3. Schluß und Entwürfe für die Fortsetzung der ersten Niederschrift.

Goethe.

[198] Was Goethe betrifft, so mag ein so dauerhaft vertrautes Freundschaftsband mit diesem außerordentlichen Manne manche Vermutung veranlaßt haben, insofern Brüderschaften ohne Blutsverwandtschaft wohl beim Trunke entstehn; und so gedenke ich die Veranlassung dazu hier niederzulegen.

Im vorletzten Zehntel des vorigen Jahrhunderts waren einige meiner Liederweisen diesem Freunde zu Ohren gekommen.

Da mir die Unzufriedenheit der meisten Dichter mit ihren Komponisten von. alters her nicht unbekannt, und es mir so leicht geworden war, Goethesche Verse zur Übung in Musik zu setzen, so gestehe ich gern den angenehmen Schreck, den ich durch des Dichters Beifall empfand.

Was ich von seiner Persönlichkeit aus der Tradition wußte, wo nicht selbst die Opposition anerkannter Zeitgenossen gegen die Wirkung seiner Schriften, rührte den tiefsten Grund in mir auf. Ich hatte Partei genommen für ihn, ohne sagen zu können, wie und warum, und mein Glaube an jene Opposition, in der ich manchen persönlichen Freund zählte, verlor sich endlich ganz.

Als nun Schiller seinen ersten Almanach herausgab, erhielt ich den Auftrag, mehrere Goethesche Gedichte für[198] diesen Almanach in Noten zu setzen, unter welchen sich »Der Gott und die Bajadere« und andere ausgezeichnet haben.

Dadurch entstand ein, wo nicht lebhafter, doch zusammenhängender Briefwechsel, aus dessen scheinbar leichten Andeutungen ich eifrigst zu erraten suchte, was der Dichter leisten wollen, und was erreicht war. Außerdem wurde auch wohl über häusliche Zustände berichtet, von meinem Tun, Treiben und schweren Leiden, woran Goethe den Anteil eines alten Freundes nahm, der mir so wohltätiger werden mußte, da ich von meinen Jugendgefährten teils durch den Tod, teils durch weite Entfernung getrennt war.

Am 12. November 1812 berichtete ich den Tod meines ältesten Sohnes, den Goethe persönlich gekannt, und der sich an dem nämlichen Morgen durch einen Pistolenschuß entleibt hatte.

Auf diesem kurzen Briefe folgte eine schnelle Antwort, die mich wie einen Schicksalsbruder mit dem vertraulichsten »Du« anredete.

Da ich denken mußte, daß eine solche Benennung wohl nur momentan aus Menschlichkeit und Anteil eines erschütterten Herzens heraufgesprungen, beantwortete ich diesen Brief zwar mit der Ergießung einer übervollen Brust, doch mit verdoppelter Ehrfurcht gegen einen von mir aufs höchste verehrten Mann.

Goethes Briefe aber folgten in dieser Zeit oft genug aufeinander, daß ich denken durfte, an die Stelle eines verlornen Sohnes einen lebendigen Bruder gewonnen zu haben.

Diesem Sohne hatte ich mein Gewerbe bereits abgegeben, welches er recht gut, ja mit Geist zu führen[199] verstand. Aus den Schulen der wackern Architekten Gilly, Gentz und Weinbrenner war er wohlunterrichtet zurückgekommen, ein fertiger Zeichner, eben so fertig ein Maurer und nicht ohne Erfindung; in ihm dachte ich zuletzt einen Handwerker darzustellen, der ein tüchtiger Künstler heißen sollte.

Ich selbst beabsichtigte unterdessen eine Reise bis an die südlichen Grenzen Deutschlands, welche ich noch nicht kannte.

Es würde vergebens sein, den vernichtenden Schmerz von einer Seite und von der andern den mächtigen Trostgewinn darzustellen. Aus der tiefsten Trauer, die auch meinem Leben drohete, fand ich mich erhoben, und entschlossen ergriff ich wieder und allein mein gutes Heft und ward gerettet.

Wenn ich mich nun der vertrauten Freundschaft dieses ewigen Dichters durch meine Kunst und manches Leiden rühme, so verzeihe ich mir diesen Ruhm gar zu gerne, da man sich doch von redlicher Freundschaft lieber etwas überschätzt als gleichgültig gehalten sieht.

