlich förderlich obenein. Mit mir zugleich meldete sich noch ein Gesell zum Meisterwerden, der mir darum vorgezogen wurde, weil er das Gewerk wegen Hindernisse beklagt hatte und auf höhern Befehl ins Stück gesetzt werden mußte, zumal ich auch noch nicht ganz volljährig war.

Der Mann konnte für einen guten Maurer gelten, doch im Rechnen und Zeichnen war er nicht empfohlen. Fast schien es, als wenn er nur zum Stücke gelassen wäre, um mich dadurch ein Jahr länger aufzuhalten, womit ich keinesweges unzufrieden war, indem ich die offne Welt vor mir hatte. Da ich ihn hätte beneiden sollen,[249] so traute er mir nicht, und so ging man eine Zeitlang aneinander vorüber.

Er hatte das Papier, worauf seine Aufgaben sollten zu stehen kommen, auf ein Zeichenbrett gespannt. Es hatte aber große Falten, daß es unmöglich war, eine reine Horizontallinie zu ziehen. In dieser Verlegenheit klagte er sein Papier an, und ich ließ mich willig finden, ihm ein anderes aufzuspannen, das vollkommen anschloß. Nun klagte er über Augenschwäche. Dadurch bekam ich seine Aufgaben zu Gesichte, und indem ich ihn ausfragte, was er daraus zu machen gedächte, erkannte ich meine Überlegenheit, und daß die Sache nicht von der Gefahr sei, die ich mir dabei vorgestellt hatte. Ich unterstützte ihn mit Rat und Tat, und da niemandem einfiel, daß ich ihm günstig sein könne, so ward es anfänglich nicht bemerkt und ich der Vertraute seines Unvermögens. Da man ihm aber nicht zutraute, was er, zustande brachte, so wurde er eine Zeitlang so scharf beaufsichtiget, daß er den Mut verlor und seine Untüchtigkeit bekannte. Er wurde zurückgewiesen, und ob ich gleich keinen weiteren Verkehr mit ihm hatte, so ist er mir doch bis an seinen Tod als ein verbindlicher Freund erschienen, ohne den Vorteil zu ahnen, den ich selber davon hatte. Ich war nämlich dreist geworden, und meine ihm gewährte Hilfe war mir eine Vorbereitung, die ich kaum günstiger wünschen konnte.

Meine Aufgaben waren so beschaffen, daß ich mit dem, was ich aus dem Vignola und Penther und Vitruv wußte, vollkommen ausreichte und mir nebenher ganz ohne Sorgen noch mit Notenschreiben und Abendmusiken die Zeit vertrieb. Auch mein Vater wunderte sich, daß ich ihn um nichts befragte, wozu mich die Mutter hinlänglich[250] ermahnte. Ich war keck genug, diese Hilfe nicht zu suchen.

Nach zwei Monaten wurden meine Arbeiten abgeliefert. Wegen einiger Versehen und Nachlässigkeiten dabei ward ich vom Gewerke zu einer leichten Geldbuße gezogen. Ein bedeutendes Landhaus vor der Stadt, woran ich mich praktisch ausweisen sollte, war bereits angefangen, und binnen neun Monaten war ich auch hiermit so weit, daß nach einem beschließenden mündlichen Examen des Königlichen Schloßbaumeisters Naumann, wobei ich über meine eigne Erwartung zurechtkam, meine Probezeit als bestanden angesehen wurde.

Mit meinem fünfundzwanzigsten Jahre ward ich nun am 1. Dezember des Jahres 1783 ordentlich zum Meister gesprochen, und wenn ich bedachte, was ich mir in Jahresfrist abgewonnen hatte, so durfte ich ohne Unbescheidenheit etwas auf mich halten. Ich hatte mich zusammengenommen und durch Aufmerksamkeit in kurzem erstanden, wozu ich mir wohl die Kenntnis, doch nicht die Fertigkeit zutraute.

