2. Erste Niederschrift der Selbstbiographie.

[7] Schon in sehr früher Jugend hat das Lesen der Bibel und alter Chroniken die Luft in mir erweckt, etwas zu tun, das der Aufzeichnung würdig wäre.

Besondere Veranlassung, manches aus meinem Leben niederzuschreiben, ward mir durch die Frau Herzogin-Mutter Amalia von Weimar, indem ich im Jahre 1802 dieser verehrten Fürstin manches aus frühern Jahren hatte erzählen sollen, da sie behauptete, jedermann sei verbunden, sein Leben schriftlich, wenn auch nur für sich selbst, zu rekapitulieren. Das Papier sei eigentlich nur dazu erfunden.

Wie ich nun Gesehnes und Geschehenes niederzuschreiben gedenke, nimmt es eine phantastische Gestalt an; die Umrisse verlieren sich in Raum und Zeit, ich selber erscheine fast ein anderer; und doch will es getan sein.

Da ich mich nun für jetzt keines andern Zwecks bewußt bin als mir eine Muße zu erheitern, die mir ein schweres Doppelleid auflegt, indem ich den Fall meines Vaterlandes betraure, das, von lang gewohnter Ehre herabgesetzt, sich unter der Prüfungshand beugt, die es verkennt; da ich eben den Tod der süßen Begleiterin meines Lebens beweine und statt ihrer den fremden Feind in meinem Hause walten sehe; so schaue zurück, mein Geist, in die Tage der Jugend und sage dir noch einmal, was du sahst, und wie dir war. Ist doch die Welt nur da, insofern du es bist.

Berlin, 2. September 1808.

Z.
[7]

Im Jahre 1758, am 11. Dezember, während des Siebenjährigen Krieges, in Berlin, in dem Hause, wo ich dieses schreibe, bin ich geboren.

Mein Vater war eines Schanzgräbers Sohn aus dem Dorfe Großröhrsdorf nahe bei Dresden. Sein frühester Trieb war, etwas Bedeutenderes zu lernen als Schanzen.

In seinem zehnten Jahre las er seinem Vater einst ein gedrucktes Blatt vor; darin machte ein Advokat aus Dresden bekannt, daß er einen Knaben zum Schreiben suche. Den folgenden Sonntag ging der junge Bursche nach Dresden zum Advokaten und bot seine Dienste an. Seine Person gefiel. Der Advokat befahl ihm, etwas niederzuschreiben, das er ihm vorsagen werde; der Knabe aber gab zu erkennen, daß er noch nicht schreiben könne und gehofft habe, es hier zu erlernen. So sonderbar dem Advokaten die Sache vorkam, so mußte sie ihn doch reizen; er nahm den Knaben zu sich, und in kurzer Zeit war dieser brauchbar und diente seinem Wohltäter sieben Jahre, der ihn endlich ungern fahren ließ, da der Jüngling sich entschlossen hatte, ein Handwerk zu erlernen. Er ward ein Maurer, kam als Gesell nach Berlin, wo er bei den Eltern meiner Mutter wohnte, in seinem achtundzwanzigsten Jahre hier zu Berlin Meister wurde, meine Mutter heiratete, und ich war der letzte Sohn aus dieser Ehe.

Meine Kinderjahre verflossen, ohne daß mein Vater, der ein geschäftiges Leben führte, viel auf mich zu merken schien. Desto eifriger war meine Mutter, mich von früher Jugend an schöne biblische Sprüche zu lehren und mir eine strenge Schamhaftigkeit als die Tugend aller Tugenden zu preisen. – (Es war das Jahr 1763. Der Siebenjährige Krieg war zu Ende.)[8]

Späterhin ward ich nach und nach dreien Hauslehrern übergeben, von denen ich Lesen, Schreiben, Lateinisch und dergleichen lernen sollte, was mir alles sehr gleichgültig war, da eine gute Gesundheit und Bewegsamkeit meines Körpers mich an die freie Luft und zu den Spielen der andern Knaben hinzogen. Da ich immer sitzen und lernen sollte, so lief ich immer davon und ward immer gesucht, gescholten und auch wohl geschlagen.

In Absicht auf Musik kann ich mir aus dieser stumpfen Periode nur erinnern, daß eine kleine Violine, welche mir etwa im achten Jahre der Weihnachten brachte, viel Freude gemacht und mich anhaltender beschäftigt hat als andere Kindereien; ich machte mir selber Noten nach meiner Art und tat, als wenn ich darnach spielte. Im zehnten Jahre baute ich mir im Garten eine Orgel aus kleinen Latten und Bretterwerk; auf das Pedal wendete ich besondern Fleiß, daß es ordentlich konnte getreten werden, und auch hierbei verharrete ich den ganzen Sommer. Außerdem tat ich gern, was mir eben gefiel, insofern dadurch meine Lebhaftigkeit unterhalten wurde. Einen natürlichen Widerwillen aber hatte ich gegen alles Handwerk und das wiederkehrende Einerlei desselben, von dem ich täglich, ja stündlich umgeben war, denn meine Mutter selber bekümmerte sich sehr tätig um die Geschäfte meines Vaters; und so mußte ich wohl glauben, was so oft gesagt und bestätigt wurde: daß nur Handwerk güldnen Boden habe; daß Handwerk über alles gehe, besonders über hohen Stand und herrschaftliche Abhängigkeit. Handwerk könne wohl sinken, niemals aber ertrinken; der Handwerker sei der wahre Bürger; das Gesetz, was ihn binde, beschütze ihn; die Mitte, wo er stehe, bewahre ihn; da er überall gebraucht[9] werde, sei er frei; Ehre und Wert stehen im genausten Verhältnis; Schande und Erniedrigung seien ihm ganz fremd.

Was ich gegen diese gute Theorie allenfalls einwenden konnte, wurde von meiner Mutter auf der Stelle ausführlich widerlegt; doch zu einem Maurer, der ich doch werden sollte, hatte ich wenig Luft. Was meine Mutter wohl eher hätte gelten lassen, wäre gewesen, einen ihrer Söhne im Dienste Gottes, das ist: auf der Kanzel zu sehn; aber diese Hoffnung schien vereitelt, weil mein älterer Bruder, den sie über alles geliebt hatte, gestorben war. Dieser war ein so frommer, lieber Sohn gewesen, daß sie geglaubt hatte, er müßte zu etwas ganz Besonderm von der Vorsehung bestimmt sein, wozu sie dann das ihrige beizutragen habe. Ich wäre nach ihrer Meinung viel zu lebhaft und leichtsinnig, um etwas anderes als einen durch bestimmte Tätigkeit gebundenen Weltmann an mir zu erziehn.