Zum guten Beschlusse dieser Erörterung meines Künstlerlebens wüßte ich kaum noch etwas zum Besten zu geben als eine dankbare Anerkennung des vielfältigen Guten, das mir von Zeitgenossen in bester Fülle widerfahren ist.

»Ich habe gelebt und geliebet!« – Das möge mein Ende sein, wie es mein Anfang war.

Berlin, den 1. August 1820.

Zelter.


Johann Samuel Carl Possin.

[200] Meinen ältesten Herzensfreund Possin habe ich nicht mehr ans Herz drücken sollen. Erst heut, am 11. Junius 1822, erhalte ich die Nachricht, daß derselbe schon im November vorigen Jahres zu London, wo er sich seit dem Jahre 1792 niedergelassen hatte, gestorben sei. Da finde ich mich denn aufgelegt, nachträglich noch einmal seiner zu gedenken, insofern wir beide, wiewohl an Gestalt, Charakter und Wesen verschieden, ein Paar ausmachten, ja zusammen wirklich für etwas galten.

Possins Vater war ein vollkommen schöner, rein ausgewachsener Mann und sogar dafür bekannt. Dazu konnte man ihn einen Mann von Geist nennen, denn obgleich er Schuhmacher gewesen war, so hatte er auf Wanderungen die äußere Welt so in sich aufgenommen, daß man ihn gern davon reden hörte. Er verstand seinen Vers zu machen und eine Weise dazu; dies trug er singend und sich mit der Violine begleitend so natürlich und gefällig vor, als wenn er sich mit Fleiß darauf vorbereitet hätte.

Eine seiner Wandergeschichten war folgende:

Mit noch einem Gesellen war er im Begriff, gegen Abend in Stade einzuwandern und dort Arbeit zu suchen. Die Stadt war jedoch nicht mehr zu erreichen, man mußte im nächsten Dorfe übernachten. Doch wovon Zehrung und Schlafgeld bezahlen; denn die Kasse war rein erschöpft.

Trotz dieser Verlegenheit zog das lustige Paar in die Dorfschenke. Hier war Verwirrung und Trauer. Der Wirt ging umher, wehklagend und händeringend, weil[201] seine Gattin mit dem Tode rang; das ganze Haus war in Bestürzung.

Possin suchte den Mann durch Teilnahme zu gewinnen und erfuhr nun, daß der Arzt aus der Stadt hiergewesen sei und alle Hoffnung zur Genesung des guten Weibes aufgekündigt habe.

Der Schalk, dem es um eine tüchtige Mahlzeit zu tun war, machte ein bedeutendes Gesicht und ließ merken, es möge doch wohl noch ein Mittel geben, die Frau zu retten, wenn man ihm, dem Fremden, vertraue, doch müsse er zuvor die Patientin sehen.

Puls, Stirn und Brust wurden mit wunderlichen Zeremonien berührt und versichert, man habe im Quersack ein geheimes Mittel, und es komme darauf an, ob man's auf Glauben und umsonst nehmen wolle, denn er dürfe es nicht bezahlt nehmen. Nachdem alles zugegeben war, ward der Quersack geöffnet, – alles mußte sich entfernen –, das Schurzfell herausgenommen, woran etwas Pech haftete; aus diesem Peche wurden drei Kügelchen gedreht und der Patientin unter Besprechungen, Kreuzen und Knicksen eingegeben.

Die Wanderer hatten sich's wohl sein lassen und das Beste im Hause erhalten. Possin verlangte zu wissen, was man schuldig sei, weil man mit frühestem Morgen aufbrechen müsse. Der Wirt beteuerte, daß er nichts nehmen werde und ja die Arzenei auch nicht bezahle. So gingen die Wanderer andern Morgens in die Stadt, wo sie sogleich Arbeit fanden.