In elf Monaten hatte ich die sämtlichen Grundrisse, Hauptfassade und Profil zu einem fürstlichen Schlosse von 800 Fuß Front, von drei Geschossen korinthischer Ordnung, worin eine Kirche, ein Theater, und was sonst dazu gehört, nach meiner Art, doch bestimmt und reinlich gezeichnet, veranschlagt und endlich ein ganz massives Landhaus von drei Geschossen, 110 Fuß lang und 42 Fuß tief mit Gewölben und sämtlichen Feuerungen roh bis unter das Dach geliefert. Dabei hatte ich nicht einmal meine kontrapunktischen Studien versäumt; kurz ich war anerkannter Bürger und Maurermeister, und wenn's wäre verlangt worden, hätte ich mich wohl noch als[251] Musik- oder Kapellmeister einer viel strengeren Prüfung unterworfen, indem ich mehre[re], Konzerte dirigierte, als Komponist nicht ungünstig angesehen war, und auf drei verschiednen Instrumenten Konzerte spielte. –

War nun mein Vater hoch vergnügt, sein eingerichtetes Geschäft mit Haus und Hof seinem Sohne bei Leib und Leben zu vererben, um daran noch einmal sich seiner eigenen Jugend zu freuen, so fühlte der Sohn sich eben jetzt um so weniger glücklich.

Janny, welche sich schon seit einiger Zeit in Briefen zurückziehend erwiesen hatte, erklärte nun, da ich sie zur Meinigen machen durfte, mit umwundnen Worten, daß sie es nicht werden könnte, und das brachte mich fast zur Verzweiflung.

Sie war im neunzehnten Jahr, und ohne eine Schönheit zu sein, ein gesundes Mädchen von entschiednen Geistesgaben. Außer dem, was sie im Zeichnen und Malen leistete, sprach und schrieb sie vier Sprachen rund und natürlich, und da sie mich als ein rohes Naturkind beliebt und wert gehalten, liebte ich sie über Maßen, weil ich wohl bemerkte, wie sie seit zwei Jahren auf mein Äußeres und Inneres gewirkt hatte. Auch war sie dem Vertrauen auf mich so ergeben gewesen, daß wir halbe Nächte allein beieinander waren, und ich weiß kaum, wie es zuging, daß nicht das Letzte von uns gewagt wurde.

Was mich am tiefsten schmerzte, war, daß ich glaubte, sie gekränkt zu haben, und damit hatte es folgende Bewandtnis:

In einem Hause, wo es so gastlich herging und zwei anmutige Töchter sich mit Kunst beschäftigten, konnte es nicht an Gästen fehlen, wie ich denn hier mit Ramler,[252] Engel, Mendelssohn, Rode, Frisch, Leuchsenring, Chodowiecki, Stamford, Schulz, Reichardt und mehrern werten Menschen in nähere Berührung kam.

Da nun aber, was man Musik nennt, in guten Häusern zu den gesellschaftlichen Spielen gerechnet wird, so mußte ich mit Wehmut bemerken, daß man nur allein die zeichnenden Künste für Kunst gelten, mich jedoch als Musikliebhaber nur so mitlaufen lassen und keineswegs so viel zugeben wollte, als man sich selbst herausnahm. Eines Abends faßte ich das Herz, mit meiner Sprache herauszurücken und zu behaupten, es gebe nur eine Kunst, und was man Künste in der Mehrheit nenne, seien nur Zweige dieser einen Kunst. Ein Zweig aber sei kein Baum, und nur ausgemachte Philisterei könne eine Klassifikation anerkennen, nach welcher einer dieser Zweige über dem anderen erhaben sei; wie denn das ganze Altertum die Musen Schwestern nenne, von denen keine die herrschende sei, indem sie alle von einem Gotte beherrscht würden. Die Kunst an sich sei aber eine angeborne Wirkung geistigen Triebes im ganzen Menschengeschlechte, sich nach unendlichen Richtungen auszubilden und durch Nachahmung der Natur seine Verwandtschaft damit und seine Sehnsucht nach dem Unendlichen zu unterhalten. Nur in diesem Sinne sei Kunst und Wissenschaft eines ausschließlichen Bestrebens würdig; woraus endlich das Kunstwerk als ein drittes noch Unbekanntes hervorgehe, das immer den Namen des Künstlers tragen möge wie das Kind den Namen des Vaters.