[An mutwilligen Späßen, die eine gute Gesundheit und Trieb zu allerlei Kraftäußerungen verrieten, ließ ich's nun nicht fehlen. So ward ich einst, etwa im sechsten Jahre, als ich mich ungehorsam bezeigt hatte, von der Muhme, die meiner Mutter Schwester war, verurteilt, während der Mahlzeit in der andern Stube an einen großen Lehnstuhl festgebunden zu sein. Eine Weile hielt ich ruhig aus, bis mich der Geruch der Speisen aus der Fassung brachte. Mit Ungeduld sprang ich, meiner Fesseln uneingedenk, vom Stuhl, riß den Stuhl mit mir, und da der eine Fuß desselben sich mit dem Fuße eines danebenstehenden Kaffeetisches durchstand, so lag augenblicklich das auf dem Tische befindlich gewesene Porzellan auf der Erde. Alles sprang vom Tische auf, mir[10] entgegen. Mein Vater allein blieb sitzen und lachte. Meine Mutter schalt die Tante heftig über diese Anbinderei, und ob ich gleich einige Schläge bekam, so war ich doch in mir so vergnügt über den Wischer, welchen die Tante davongetragen hatte, als wenn ich aufs beste gegessen hätte. Die Muhme bezeigte sich zufolge ihrer Maximen widerwärtig gegen meine besondern Neigungen, versteckte mir meine Spielsachen, Peitschen, Bälle und andere Dinge, die ich mir selber zu verschaffen suchte. Dagegen rächte ich mich durch allerlei Possen, welche ich ihr wieder spielte. Es war Weihnachten gewesen, und unser Hauslehrer hatte die Tante mit allerlei Kleinigkeiten beschenkt, worunter auch eine Maus von Wachs war, welche sie sehr wert hielt und mich damit öfter erschreckte, weil ich mich besonders furchtsam gegen diese Art Tiere bezeigte. Als die Tante einst in der Küche Seife kochte, nahm ich die Maus und setzte sie unter dem Fenster an die Erde, wo eine kleine Öffnung in der Diele war, und rief sachte die Tante, es sei eine Maus in der Stube. Sogleich kam sie mit der Seifkelle und schlug auf ihre Maus, daß solche in hundert Stücke flog. Als sie sich nun betrogen sahe, rannte ich zur Großmutter, deren Tochter sie war, die mich denn gegen sie in Schutz nahm, wie sie mich mit der Seifkelle verfolgte. Unter dem Wortwechsel war ihr die Seife angebrannt, worüber sie denn wieder von meiner Mutter gescholten wurde, welches mich höchlich freute.

Es war geschlachtet worden, und die Tante kochte in der Küche Wurst. Sie wollte mir ihr Wohlwollen bezeigen und machte mich zum Hüter des Wurstkessels, bei dem sie ab und zu ging, indem sie mir nicht trauete, welches ich wohl merkte. Um meinen Appetit zu stillen,[11] hatte ich bald Würste genug gegessen; doch um ihr Mißtrauen zu bestrafen, aß ich noch so viel, daß mir übel davon ward. Meine Mutter fand bald die Ursache; ich erhielt Ohrfeigen und die Tante ihre gehörige Schelte. Ich hatte aber weit mehr Würste genommen und sie in eine Schublade einstweilen hingelegt, worin die Tante Weißzeug hatte. Doch dachte ich nicht wieder daran. Lange nachher entdeckte meine Mutter diese Würste und bezichtete die unschuldige Tante der Untreue. Dies war mir denn doch zu arg, und ich bekannte, daß ich die Würste verborgen hätte, um sie für ihr Mißtrauen zu bestrafen. Das Spaßhafteste bei der Sache war endlich, daß der Geruch der Würste kaum noch zu vertilgen war; die ganze Lade mußte öfter gewaschen und gebrüht werden, welches ich mit Vergnügen zusahe.

Unser Hauslehrer, von dem die Tante ihre Erziehungsgrundsätze zu haben schien, war mir nicht günstiger; wenigstens hatte er beständig zu klagen. Ich bewohnte mit ihm eine Stube nach dem Hofe zu, über unserer Eßstube. Als ich einst meine Lektion nicht gelernt hatte, ging der Hauslehrer allein zum Essen, indem er mich einschloß und versicherte, ich würde nicht eher zu essen kriegen, bis ich die Lektion wüßte. So war ich denn allein, indem unten gespeist wurde. Ich versuchte zu lernen, doch der Hunger plagte mich; es wollte nicht gehn. In meiner Schlafkammer war in der Decke eine Öffnung nach dem Dachboden, und auf diesem Boden war die Fruchtkammer. Dieses Umstandes erinnerte ich mich jetzt lebhaft. Schon hatte ich immer die Katzen beneidet, welche ich vom Hofe aus hatte durch eine Dachluke frei aus- und eingehn sehen. Ich ging in die Kammer. Eine Leiter war nicht da, und wie sollte ich hinaufkommen?[12] Indem fiel mir ein Ende einer herunterhängenden Hausleine in die Augen. Ich holte den Krückstock des Hauslehrers, um die Leine herabzuziehen. Die Leine reichte aber nicht weiter bis etwa vier Fuß vom Fußboden. Ich holte einen Stuhl, befestigte die Leine an dessen Lehne. Dann holte ich ein Stück Holz, stellte mich auf den Stuhl und knebelte die Leine, bis sie sich hob, – kurz, in einer Viertelstunde und mit gewaltiger Anstrengung war ich oben und in der Fruchtkammer. Ich aß ganz erhitzt unverhältnismäßig viel kalter Früchte und ließ mich dann wieder herab. Nun war ich satt, stopfte mir eine von des Lehrers Tabakspfeifen, rauchte und setzte mich wieder, um zu lernen. Die Geschichte währte nicht lange. Mir ward übel, und in der Geschwindigkeit konnte ich nur das Fenster aufreißen, und aus demselben auf den Hof ging eine so starke Ausleerung vor, als ich viele kalte Apfel und Birnen gegessen hatte. Nun war aber auch alles verraten. Die Passage ging vor dem Fenster der Eßstube vorbei, und die ganze Tischgesellschaft erschien nach und nach. Erst die Tante und der Hofmeister, dann die Mutter und Schwestern. Nur mein Vater blieb am Tische und erlustigte sich über die Erziehungsweise des Lehrers und der Tante. Ich ward in ein Bett gebracht und mit Tee versorgt, und am andern Morgen lernte ich meine Lektion.