Den zweiten Sonntag will Possin in die Kirche gehn. Auf der Straße hört [er] hinter sich her »Pst, pst!«. Er sieht sich um und erblickt mit Schrecken den Schenkwirt, der in größter Schnelle auf Possin zueilt, ihm um den[202] Hals fällt und herzt und ausruft: »Herr! Er hat mir mein Weib gerettet! Ihm allein bin ich diese Wohltat schuldig. Meine Frau ist gesund, komm Er zu uns und überzeuge Er sich von meinem Glücke!« –

Dagegen hatte sein Sohn eine völlig ungünstige Vorstellung von seiner eigenen Persönlichkeit, womit eine gewisse Abneigung gegen seine Mutter gerechtfertigt schien. Eine Muhme hatte ihm eröffnet, er sei von Geburt das schönste Kind gewesen, seine Mutter aber habe ihn lange fortgesäugt, indem sie ein folgendes Kind unter dem Herzen getragen, was eben deswegen nicht lebendig zur Welt gekommen sei. Dies habe nun auf ihn, den Lebenden, so schädlich gewirkt, daß er vor dem zehnten Jahre weder laufen noch reden noch sehen können, und bis zum achtzehnten Jahre mit den ekelhaftesten Ausschlägen sei geplagt gewesen. Von Geist und innerer Kraft war er dabei der vollkommenste Jüngling, und da er sich äußerlich für gering hielt, so gefiel es ihm, sein Äußeres zu vernachlässigen. Geriet er nun hierdurch wohl in den Fall, sich zu wehren, so ging er aus solchen Verlegenheiten immer als brav hervor, und ich wüßte keinen Fall, wo er mit derselben Person zum zweiten Male Händel gehabt hätte.

Außerdem war er sittsam, schamhaft, verschlossen, tätig, gerecht, und was er anfing, mußte vollendet werden. War er nun nach außen nicht empfohlen, so war in seiner Gestalt nichts Widerwärtiges. Sein Körper war stark, gelenkig, gerade und fest. Er tanzte, ritt und focht mit Genuß, wiewohl das Fechten bald unterblieb, um seine Hände nicht in Gefahr zu setzen. Auch fehlte eine gute Bekleidung nicht immer, wenn auch, was eben Mode war[203] nicht zu ihm passen wollte, endlich aber Wäsche und Bekleidung selten eher abgelegt wurden, bis der Unschein zu merklich wurde. Hatte er sich aber einmal herausgeputzt, so erschien er fast noch auffallender.

Einst waren wir beide zu Gevattern gebeten. Er wollte mich mit einem Wagen abholen, der eben am Sonntage nicht zu haben war; so erschien er zu Fuß in scharlachnem Treffenrocke, in weißen seidnen Strümpfen, den Degen an der Seite, bei mir. In solchem Staate zu Fuße über die Straße zu gehn, war nicht schicklich; noch weniger aber verzeihlich, vor dem Gevatterhause anzukommen, ohne aus einem Wagen zu steigen. Doch die Stunde war da; so gingen wir in unserm Staate, um einen Wagen aufzutreiben, bis nach dem ziemlich weit entlegenen Fiakerplatze. Hier standen glücklicherweise noch zwei Kutschen. Eine davon war völlig unscheinbar und vor der andern standen ein Paar lächerlich schlechte Pferde.

Auf Possins Rat wurden beide Kutschen gemietet, und die Kutscher ließen sich gefallen, die bessern Pferde vor den bessern Wagen zu spannen.

Da wir beide auf Ökonomie zu sehn hatten, so ward der Wagen nicht wieder bestellt, indem wir den Rückweg in der Nacht schon allein zu finden hofften. Nun ging gegen die Nacht ein so anhaltender Gußregen nieder, daß es schier unmöglich schien, zu Hause zu gelangen, ohne unsere Kleidungsstücke, welche neu waren, für immer zu verderben. Daß wir keinen Wagen bestellt hatten, wollte man nicht merken lassen; so gingen wir driest über die Treppe herab und setzten uns in einen der Wagen, welche da standen.

Der Kutscher fuhr ab, doch nach einem entgegengesetzten Ende der Stadt, indem wir ihm zuriefen, daß[204] er auf unrechtem Wege sei. Hier merkte der Kutscher Unrat und verlangte, daß wir aussteigen sollten, sonst würde er uns nach dem Gevatterhause zurückfahren, welches uns sehr unangenehm gewesen wäre.

Possin kam auf den Einfall, seinen Tressenrock, der ein weißseidnes Futter hatte, umgekehrt anzuziehn; der Tressenhut ward untergesteckt und im bloßen Kopfe gegangen. In diesem Aufzuge begegneten uns die ablösenden Soldaten, und wir mußten mit in die Wache ziehn, wo man sich nicht wenig über uns lustig machte, als der Offizier uns sogleich erkannte und auf unsere Bitte erlaubte, den Regen in seiner Wachtstube abzuwarten. Der größte Spaß aber stand uns noch bevor, denn es regnete bis am hellen Morgen, wo wir denn in seidnen Strümpfen zum Spektakel der Begegnenden in lauter Sprüngen über angeschwollnen Gossen und Wasserlöchern, ich [im] Chapeau bas und der andere im Treffenhute, unsere Wohnungen wieder erreichten.