Wenn ich mich damals anders mag ausgedrückt haben wie hier, so mag dies wie noch heute der Sinn meiner Worte gewesen sein, welche vielleicht noch derber, ja ungeschickt mögen herausgekommen sein; denn ich nannte[253] die meisten Künstler Abschreiber, die ein müßiges Handwerk trieben, das keinem zugute komme.

Hier war ich nun garstig angelaufen. Vier oder fünf junge Maler, die mich bis jetzt wie ein stehendes Wasser betrachtet hatten, fielen mich zugleich an, und da Janny von ihrer Profession war, so kamen sechs über einen. Was hier ins Blaue geredet worden, soll vergessen sein; ich war zufrieden, mein beladenes Herz ausgeschüttet zu haben. Die Wirkung meiner Rede aber brachte mir eine kühle »Gute Nacht« zuwege, und ich hatte eine sehr schlechte Nacht.

Als ein empfindsamer Liebhaber war ich schon von mancherlei Vorzeichen befangen, die sich jetzt erst belebten. Janny hatte mich mit dem schönsten Hündchen beschenkt, das ich mir zuziehen wollte. Es hatte mir einen von Jannys Briefen, die parfümiert waren, bis aufs Siegel aufgegessen, und ich hatte es grausam dafür bestraft. Mein Tasto ward darauf so krank, daß ich mit ihm zu einem Tierarzt gehen mußte, und das war der Scharfrichter Brand, den ich schon kannte. Der Mann verlangte, daß ich ihm den Hund dalassen sollte; dagegen verlangte ich, daß der Arzt den Patienten besuchen sollte, wofür ich ihn anständig honorieren würde. Endlich erklärte Brand, er dürfe das Tier nicht wieder zurück in die Stadt lassen; der Hund habe den Rotz, und er als Arzt sei verantwortlich, weil diese Krankheit eine ansteckende Seuche sei; auch werde es schwer sein, den Hund durchzubringen; er werde kaum morgen erleben. Als er dies sagte, geriet ich in die traurigste Leidenschaft; meine Tränen flossen und rissen den guten alten Mann so mit sich, daß er alles andere vergaß und in Tränen ausrief: »Ja, ja, ich weiß, was das sagen will! Habe ich doch auch vor[254] kurzem ein geliebtes Töchterchen dem Tode hingeben müssen!« –

So stand ich denn wieder allein und wußte kaum, was ich mit meiner neuen Meisterschaft beginnen sollte, denn mein Herz war in seinen Tiefen verletzt.

Die Stadtpfeiferei hatte ich längst verlassen und mich mit Königlichen Kapellmeistern bekannt gemacht. Einige Kompositionen, von denen die Wielandsche Kantate »Serafina« und andere Stücke im Korsicaschen Konzerte waren gehört worden, fanden Beifall; dadurch wurde ich mit der Königlichen Sängerin Maria Eichner bekannt, welche mir Gelegenheit gab, den Konzerten des damaligen Kronprinzen, nachherigen Königs Friedrich Wilhelms II. in Potsdam beiwohnen zu dürfen. Hier hörte ich zum ersten Male Händels »Messias«. Niemals hatte ich bei der Musik etwas Ähnliches empfunden. Da ich von Jugend an von meiner Mutter war zum Bibellesen angehalten worden, so ward mir der Text wie mit einem Schlage gegenwärtig und Händels Musik eine erschöpfende Paraphrase jedes Worts; alles zusammen aber meiner Empfindung des lutherischen Christentums so aufgepaßt, so damit zusammenfließend, daß meine Freude in lauten, ja in schmerzlichen Äußerungen ausbrach und Aufmerksamkeit erregte. Man glaubte, mir sei nicht wohl, und der Kronprinz ließ fragen, was mir fehle. Nach Endigung der Musik, welche bis neun Uhr gewährt hatte, schlich ich mich schamhaft fort, lief in der Nacht zu Fuße nach Berlin und benetzte den einsamen Weg mit Tränen der Rührung.