Ich erinnere mich dieser Kindereien deswegen gern, weil sie mir den Abstand vergegenwärtigen meines Naturells gegen das traurige Leben, welches mir als Bestimmung nachher angewiesen worden. Von der liberalen Gesinnung meines Vaters war alles zu verlangen, was mir dienen konnte, wenn dieser sonst wohlmeinende Hauslehrer eigentlichen Begriff mit seinem Amte zu[13] verbinden gewußt hätte. Er war ein junger Theolog, arbeitete beständig an seinen Predigten und las solche abends bei uns vor. Mein Vater führte ein geschäftiges Leben, die Mutter hatte vollauf zu tun, wobei sie die Schwestern erzog. So war ich allein der Willkür zweier Personen überlassen, die mich mehr verwirrten als erbauten, wenn ich ihnen auch weiter nicht abgeneigt war.]

Meine beiden ältern Schwestern lernten in dieser Zeit das Klavierspielen. Der Meister war ein Organist und zugleich ein ernsthafter, angenehmer Freund meines Vaters. Dieser sollte auch mich in der Musik unterrichten, wozu ich anfänglich Luft bezeigte; allein mit mir wollte nichts werden, obgleich meine Schwestern darinne vorrückten, besonders Luise, die ältere, welche ich sehr liebte. Desto lebhafter bewegte sich mein Körper in allen jugendlichen Abschweifungen; und wenn der Organist kam, mich zu unterrichten, so mußte ich immer erst lange gesucht werden, auf den Spielplätzen und überall, wo ich nicht sein sollte.

Mein Vater hatte zwei Ziegelscheunen nicht weit hinter Potsdam gepachtet, wohin er jahraus, jahrein reisete und mich öfter mit dahin nahm. Hier war freie Luft, offnes Feld, Berge und Seen. Ich lernte hier Bäume besteigen, auf Ochsen und Kühen reiten; ich fischte, ging auf Schlittschuhen und war hier immer sehr gern. Eines Tages angelte ich aus einem Fischerkahne auf dem See daselbst, welcher der Schwielow heißt. Es kam Wind, das Gewässer ward unruhig und bewegte den Kahn, welcher, ohne daß ich es bemerkte, vom Ufer losging, und mit eins befand ich mich mitten unter den hohen Wellen. Der See war als falsch bekannt, hatte Untiefen, und im kleinen Kahne war nicht einmal[14] ein Ruder. Der Wind ward stärker, die Wellen schlugen gewaltig, und ich war in Gefahr. Nun setzte ich mich reitend auf die Spitze des Kahns und ruderte mit den Füßen zuletzt geschickt genug, um dem Ufer wieder näher zu kommen. Unterdessen war es Abend geworden, man hatte mich gesucht, und ein Knecht sagte meiner Mutter, er habe mich auf dem Schwielow angeln sehn. Hier kam nun meine Mutter, und als sie mich schon von fern auf dem See arbeiten sah, schrie sie in der entsetzlichen Angst ihres Herzens so sehr, daß ich es bald nur zu gut hörte; denn hatte mich das Wasser nicht bang gemacht, so war es nun die Angst meiner Mutter und die Strafpredigt, welche ich erwartete. Sie rief Leute, die mich retten sollten, und brachte alles in Bewegung. Ich verdoppelte meine Kräfte, und da ich erst das seichte Wasser erreicht hatte, sprang ich aus dem Kahn, den ich nach mir zog, ehe die Hilfe anlangte. Ich erhielt nun eine mäßige Tracht Schläge und mußte versprechen, nie wieder allein nach dem Schwielow zu gehn, obgleich die andern Leute meine Entschlossenheit lobten, der aufgeregten Flut mit meinen Füßen so kräftig widerstanden zu haben. Meine Mutter aber war von dem Schrecken einige Tage krank, welches mir am meisten wehe tat, denn die Geschichte selbst hatte mir eher Mut als Reue nachgelassen. –

Da mein Vater die Reise nach Potsdam fast wöchentlich machte, so ward er mit mehrern Musikern des Königs bekannt, indem er solche, wenn sie den Dienst in Potsdam hatten, mit in seinem Wagen hin oder zurück fuhr. Diese Leute führten mich zur Erkenntlichkeit für diesen Dienst um die Karnevalszeit in die Königliche Oper, wo ich einen Nebenplatz im Orchester einnahm.[15]

Ich mochte eilf oder zwölf Jahre alt sein, als ich die erste italienische Oper sahe: es war die Oper »Phaeton«. Der Eindruck dieses Schauspiels war von besonderer Wirkung auf mein kindisches Gemüt. Da ich von Opernarien meiner Schwestern und andern Klavierstücken her die Musik ganz anders kannte, als ich sie hier fand, so war ich sehr überrascht. Die großen, kräftigen Tonmassen erregten weit mehr als das Melodische und Formelle der Arien meine Aufmerksamkeit. Den Ton der Sänger sahe ich gleichsam kommen, doch das Orchester im ganzen war mir ein ungeheures, angenehmes Rätsel. Ich war mitten unter den Musikern, von denen jeder ein Instrument spielte, und doch hörte ich nicht eins, sondern das Orchester selber, welches ich mir wie einen bezauberten Kasten, wie eine Art von Orgel vorstellte, tönte und klang als ein Ganzes in mir wider. Von dieser Betrachtung ab ward mein Blick auf das Theater gelockt, und ich schwamm in einem Meere von Freuden.

Darüber wurden mir nun jene Flügelstückchen völlig zum Ekel; ich hatte Luft an der Musik, aber ich kam nicht vorwärts und geriet darüber gänzlich in Verwirrung. Nur nach der Oper waren alle meine Sinne gerichtet, sonst dachte ich, fühlte ich nichts als die Leere nach Endigung des Karnavals.

War mir gleich die fremde Sprache nicht bekannt, so wußte ich mir alles auf das genaueste nach meiner Art zu erklären und zu erinnern, – so wie auch die Haltung und Garnitur des ganzen Hauses vor Aufgang des Vorhangs:

Das Opernhaus war an den bestellten Tagen bei guter Zeit von Zuschauern angefüllt und das gewöhnliche dumpfe Geräusch einer versammelten Menge hörbar.[16] Das Orchester versammelte sich still; jeder stimmte leise sein Instrument und legte es unterdessen von sich. Die Bühne ward noch einmal gefegt. Die Generalität erschien im Parkett, und der Hof nebst dem Adel im ersten Range der Logen. Um sechs Uhr kam der König. Seine Ankunft ward dadurch kund, daß ein Kammerhusar mit zwei Armleuchtern neben dem Orchester ins Parterre trat und Trompeten ertönten. Diese Trompeten, sechzehn an der Zahl, waren in zwei Chören einander gegenüber im obersten Range ‹der› Logen dicht am Proszenio aufgestellt, auf jeder Seite acht Trompeten und ein Paar Pauken. Erst ließen sie sich wechselsweise durch Fanfaren und Aufzüge, und zuletzt alle zusammen hören.