So wenig nun Possin auf Äußeres zu halten schien, so versäumte er nicht leicht die Gelegenheit, mit dem Degen an der Seite zu erscheinen, wie es damals unter Künstlern wohl noch Sitte war; doch fehlte ihm eine Taschenuhr. Ich hatte deren zwei, von denen ich ihm eine abließ, wofür er mir einen ziemlichen Stoß Noten abzuschreiben hatte, womit er dann in kurzer Zeit fertig war. Er glaubte, bei diesem Handel doppelt gewonnen zu haben und sagte: »Alle Uhrmacher zusammen wissen vielleicht nicht so viel Musik, als ich beim Abschreiben der schönen Stücke gelernt habe.« –

Nun ging die französische Oper ein, und Schulz, der bisherige Musikdirektor daran, ging als Kapellmeister in den Dienst des Prinzen Heinrich nach Rheinsberg.[205]

Seine Lektionen in den besten Häusern überließ er an Possin, mit dem man noch zufriedener war wegen der Sicherheit und Ordnung, womit er die beste Methode verband.

Schulz, der sich nun in Rheinsberg an den Gluckschen und Grétryschen Opern auferbaut, lud uns nun einmal über das andere ein, nach Rheinsberg zu kommen und seine Bewundrung zu teilen. Das war jedoch für uns kein Kleines. Possins Vater, der Lederhandel trieb, hatte falliert, und dem Sohne war nun die Sorge für Vater, Bruder und Schwester überlassen. Ich mußte unser Geschäft auf mehrere Tage verlassen, um zwölf Meilen von Berlin eine Oper zu hören, wiewohl ich außerdem noch begierig war, den Jugendaufenthalt des großen Friedrich zu sehn.

Die Sache ward jedoch ins Werk gerichtet; wir waren beide gut zu Fuße und längst gewohnt, an Sonn- und Festtagen kleine Fußreisen zu machen.

An einem Sonnabend gingen wir von Berlin ab, und am folgenden Tage waren wir bei guter Zeit in Rheinsberg, um die Iphigénie en Aulide von Gluck zu hören.

Wir hatten gerechnet, am folgenden Tage zurückzugehn. Der Prinz aber hatte erfahren, daß wir seiner Oper wegen auf Schusters Rappen nach Rheinsberg gekommen waren, ließ uns zu einer andern Oper auf den dritten Tag einladen, was gar nicht abzulehnen war, und so verging über unsere Kunstreise eine ganze Woche.

Die gangbaren Gluckschen Opern kannten wir aus der Partitur, doch die Wirkung derselben auf einem ordentlichen Theater übertraf alle Erwartung, und die Reise nach Rheinsberg ward von Jahre zu Jahre noch zweimal[206] wiederholt. – Eines tragikomischen Abenteuers wegen sei der letzten Reise hier noch gedacht.

Wir kamen von Berlin her gegen Abend in dem Dorf Grieben, drei Meilen vor Rheinsberg, an, um hier zu übernachten.

Als wir in die Dorfschenke traten, begrüßte uns ein kleiner Bauersmann von etwa vierzig Jahren aufs freundlichste. Er saß hinter einem Tische und hatte einen Krug Bier vor sich. Wir nahmen Platz am andern Tische und forderten zu essen. Als wir fast abgespeist hatten, trat der kleine Mann an unsern Tisch und redete Possin an: »Kennen Sie mich denn nicht mehr?« – Possin versetzte, er könne ihn wohl schon gesehn haben, doch wisse er nicht wo. –

»Mein Gott!« sagte der Mann, »Sie haben mir ja das Leben gerettet; wissen Sie denn das nicht mehr? Es sind ja kaum zwei Jahre. Meine Frau aber ist tot. Gott gebe ihr die ewige Ruhe, denn mit ihr habe ich keinen guten Tag gehabt, und nun habe ich schon wieder eine andere.« So ging das Rätselreden fort, bis sich die Sache folgends erklärte.