Andren Tages schrieb ich an die Freundin Eichner, bei der ich zu wohnen pflegte, entschuldigte mein Betragen und meine Entweichung so gut ich konnte, worauf ich[255] denn vom Kronprinzen selber die Erlaubnis erhielt, allen seinen Sonntagskonzerten beizuwohnen. –

Die Zeugnisse, welche mir durch die Revision meiner Meisterausarbeitungen von seiten des Königlichen Oberbaudepartements erteilt waren, hatten ihre guten Folgen. Man gab mir sogleich einen Königlichen Bau, und einige Bürger wollten ihre Häuser von dem angehenden Meister gebaut haben; dazu die ausgebreitete Kundschaft meines Vaters, dies zusammen erforderte meine ganze Tätigkeit, und es wurde hübsches Geld verdient, wovon ich leider keinen Gebrauch zu machen wußte, da ich wenig brauchte und nichts zu versorgen hatte.

Mein Vater freute sich meines Fleißes; das heißt, ich war arbeitsam, wiewohl ohne eigentlichen Anteil. Mein Herz war zerrissen; so dämmerte ich fort, und da ich jetzt zur Musik noch weniger Zeit als Trieb hatte, so wurde ich nicht gestört, mein Geschäft zu verfolgen. So setzte sich nach und nach die Meinung in mir fest, daß ich wohl ein guter Musikus wie andere werden könne, doch kein Produktionstalent habe, wie sich's nachher deutlich genug gezeigt hatte. –

Nun war ich sechsundzwanzig Jahr alt, als meine Mutter fast tödlich vom Schlage getroffen wurde. Dieser Unfall wirkte stockend auf das Hauswesen, denn der Faden des ganzen Geschäfts ging durch ihre Hand, aus der die eingegangnen Geldsummen sich in die kleinsten Portionen zerlegten. Dies Geschäft ging nun auf mich über, dem es traurig, ja tötend vorkam, indem ich zum Festhalten eingegangnen Geldes, wie auch mein Vater, nicht Geschick genug hatte. Dieser, dem der Trieb zur Geschäftigkeit über alles ging, schien nur Freude zu haben am Gelde, wenn er es wieder loswerden konnte,[256] wie er denn als ein glücklicher Lottospieler selten ganz leer ausging und das Gewonnene ohne Wissen meiner Mutter guten dürftigen Leuten zuwandte. Einem Freunde, der ihn darüber zur Rede setzte, antwortete er: »Ich bin kein Spieler. Was ich brauche, verdiene ich. Und wenn ich missen kann, was ich verliere, so kann ich getrost verschenken, was ich gewinne.« –

Im Jahre 1786 am 17. August starb Friedrich II. Auf das Gedächtnis dieses großen Königs setzte ich eine Musik, welche zuerst in der Garnisonkirche aufgeführt und kurz nachher in verschiednen Konzerten wiederholt wurde. Auf diese Musik wendete ich nach langer Ruhe den besten Fleiß. Was mir dabei über alles ging, war, daß mein Vater sie hatte hören wollen und davon war gerührt worden. Er erzählte mir nachher, daß er zwischen dem Professor Engel und dem Geheimen Rat Hymmen, beides gute Musikkenner, in der Mitte gesessen und sich unerkannt an dem redlichen Beifall dieser Männer nicht weniger als an der Musik selber erbaut habe.

Und nun war ich zum ersten Male mit mir selber zufrieden, weil mein Vater es zu sein schien, der bisher meine musikalischen Bemühungen mit Gleichgültigkeit an sich vorübergehn ließ.