Unterdessen trat der König ins Parterre, verneigte sich zuerst gegen den ersten Rang, wo die Königin und der hohe Adel war, nahm ein Fernglas und sah überall umher, dann verneigte er sich gegen die Generalität um ihn her und setzte sich endlich auf einen gepolsterten Stuhl hinter dem Kapellmeister, etwa sechs Schritte vom Orchester. Nun hörten die Trompeten auf, es war eine allgemeine erwartende Stille; das Ohr war von dem ehernen Schalle der kriegerischen Töne gereinigt, gerieben, gereizt: so fing die Sinfonie an, wozu selten oder niemals Pauken und Trompeten sein durften.

Der Eindruck der Sinfonie unmittelbar auf dem Geschrei so vieler Trompeten mußte allerdings schwach sein; da jedoch die Sinfonie kein absoluter Teil des Stücks war, als insofern das Drama einen Anfang haben mußte, so ward von der Sinfonie auch nichts weiter verlangt, als daß sie dem Drama vorangehn sollte, das nur mit dem Aufzuge des Vorhanges seinen Anfang nahm.[17]

Die schönen Dekorationen eines Bibiena und Gagliari, die reizenden Tänze zwischen den Akten, ja selbst die großen, prächtigen Reifröcke der Sängerinnen und Tänzerinnen wie die römischen Kleider und griechischen Gewänder machten mir alles groß und würdig.

Die italienische und überhaupt eine fremde Sprache schien mir notwendig, ja natürlich zur Darstellung so wunderbarer Dinge. Daher kam es mir denn niemals unschicklich vor, Helden singend sterben zu sehn, wogegen ich oft genug die Einwendungen der damaligen Kritik anhörte. Und indem ich dem Wunderbaren seine eigene Natur zugestand, konnte es mich vielmehr erschrecken, wenn ich an den Schauspielern Ausdrucksarten oder Bewegungen wahrnahm, die das Untergeordnete, Alltägliche verrieten.

In spätern Jahren habe ich mich dessen immer erinnert, wenn ich hörte, daß Friedrich der Große auf seinen Bühnen durchaus keine anderen als ausländische Subjekte angestellt wissen wollte, und fand seine Meinung hierinne ganz gründlich.

Das Theater war mir nun dadurch gleichsam notwendig geworden, und da um diese Zeit auch das deutsche Theater angefangen hatte, Singspiele aufzuführen, so verschaffte ich mir die Gelegenheit, die erste deutsche Oper zu hören. Es war »Der lustige Schuster« von Standfuß. Der Eindruck dieser Oper war mir jedoch durchaus widerwärtig und ward es immer mehr, als der allgemeine Beifall diese Art der Opern rechtfertigen mußte.

Dagegen hatte nun die italienische Opera buffa, welche der König unterhielte, einen großen Reiz für mich; ich konnte mich lange hinterher an Possen ergötzen[18] und solche nachahmen, auf meine Art auslegen und erzählen, die ich bloß durch die eigne Modulation des Ausdrucks und körperliche Bewegungen der Bouffons zu verstehen glaubte. Wenn ein solcher Mensch nur nach seinem Hute griff, an den Fingern zählte, wenn er stand, ging, sprach oder schwieg, alles, und selbst die Erinnerung brachte mich zum Lachen. –

Ich ging in das vierzehnte Jahr, als mein letzter Hofmeister starb. Er war schwindsüchtig gewesen und hatte seinen großen Ärger mit mir, indem er verlangte, daß ich so wie er in einer dunkeln Stube sitzen sollte, denn er konnte das helle Licht nicht ertragen.

Nach dem Tode dieses jungen Mannes schickte mich mein Vater ins Gymnasium. Um zu wissen, in welche Klasse ich gehöre, mußte ich tentiert werden. Es fand sich, daß ich nichts wußte; einige lateinische Wörter und Regeln waren meine ganze Gelehrsamkeit, aber stark war ich, gesund und voller Saft und guten Willen. [Einen hohen Baum besteigen, einen Ball bis an die Wolken schlagen, ein Pferd umklammern, daß ihm der Odem kurz ward, und allerlei Künste auf Schlittschuhen machen, das konnte ich wie einer.]

Die neue Schule war mir aber willkommen der Freiheit wegen. Wenn ich bei meinen Hauslehrern hatte im grünen kalmanknen Schlafrock den Tag über sitzen sollen, so konnte ich mich jetzt am frühen Morgen fertig ankleiden. Ich hatte bestimmt zu lernen für jeden Tag, die fröhliche Gesellschaft der Jugend, den Genuß der freien Luft, und brauchte nicht davonzulaufen und nachher zu lügen, wo ich nicht gewesen war. Es waren sieben Klassen im Gymnasio. Quarta war die letzte und Groß-Suprema die oberste. Ich war nach Quarta gekommen.[19]

Was hier zu lernen war, Lesen, Schreiben, Rechnen, lernte ich bald genug und behielt so viel Zeit übrig, allerlei Streiche zu üben, die mir viel Verdruß brachten.

Unter den Lehrern dieser Klasse war ein siebzigjähriger Mann, der sich ganz besonders an meiner Lebhaftigkeit ärgerte und sich bei den vierteljährigen Zensuren jedesmal bitter und heftig über meinen moralischen Charakter beschwerte. Ich erhielt daher immer wortreiche Ermahnungen, ungeachtet ich nicht lässig genannt ward. Nach einem Jahre sollte ich in eine höhere Klasse versetzt werden, und hier ereignete sich folgender unangenehmer Vorfall:

Es war den Schülern des Gymnasii verboten, Stöcke zu tragen; dessenungeachtet trug ich wie mehrere Schüler ein Rohr, das ein Geschenk eines angenehmen Mädchens war. Einer meiner Mitschüler, mit dem ich viel umging, verlangte, daß ich ihm dieses Rohr gegen etwas anderes vertauschen sollte, welches ich ihm rund abschlug. Eines Tages riß er mir unvermutet das Rohr aus der Hand und rannte davon. Ich geriet in Wut, holte ihn ein, doch ehe ich ihn erreichte, warf er das Rohr in den nahen Fluß, er selbst aber entkam. Ich sprang ins Wasser, die Stelle war nicht tief; doch ehe ich mein Rohr erreichte, hatte es der Strom ergriffen und ich mußte es zu meinem höchsten Verdrusse davonschwimmen sehn.