Als wir das erstemal nach Rheinsberg gingen und diese Gegend betraten, – wir waren aufs fröhlichste gestimmt, – sieht Possin kaum fünfzig Schritte von der Landstraße ab in den Wald hinein einen Menschen in einem Kittel stehen, der beschäftigt ist, einen Strick oben am Baume zu befestigen. »Sieh«, sagt Possin, »was der Mensch da macht! Ich glaube, der will sich aufhängen.« – Ich bleibe stehn und sage: »Er wird doch nicht toll sein!« – Possin geht rechts ab mit großen Schritten auf den Menschen zu und spricht: »Was macht Er da? Was soll das werden?!« – »Ach, lassen Sie mich, ich bin ein geschlagner Mann.«[207] – »Dummer Peter!« ruft Possin, reißt ihm den Strick aus der Hand und schlägt ihn sanft damit um den Kopf: »Wenn Er sich hängen will, ist doch der Wald tief genug! Schämt Er sich nicht vor Menschen?« –

Der Mann war ohne alle Fassung: »Schlagen Sie mich nur nicht, ich will ja gern mitgehn!« –

Wir nahmen ihn zwischen uns und gaben ihn in der Nähe in einem Tagelöhnerhause ab, wo wir erzählten, wie wir ihn gefunden hätten. Er war Kuhhirt eines naheliegenden Vorwerks und schon eine Weile tiefsinnig gewesen, indem seine Frau, viel älter als er und dem Trunke ergeben, ihn durch harte Begegnung zur Verzweiflung gebracht hatte. Nun folgte hier eine Erkennungsszene, man weinte vor Luft, wie er auf possierliche Art bekannte, sein Unrecht sogleich erkannt zu haben, wie heilsam ihm die leisen Schläge gewesen, und [wie er] hinzusetzte: »Wer weiß, wo ich jetzt wäre, wenn Sie nicht mein Engel gewesen wären?«

»Aber wie wußten Sie denn, daß ich Peter heiße? Sie nannten mich ja bei meinem Namen, und ich hatte Sie noch nicht mit Augen gesehn!« –

Nun wollte er auch seine neue Frau holen, was jedoch abgelehnt wurde, denn unsere Glieder sehnten sich nach Ruhe.

Doch fanden wir ihn am andern Morgen um vier Uhr, da wir aufbrachen, uns erwartend, um noch einmal zu danken. Die Frau hatte fünf frische Eier, welche uns die armen Leute mit auf den Weg geben wollten, wovon jeder eins verschlang, von den übrigen aber auf einer Fußreise keinen Gebrauch zu machen wußte[n]. –

Im Jahre 1787 war Schulz als Kapellmeister nach Kopenhagen gegangen, und Possin erhielt die Kapellmeisterstelle[208] in Rheinsberg. Wenn dieser sich durch solche Erhebung ökonomisch zurückgesetzt finden mußte, so durfte ihm auch an einem Namen in der Kunstwelt gelegen sein. In der Direktion einer Musik war er zwar nicht ungeübt, doch war es immer bedenklich, die Stelle eines so angesehnen Vorgängers auszufüllen.

Prinz Heinrich sah am liebsten schöne Leute um sich; da er jedoch auf dem Theater nur das Französische litt, so mußte der Kapellmeister vollkommen französisch sprechen, und daher ward Possin als gut genug erfunden; es zeigte sich aber bald, daß er noch besser war.

Die Rheinsberger Oper kostete dem Prinzen viel Geld, und es waren von Sängern, Akteurs und Musikern die geschicktesten Leute dabei tätig. Der Prinz selber beschäftigte sich fast ausschließlich mit dem Detail, die angesehensten Hofleute wirkten dazu, aber ein Teil des Orchesters sowohl als der ganze Chor war von diensttuenden Hofleuten besetzt, die dabei noch andere Funktionen hatten und den Theaterdienst als Nebenher versahen.

Schulz hatte das Wesen jahrelang mit Verdruß hingehn lassen. Der Prinz verlangte das Vollkommne von seinen Leuten, die sich auf alle Art zu entschuldigen wußten, wenn sie in den Proben fehlten oder ihre Rollen nicht wußten, unterdessen sich alles nach dem Theater drängte, weil sie dadurch besser besoldet wurden.

Nachdem sich Possin einige Monate lang mit der Kenntnis der Mittel erkundigt hatte, berichtete er dem Prinzen, wie sich mit diesen Mitteln das Beste erreichen lassen würde, wenn es Seiner Königlichen Hoheit gefallen möchte, eine feste Ordnung anzubefehlen.