Diese Landesbegebenheit und der vorauszusehende Tod meiner Mutter wirkten niederschlagend auf meinen Vater, dessen sonstige Munterkeit in ein totenhaftes Wesen überging. Da meine Mutter schwer daniederlag und meine beiden Schwestern verheiratet waren, so bestand unser Mittagstisch aus zwei Personen von gleichen Leiden, und die Unterhaltung mußte, wo nicht traurig, doch mager ausfallen. An einem Sonntage (meine Schwester Luise und mein Schwager Syring waren[257] mit zu Tische) erhob sich mein Vater zu einer lang vermißten Heiterkeit; seine Augen strahlten, als ob sie die Decke durchschauten. Er hatte vom besten Weine geben lassen und mit der Hand am Glase sprach er: »Meine Kinder! Ihr seht, es geht zu Ende; wir werden nicht lange mehr beisammen sein. Eure Mutter ist nicht zu retten, und was mich an meine Jahre erinnert, ist des großen Königs Tod. Ihr bleibt nach uns zurück, doch seinesgleichen werdet ihr nicht wieder sehen. Er war mein stetes Vorbild; so wie er König war seines Landes, so suchte ich Herr meines Hauses, meines Willens und meiner Tätigkeit zu sein. Sie haben ihn gescholten über Kaffee, Tabak und tausend entbehrliche Bedürfnisse, und über zehntausend notwendige Dinge werden sie ihn bald genug vermissen. Mir in meiner kleinen Enge geschah das Ähnliche; meine Leute waren unzufrieden in guter Zeit, wenn alles frisch von dannen gehn und ich sie haben mußte, – kaum war ihnen etwas gut genug. Doch im Winter hatten sie Holz und Brot, weil ich es immer einzurichten suchte, daß die, welche an mich glaubten, keine Not haben sollten. So wird der Winter kommen über dies Land, das einen langen Sommer verkennt; und der unselige Kaffee, um dessentwillen sie ihn schalten, wird die Eingeweide der Länder zerreißen. Das sollt ihr euch merken, daß ich's gesagt habe, und dabei eurer Väter gedenken.

Nur habe ich die Bitte an Dich, mein einziger Sohn: verlaß Deinen Vater nicht im Alter! Ich bin's nicht gewohnt, allein zu sein; Du sollst es nirgend in der Welt besser finden als hier. Ich bin aus der Fremde und weiß, was ich hier gefunden habe und lasse. Dein Verlangen, andre Länder zu sehn, ist mir wohl bewußt; aber verlaß mich nicht nach dem Tode Deiner Mutter!« –[258]

Dies versprach ich; doch wider Vermuten fügte sich alles anders. Am 25. Januar nach Friedrichs Tode starb mein Vater fast plötzlich, und nun war ich mit meiner kranken Mutter allein, die ich aus einem Bette ins andre trug, weil sie sich von niemand andrem gern angreifen ließ. Es ward ein neuer Plan entworfen, demzufolge ich nach dem Tode meiner Mutter was mein war, verkaufen und nach Italien gehen wollte.

Meine nächsten musikalischen Arbeiten waren Konzerte und Sonaten für das Klavier, die Violine und Bratsche, um mich als brauchbaren Musikus ausweisen zu können. In Italien dachte ich mich in Singstücken zu versuchen, wie ich mich schon hier in italienischen Opern der Metastasio, Landi und Sanseverino geübt hatte. Der hilflose Zustand meiner Mutter, deren einziger Trost ihr Sohn war, verzögerte sich siebzehn Jahre nach meines Vaters Tode. Um ihr eine Freundin und Vertraute zu geben, verheiratete ich mich im Jahre 1787 mit einer Witwe, der Tochter des Försters Kappel, die ich liebte, weil sie von meiner Mutter geliebt wurde. Und als meine Mutter die Welt verließ, war ich schon zum zweiten Male seit dem 1. Mai des Jahres 1796 mit der jüngsten Tochter des Geheimen Finanzrates Pappritz verheiratet und hatte ein rundes Dutzend gesunder Kinder. Von hier an lebte ich mein bürgerliches Leben ruhig fort, und da meine zweite Frau eine edle Sängerin war, so bestanden jetzt die meisten meiner Kompositionen in Singstücken für ihre schöne Stimme.

Mit vorzüglichen Musikern war ich in künstlerische Verhältnisse gekommen; ich nahm Anteil an periodischen Kunstschriften. Nebenher unterwies ich im Singen und in der Lehre vom Grundbasse, um mich selbst darin mehr und mehr zu befestigen. –[259]

Quelle:
Zelter, Carl Friedrich: Carl Friedrich Zelters Darstellungen seines Lebens. Weimar 1931, S. 215-260.
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