Andern Tages vor Ankunft des Lehrers in der Klasse ergriff ich den Räuber und schlug ihn, daß er fürchterlich schrie. Der alte Lehrer trat in die Klasse, und sogleich erzählte ihm der gestrafte Verräter, daß ich gegen das Verbot einen Stock getragen, den er mir entrissen und ins Wasser geworfen habe. Darüber sei er von mir so zugerichtet, daß er zu Hause gehen und sich ins Bette legen müsse.[20]

Der alte Lehrer redete jenem freundlich zu, er solle nur da bleiben und volle Genugtuung an seinem Mörder (so nannte er mich) erhalten.

Unterdessen hatte ich mich ausgeruht. Ich trat vor den alten Mann und erzählte ihm und der ganzen Klasse den Vorgang der Sache nach meiner Art. – »Schweig, Mörder!« – war die Antwort, und abermal und immer: »Schweig!« – Ich ließ mich dadurch nicht stören und fuhr in meiner Erzählung fort, bis ich nichts mehr zu sagen hatte.

Der alte Mann stampfte mit den Füßen und war außer aller Fassung; meine Mitschüler aber sagten mir nachher, sein großer Ärger habe ihnen schmerzlichen Jammer erregt, denn er habe dabei geweint.

Ich konnte mir nun nicht mehr helfen; die Sache war geschehen, und was erfolgen sollte, mußte ich erwarten. Daß ich ihm unleidlich war, wußte ich, und wie ich ihm zugetan war, konnte er auch wissen, denn seine Lehrart schien mir langweilig und erregte oft genug meinen jugendlichen Kritizismus: so erklärte er wiederholentlich auf die nämliche Art das Wort Bucephalus und sagte : »Bucephalus war Königs Alexandri Magni von Mazedonien Reitepferd; wenn aber Alexander Magnus ausreiten wollte, so sprach er: Sattelt mir meinen Bucephalum

Mein Trost war, daß ich mich unschuldig wußte und nach wenigen Tagen in eine höhere Klasse versetzt zu werden hoffte, wo ich dem alten Manne außer den Augen war.

Der erwünschte Zensurtag erschien. Ich war Primus der Klasse, doch ich ward nicht zuerst verlesen. Meine Mitschüler wurden mit Prämien, Lob, Aufmunterungen[21] und Ermahnungen entlassen. Ganz zuletzt erscholl mein Name, und es erging über mich das Urteil: ich sei ein ausgelassener, frecher Bursche und unwürdig, ferner unter meinen bessern Mitschülern zu sitzen, ein Verderber, ein gewaltsamer Bube. Ich werde daher von dieser Schule ausgestoßen und hiermit entlassen:

Est petulans, petulantior, petulantissimus!

Noch tönen mir, indem ich schreibe, diese Worte des alten Rectoris vor den Ohren, die mich auf einmal ganz niederschlugen, indem ich mich jetzt wirklich schuldig glaubte, in Gegenwart und im Namen aller Lehrer und Mitgenossen der Schule so bezeichnet zu werden.

So ging nun für diesmal alles auseinander. Die Schüler gingen vergnügt ihren Weg auf die Spielplätze, den Osterferien entgegen. Von mir sonderte sich alles ab, was mir hold gewesen war, und ich allein ging ohne zu wissen wohin in verworrnen Gedanken. Ich kam an die Friedrichsbrücke. Hier war ein Wehr, wo das Wasser sich durch eine Öffnung preßte, jenseits mit Brausen in die Höhe spritzte und sich in den Strom verlor. Hier stand ich eine Weile und sah in die rauschende Flut. Es erwachte in mir eine angenehme Vorstellung von der Seligkeit dieses Gewässers, das so froh und frei seinen Weg dahinfloß.

Zu Hause hoffte ich keinen willkommnen Empfang, und ich bekam Luft, mit diesem Strome fortzugehn. Es wird mir schier unmöglich, das Vergnügen in Worte zu bringen, das ich in der Vorstellung fand, mich hier allen Vorwürfen, Verhören, Beschuldigungen, der Verachtung meiner Mitschüler, dem Unwillen meiner Eltern durch einen kleinen Sprung in diesen blauen Himmel[22] zu entledigen. Ich stand so nahe, daß ich nur den Fuß heben, nur schreiten durfte, und ich war frei.

Ich ward von einer sanften Hand ergriffen. Es war die nämliche Hand, welche mein Rohr ins Wasser geworfen hatte. Der Jüngling war voller Schmerz über meinen Unfall, den er veranlaßt habe. Ich zog meine Hand zurück und ging meinen Weg, ohne mit ihm zu reden.

Mein Vater zeigte sich sehr ernsthaft gegen mich, und meine Mutter schwamm in Tränen.

Wer aus der Sache nicht klug werden konnte, war unser Organist, der auch eine Schule hielt, denn man hatte nicht die Vorsicht gehabt, meine Eltern von meiner Verweisung und deren Ursachen sogleich zu benachrichtigen. Dieser fürchtete ein grobes Verbrechen von meiner Seite und vernahm mich darüber mit Güte. Als ich diesem alles, was ich wußte, aufrichtig erzählt hatte, nahm er mich unterdessen in seine Schule auf.