Ein solcher Befehl stieß anfänglich hier und dort an, man wollte sich nicht fügen, bis der Prinz selber bewogen[209] ward, von Zeit zu Zeit dem Anfange der Proben beizusitzen, und nach sechs Monaten war die Oper so in Ordnung, daß der Prinz bei einer Gelegenheit, wo er vornehme Gästebewirtete, konnte kurz nacheinander fünfzehn verschiedene Opern ohne Hindernis und Anstoß aufführen lassen.

War nun seine Zufriedenheit mit seinem Kapellmeister vollkommen, so entstand andererseits Eifersucht der Kämmerlinge und sonst Begünstigten, weil sich der Kapellmeister in allen Dienstangelegenheiten gerade an seinen Dienstherrn wandte und keiner andern Befehle gewärtig sein wollte.

Eine Gelegenheit zum Ausbruche dieser Eifersucht zeigte sich nach zweieinhalb Jahren.

Im gewöhnlichen Sonntagskonzerte verlangte der Kammerherr (Graf Nugent), daß der Kap ellmeister eine Musik herbeischaffen solle, woraus man etwas vortragen wolle. Die Stücke waren nicht bei der Hand, und Possin sollte sie herbeischaffen.

Dieser entschuldigte sich, der Prinz sei gegenwärtig, und Possins Entfernung dürfte dem Prinzen auffallen, da er es nicht selber befohlen.

Darob ergrimmte der Graf, nannte zuerst den Kapellmeister einen Grossier, den er sogleich zurückerhielt, einen gueux, der ihm auch zurückgegeben ward, und zuletzt stieß er mit dem Fuße nach ihm.

Possin gab auch diesen Stoß, und zwar so zurück, daß der Graf rücklings überfiel.

Alles dies geschah in der Gegenwart des Prinzen, der jedoch das gewohnte tenuto zu beobachten wußte.

Nach dem Konzerte forderte Possin sogleich seinen Abschied, den er auch erhielt; der Graf mußte sich jedoch[210] noch am nämlichen Abend von Rheinsberg entfernen.

Diese Geschichte schrieb mir Possin sogleich nach Berlin; daß seit der Zeit seines Abschiedes kein Holzträger mehr den Hut vor ihm ziehe, und daß er an einem bestimmten Tage bei mir einzutreffen gedenke.

So ging ich ihm zu Fuße entgegen, seiner gewohnten Pünktlichkeit vertrauend, in der Hoffnung, ihn etwa im nächsten Dorfe ankommen zu sehn.

Mit dieser Überzeugung ging ich fort in großer Sommerhitze, bis ich ihn hinter Oranienburg, acht Stunden von Berlin, glücklich in Empfang nahm und ihm das erste freundschaftliche Gesicht entgegentrug.

Unsere beiderseitige Freude war unendlich, ich aber von einem Durste geplagt, den ich in seiner mitgebrachten Weinflasche ertränkte †††


Johann August Patzig.

Ein älterer Freund, der Musikus Patzig, der den Ruf eines gründlichen Klavierlehrers durch gute Schüler erwarb, unterhielt ein monatliches Konzert zur Übung seiner Schüler, das von uns treulich unterstützt wurde, da es denn kein zu großes Vergnügen war, fünf Stunden nacheinander lauter Schüler zu hören.

Patzig aber, der das Konzert mit der Violine anführte, war ein fleißiger Musikus und ein tüchtiger Ripienist und hatte unter Hasse und Pisendel im Dresdner Orchester gedient, da wir uns denn im stillen seine Erfahrung zu Nutzen machten. Unter andern hatte er sich die sämtlichen Oratorien und geistlichen Musiken des großen Hasse, die bei uns noch neu und sehr rar waren,[211] in eigenhändigen guten Abschriften zu verschaffen gewußt.

Da das Verhältnis von Sachsen gegen Preußen durch den Siebenjährigen Krieg auch im Frieden ein gespanntes blieb, so traute man sich von beiden Seiten nicht zu sehr; und was von Artisten nach dem Kriege zu uns übergekommen war, durfte sich in Absicht auf Kunst wohl etwas über uns herausnehmen, da ohnehin unsere bedeutendsten Musiker wo nicht Sachsen, doch Ausländer waren.