Hier war ich nun wieder froh und wohlgemut. Meine Mitschüler waren bald meine Leute, die ich in allerlei eigenen Kunststücken unterwies. Unter diesen befand sich eins, mit einem Fuße über die Lehne eines ziemlich hohen Stuhles wegzuschlagen. Dies Stückchen ward allgemein als eine gelinde Bewegung versucht und erregte bei den Ungeschickten vielen Spaß. Eines Tages standen alle Schüler um den Organisten herum, um unsere Ausarbeitungen einzureichen, welche durchgesehn werden sollten. Der Organist, welcher anfangs mit dem Rücken gegen das Fenster stand, kehrte sich um und öffnete das Fenster, um einen Auflauf zu sehn, der auf der Straße vorging. In dem Augenblicke versuchte ich mein Kunststück mit dem Fuße an einem ziemlich erwachsenen Burschen[23] namens Bartollius; dieser aber bewegte sich, und ich traf ihn mit dem Hacken so kräftig auf den Scheitel, daß er wie tot zur Erde fiel. Ich riß ihn von der Erde auf, fuhr mit ihm zur Tür hinaus und sogleich unter den Brunnen, wo ich ihm das Blut abwusch und nicht eher abließ, ihm den Kopf und die Schläfe zu reiben, bis er sich völlig erholte. Dieser hätte mich nun abermals einen Mörder schelten können. Als wir wieder in die Schulstube traten, fragte der Organist den Bartollius, wovon er so naß wäre und so totenbleich aussähe? – Ihm sei nicht wohl geworden, sagte dieser, er sei mit mir zum Brunnen gegangen und das kühle Wasser habe ihm wohlgetan. Kein Schüler hatte etwas verraten, da der Organist uns nicht sogleich vermißt hatte; aber diese Geschichte rührte und erschütterte mich innigst, und ich faßte eine Liebe zum Bartollius und zur ganzen Schule, daß ich mein Leben dafür hingegeben hätte.

Unterdessen hatte sich der Organist nach der besondern Ursache meiner Verweisung beim Rektorate des Gymnasii eifrig erkundigt und konnte keine hinlängliche Ursache einer solchen Strafe finden. Er mittelte sogar aus, daß die Lehrer über meinen Charakter verschiedene Meinungen hegten. Einer hielt mich für petulant und aufrüh‹re›risch, ein anderer für still, ja fast leblos, ein dritter für tückisch und rachgierig, und ein vierter wollte sogar etwas Zärtliches, Romantisches an mir wahrgenommen haben. Es kann auch sein, daß jeder von ihnen für sich recht hatte, indem ich mich jedem zeigte, wie er mir selber gefiel. Kurz, ich ward wieder aufgenommen, mußte jedoch zur Genugtuung des alten Lehrers in Quarta bleiben, wo ich nichts mehr lernen konnte als neue Händel, an welchen denn auch kein Mangel war,[24] weil ich jeden zur Verantwortung zog, der mir meine Verweisung vorrückte.

Das Schmerzhafteste war mir jetzt mein Abschied von der Schule des Organisten, und Bartollius war untröstlich, weshalb ich denn während der Ferien des Gymnasii freiwillig in diese Schule ging, um nur bei meinen alten Freunden zu sein.

Es war das Jahr 1773. Um diese Zeit wurde meine ältere Schwester an den Kaufmann Syring verheiratet, der viele Jahre im Dienste eines ansehnlichen Handlungshauses gewesen war. Der Prinzipal dieser Handlung hatte einen einzigen Sohn, der mit mir das nämliche Gymnasium besuchte; da dieser aber schon in den höhern Klassen war, so lernte ich ihn jetzt erst kennen. Saltzmann, so hieß dieser Jüngling, war von ernsthafter Natur, und bei dem sichtbaren Fleiße, mit welchem er sich den Studien widmete, nicht eben der Gesündeste. Ihm schien jedoch meine Lebhaftigkeit zu gefallen, wie sein angenehmes Wesen mich zu ihm hinzog, denn in seinem Umgange war ich gern ruhig, und indem ich meine Schularbeiten mit zu ihm hinnahm, arbeitete ich solche daselbst aus und genoß seiner lehrreichen Anweisungen.

Dafür wünschte nun Saltzmann gleichfalls an meiner freien Beweglichkeit Anteil zu nehmen, es wollte aber nichts gelingen, da es ihm an Kraft und Atem gebrach. Er hatte einen Fechtmeister, und da ich dem Unterrichte desselben täglich beiwohnte, so kam ich bald weiter als Saltzmann, denn ihm fehlte die Dauer, und ich führte zuletzt meinen Rapier so kräftig, daß selbst unser Meister seine Arbeit mit mir hatte.

Von Saltzmann wurde ich nur zu bald getrennt, weil[25] er die Universität bezog, und ich erwähne seines angenehmen Umganges bloß deswegen, weil dieser Jüngling einen guten Einfluß mancher Jahre auf mich zurücke gelassen hat, dessen Gefühl mir gleich gegenwärtig war. Sein ernsthaftes, gesittetes Wesen, besonders aber das Fechten mit ihm und seinem Lehrmeister schien mir gleich edler und blieb mir lieber als die gemeinen jugendlichen Spiele meiner übrigen Genossen.

Unterdessen war ich zur dritten und endlich zur zweiten Klasse befördert. Was hier zu lernen war, fand ich bald so kindisch und leicht getan, daß ich Zeit genug zu Torheiten aller Art übrig behielt. In jeder Klasse fand ich daher wenigstens einen Lehrer, der mir nicht wohl wollte.

Einem der Professoren der zweiten Klasse konnte ich auch bei völligem guten Willen von meiner Seite nichts recht machen. Dieser Mann war eine so eigene Art von Karrikatur, daß man sich in der Tat hüten mußte, ihn nicht zum besten zu haben. Seine Bewegungen und Reden, sein Ton und Takt sollten, wie ich wohl merkte, bedeutend sein und Ehrfurcht einflößen, doch geriet niemals, was er gern wollte; immer kam etwas ganz Verschiedenes an den Tag. Eine seiner Gewohnheiten war, nach einer vom Katheder getanen Frage herabzusteigen und die Antwort unten zu erwarten; gingen nun die Antworten gut, so sprang er an manchen Tagen wie ein Vogel im Käfig bald auf, bald ab und gewährte dadurch mutwilligen Schülern einen erwünschten Anblick. Er war endlich auffahrend und entzündbar über Kindereien, die er fast immer auf das übelste auslegte; dann wurde er rot am Halse, er mußte wiederholt niesen, und zuletzt war er so aufgebracht, daß er alle Fassung verlor.[26]

Er ließ, wenn ich nicht irre, den Julius Cäsar lesen und verlangte einst, daß darüber lateinisch disputiert werden sollte. Ich merkte bald, daß es heute zu einem Jubel kommen müsse; der Professor war schon verdrießlich worden, fing an, sich zu ärgern und mußte niesen. Ich rief: »Prosit!« und sollte deswegen Ultimus gehen. Ich entschuldigte mich damit, daß ich ja lateinisch gesprochen hätte; darüber fuhr er vom Katheder herab auf mich los und schlug nach mir; ich bog mich sanft zurück und der Schlag fuhr meinem Nebenschüler so derb ins Gesicht, daß ihm das Blut aus der Nase drang.

Eines Morgens hatte ich mich verspätet und die Lehrstunde war bereits angegangen. Indem ich in die Klasse trat, fragte soeben der Professor einen andern Schüler: »Quid est Bucephalus?« – Im Augenblicke stand ich vor dem Katheder, und mit dem nachgeahmten Pathos des alten Pedanten in Quarta hub ich an: »Bucephalus war Königs Alexandri Magni von Mazedonien Reitepferd; wenn aber Alexander Magnus ausreiten wollte, so sprach er: Sattelt mir meinen Bucephalum!«

»Und Zelter geht Ultimus!« erscholl vom Katheder mein Lohn für diese prompte Antwort, welche allerdings von mir nicht war erwartet worden, aber die ganze Klasse geriet dadurch in lebendige Bewegung, weil alle diese Redensart kannten.

Dieses Ultimusgehen machte mir zuletzt eher Spaß als Verdruß, weil ich wieder in die Höhe rückte, sobald nur zertiert wurde. Das Schlimmste dabei war jedoch, daß alle diese Historien mein schlechtes Herz und hämische Neigungen verraten sollten, wodurch ich mich denn sehr gekränkt fühlte.

Der nämliche Lehrer legte einst allen Schülern, welche[27] ihre Arbeit nicht vollendet hatten, die Buße auf, den hundertundneunzehnten Psalm abzuschreiben. Ich war nicht unter den Büßenden; da ich aber nichts anders zu tun wußte und nicht ohne Vergnügen meiner Mutter aus den Psalmen vorlas, schrieb ich den Psalm auch, der mir wenig Mühe machte, und reichte ihn stillschweigend mit ein. Dies wurde mir nicht wenig übel genommen, und ich mußte den bittern Vorwurf darüber anhören, daß ich mir keine Mühe verdrießen ließe, meinen bösen Willen zu beschäftigen.

Andere Lehrer beurteilten mich indessen viel schonender. Unter diesen war ein alter Mann namens Nouvel von etlichen und siebenzig Jahren, der die historischen Stunden in der dritten Klasse hielt. Dieser ließ das Vorgetragene von den Schülern aufschreiben, welches ich schnell und gern tat. Da er ein Enkel eines im siebenzehnten Jahrhunderte aus Frankreich vertriebenen Reformierten war, so erzählte er einst die Leidensgeschichte dieser seiner geliebten Vorfahren mit vieler Herzlichkeit, wodurch ich innigst gerührt wurde. Ich verfertigte meine Relation über das Gehörte und las sie selber vor. Davon wurde der alte Mann so ergriffen, daß er seine Hand auf meine Schulter legte und mir sagte, er werde mich bei jeder Gelegenheit vertreten, wo man mein Herz und meinen Charakter verdammen wolle; ich sei ein guter Junge, und es könne aus mir wohl etwas werden, wenn ich mich zu den Alten hielte. –

Im Anfange des Jahres 1774 kündigte mir mein Vater an, daß es jetzt von mir abhange, das Gymnasium zu verlassen, weil ich auf Ostern die Profession anfangen solle. Unterdessen solle ich in der Kunstakademie das Handzeichnen desto ernsthafter treiben und in der Geometrie[28] wohl bewandert werden. Dies alles tat ich gern und machte im Zeichnen Fortschritte. Ich war ein Freund des nachherigen Kupferstechers Georg Hackert, mit dem ich im Zeichnen ziemlich Schritt hielt, solange er in Berlin war; doch fing nun auch das Gymnasium an, mir interessant zu werden. Ich saß in Sekunda, wo mir das Lateinische und Griechische Vergnügen machten, und da es in meinem Belieben stand, blieb ich noch im Gymnasio, bis mich ein unangenehmer Zufall abriß.

Ein Primaner, – ich glaube, er hieß Budak, – begegnete mir nach geendigter Lehrstunde in einem der engen, dunkeln Gänge des Gymnasii, welcher nach Quarta führte. Da wir beide schnell gingen, war es kaum vermeidlich, nicht aneinander zu stoßen. Er schimpfte mich einen Sekundanerknoten, der einem Primaner Platz machen müsse! – »Warte!« schrie ich, indem ich ihn packte, »ich will Dich knoten, Du sollst mir lebenslang den Sekundanern aus dem Wege gehn!« – So schleppte ich ihn nach Quarta, wo der Saal offen war, legte ihn über eine Bank und einen Tisch und drosch mutig auf ihn los. Er schrie ganz entsetzlich; eine Menge Menschen und endlich der Polizeidiener liefen herbei. Dieser führte uns beide auf die Polizeistube, woselbst wir zu Protokoll genommen wurden. Budak war Alumnus und wohnte im Hause. Der Polizeiinspektor, dem er von seinen Eltern besonders empfohlen war, hatte ein Protokoll gemacht, das mir eben nicht erfreulich schien, worin wieder so etwas von Meuchelei, Faustrecht und gewaltsamer Antastung vorkam. Ich ging zu Hause und sagte meinem Vater, daß ich gestern vom Gymnasio Abschied genommen hätte und willens wäre, nicht wieder hinzugehn.

So kam ich von dieser Schule ohne Prämium und[29] ohne Abschied und fing nun an, mehr Musik zu treiben, das indessen gar nicht recht vonstatten gehn wollte, weil ich sehr weit zurücke war und auch wohl nicht gründlich genug war unterrichtet worden. Mein Organist ließ mich nun die Orgel spielen. Sonnabends probierte ich die Choräle in der Kirche, welche Sonntags gespielt wurden, und deswegen aß ich an diesen Tagen beim Organisten zu Mittage, bei dem ich meiner Eltern wegen wie ein Kind des Hauses angesehn war. Ich hatte überhaupt eine stille Neigung zu diesem ernsthaften Manne. Er war Kantor und Organist an der Dorotheenstädtschen Kirche wie auch Lehrer an der Schule dieser Kirche und hieß Roßkämmer. Seine Haushaltung bestand in seiner schönen muntern Frau, zwei angenehmen Töchtern, einer bejahrten, ernsthaften Schwester und einem artigen Hündchen, das sich immer freute, so oft ich kam. Obwohl es in diesem Hause sehr sittsam zuging, so war ich dennoch gern da und suchte mich auf meine Art besonders den Frauen gefällig zu machen, die mich denn auch mit allerlei weiblichen Aufträgen versahn. Als ich einst kam, war das Hündchen krank und die jüngste Tochter weinte, daß es sterben solle; es hatte einen Knochen quer im Maule sitzen, der sich nicht herausziehen ließ, weil der Hund entsetzlich schrie, wenn er angegriffen wurde. Wie ich in die Stube trat, kroch das kranke Tier hervor und klagte jämmerlich; ich nahm es auf und riß ihm den Knochen aus dem Maule, worüber das Haus in Freuden und das Tier in kurzer Zeit hergestellt war.