In Patzigs Konzerte wurden wir bald unentbehrliche Leute, denn da ein Konzert doch nicht aus lauter Anfängern bestehn kann, und andere Musizi es langweilig fanden, fast nur die leichtesten Sachen von Schülern vortragen zu hören, so waren Possin und ich die beständigsten, und mit uns beiden allein, da wir auf mehrern Instrumenten geübt waren, konnte er seine Unternehmung viele Jahre nacheinander in Ordnung und Ansehn und daher einträglich erhalten.

Die Musik fing nachmittags um drei Uhr mit einer Sinfonie an, dann folgeten Konzerte und Arien und Sonaten von Eleven gespielt bis acht Uhr, die sich dann nacheinander entfernten. Nach acht Uhr wurden nun Konzerte von uns selber bis neun Uhr zu eigener Ergötzlichkeit gespielt, und von hier an erschien eine ganz neue Gesellschaft von Frauen, Schwestern und anmutigen Töchtern der Musiker und Hausfreunde. Nach neun Uhr genoß man in so heiterer Umgebung ein frugales Abendessen, dem Wein und Munterkeit nicht fehlten. Den Beschluß aber machte der geistreichste Aufstand, indem alles Hand anlegte, Tische und Kommoden auf den Flur zu schaffen, um den Tanzplatz einzurichten, welchen oft genug die aufgehende[212] Sonne noch belebt fand. Auch den Tanz hatte man sich künstlerisch zugestutzt, denn indem wir uns selber zum Tanze aufspielten, so komponierten wir uns zugleich neue Tänze, und die Tanzgeübten neue Touren. Selbst Hörner und andere Blasinstrumente fehlten nicht, und waren die Spieler nicht bei der Hand, so wurden sie vom ganzen Chor dazu gesungen. –

Die obengenannten Hassischen Partituren, in Patzigs Sammlung aufgestellt, waren von uns längst lüstern betrachtet und durchstöbert worden, indem wir kaum dachten, solche Raritäten jemals eigens[d]s zu besitzen.

Einst sagte Patzig zum Possin: »Nehmen Sie sich doch eine Partitur mit; zu Hause mögen Sie mit Ruhe davon genießen.« – Possin ließ sich dies nicht zwei mal sagen. Abends nach zehn Uhr kommt er auf meine Stube, Noten und Notenpapier unterm Arme. »Frisch auf!« ruft er, »nimm eine Feder; hier ist Papier, und hier ist, Die Bekehrung des heiligen Augustinus' von Hasse. Das alles muß morgen abend fertig sein.« –

Wir setzten uns an die Arbeit, schrieben eilig die Partitur ab, die Nacht hindurch, und am dritten Tage ging Possin und brachte die Partitur ihrem Eigentümer zurück, um sich eine andere zu erbitten, die er auch erhielt.

So ging die Arbeit vonstatten, bis wir uns das letzte Stück erbeten, was Patzig besaß.

»Sie sind sehr ordentlich im Wiedergeben«, sagte Patzig, »und ich gestehe, dergleichen kaum noch angetroffen zu haben, weshalb ich denn auch nicht gern Musikalien verleihe. Aber Sie brauchen sich nicht zu sehr damit zu eilen. Die Stücke sind mein, und was ich besitze, steht Ihnen so lange als Sie es brauchen, selbst zum Abschreiben zu Dienste.« –[213]

Nun gestanden wir, daß wir sämtliche Oratorien von Hasse uns ohne sein Wissen bereits abgeschrieben hätten, weil wir nicht gehofft, solche von ihm zu diesem Zweck zu erhalten. –

So entstand zwischen uns und diesem sanften, ruhigen Manne ein freundschaftliches Kunstverhältnis, das besonders zwischen mir und Patzig zu einer zwanzigfachen Gevatterschaft anwuchs, indem wir beide, nach und nach Väter zahlreicher Kinder, solche gegenseitig in der Musik unterrichteten.

Patzig hat dies Konzert über vierzig Jahre nacheinander durchgehalten, und wiewohl Possin nach Rheinsberg ging und ich die letzten Jahre anderer Verhältnisse wegen davon blieb, so hat es der tüchtige Mann bis in sein achtzigstes Jahr, das heißt: bis an seinen Tod, aus bloßer Liebe für seine Kunst sich zu erhalten gewußt. –[214]

Quelle:
Zelter, Carl Friedrich: Carl Friedrich Zelters Darstellungen seines Lebens. Weimar 1931, S. 198-215.
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