Das Hündchen war mir so hold geworden, daß es gern mit mir ging, welches auch der Organist gern sahe. Einstmals war es uns in die Kirche gefolgt und fiel von der glatten Orgelbank auf den Boden und gab kein Zeichen[30] des Lebens von sich. Der Organist gab einem Kurrendeknaben den Auftrag, das tote Tier in die Spree zu werfen. Ich sollte fortspielen, konnte aber nicht, weil mir der Hund in Gedanken lag und mich sein jammerte. Ich lief dem Kurrendeknaben nach und erreichte ihn dicht am Wasser. Es war kalt, ich nahm dem Buben das Hündchen ab, wickelte es in mein Schnupftuch, steckte es in den Busen und ging damit in voller Hast wohl eine Stunde lang Straße auf, Straße ab. Das Tier lebte wirklich wieder auf und so trug ichs zum Organisten, legte es unter den Ofen, bedeckte es, wusch es mit Wein, und der Hund lebte, aß und freute sich wieder.

Da der Organist mehrere Schüler hatte, so war auf einem Sonnabend ein Zertamen in der Kirche angesetzt, wo einer von uns den Sieg davontrug, der mich wegen meines angenehmen Verhältnisses im Hause des Organisten beneidete und zum Bartollius gesagt hatte, ich sei des Organisten Hundedoktor. Auch hatte er mein Fußexperiment an dem Bartollius nachher verraten; das konnte ich an den Frauen im Hause merken. Dieser Mensch war seines Ernstes und Fleißes wegen weiter im Spielen als wir andern, und der Organist überließ ihm oft in seiner Abwesenheit die Orgel, welches besonders mit mir niemals geschah. Mir aber gefiel dieser Mensch von Natur nicht. Er war nicht eben klein, auch einige Jahre älter als ich, aber etwas stark verwachsen, hatte lange Beine wie eine Spinne, mit denen er sich denn auf dem Pedal breit machte und mich seineÜbermacht sehn ließ. Da er jedoch wenig Fleisch auf den Lenden hatte, so saß er unsicher und machte überhaupt vor der Orgel eine possierliche Figur. Sein Gesicht aber und sein gezierter Gang waren mir völlig unausstehlich.[31]

Wenn er stand oder ging, nahmen sich seine beiden Beine, die überall gleich dünn und gleichsam kanneliert waren, wie ein Paar Fackelstöcke aus, weshalb ich ihn Bifax nannte. Ich war sehr schlecht auf ihn zu sprechen; schlagen wollte ich ihn nicht, und da er selber es nicht an Gelegenheiten fehlen ließ, ihn lächerlich zu machen, so hatte er beständig zu klagen.

Einen Sonntag, als wir auch unsere Künste während des Gottesdienstes hören ließen, hatte ich einige Hölzchen mitgebracht, welche ich stille unter die Orgelbank legte. Der Organist war unten im Schiffe und wollte von fern zuhören. Den ersten Choral spielte ich, das Hauptlied ein anderer, und das letzte Lied nebst dem Ausgange spielte mein Bifax. Bei diesem Ausgange hatte er das volle Werk gezogen, und indem er sich etwas stark übernahm und seine große Geschicklichkeit auf dem Pedale zeigen wollte, glitschte er von der Bank, welche überschlug, und lag, wie er gewachsen war, auf dem Pedale, welches ein horrendes Spektakel gab, je mehr er sich bewegte und sich gar nicht helfen konnte.

Ich schrie vor Lachen und rief den Kurrendeknaben zu, es sei eine große Bestie von der Bank gefallen, die sollten sie gleich in die Spree werfen. Ich nahm die Hölzchen zwar von der Erde auf, er bemerkte es aber und verklagte mich nun beim Organisten.

Ich ward also förmlich von unserm Organisten zur Verantwortung gezogen. Bifax, der andere Schüler, der Kalkant und der Kurrendeführer mußten dem Verhöre beiwohnen. Ich bestand fest darauf, daß ich die Keilchen zu meiner Bequemlichkeit untergelegt hätte, weil mir die Orgelbank zu niedrig sei, auch hätte ich solches anzeigen wollen, aber vergessen. Eine Bestie aber hätte ich ihn[32] deswegen genannt, weil er mich einen Hundedoktor genannt hätte, weswegen ich ihn würde jämmerlich geprügelt haben, wenn ich nicht seines elenden Wachstums geschont hätte.

Die Sache sollte endlich dahin vermittelt werden, daß ich dem Bifax Abbitte tun und er mir die Hand reichen sollte; dies wollte ich nicht und lief davon.

Als ich am nächsten Sonnabend zum Organisten kam, fand ich ihn nicht zu Hause. Auf einer von ihm beschriebenen Tafel las ich, daß er mir seinen Unterricht aufkündige, mir sein Haus und seine Orgel zu besuchen verbot, weil er wohl jugendlichen Mutwillen verzeihen, doch die Bosheit nicht um sich leiden wolle.

Ich wandte mich an die gute Frau; sie verwies meinen Eigensinn mit den liebevollsten Worten und schloß damit, daß sie sich darein nicht mische.

Nun wurden die Töchter aufgefordert, sich für mich zu verwenden; diese sagten, es käme ja nur darauf an, die Abbitte zu tun, was ich jedoch entschlossen ablehnte. Endlich ging ich zur Mamsell (zur alten Schwester). Hier kam ich erst schlecht an; diese hielt mir ein solennes Postludium mit vollem Werke: Meine Unart sei unverzeihlich. Man verhätschle mich unverantwortlich in diesem Hause. Sie sähe dem Wesen schon lange mit Ärger zu; durch solche Aufführung werde ich mir zuletzt die Feindschaft aller gesitteten Leute erwerben; jeder werde mir sein Haus verbieten; solche Gäste verdürben die Jugend des Hauses, – mit unendlichen Wiederholungen. Endlich fiel mir selber das letzte ein und wurde versucht: Vor dem nächsten Sonnabend traf der Geburtstag des Organisten ein. Erst sandte ich den Bartollius, der die Sache zwischen mir und dem Bifax ausglich, ohne daß[33] wir uns zu sehen brauchten. Dann machte ich eine Bittschrift in Versen, worin der kleine Hund seinen edlen Herrn um Gnade für den Retter seines Lebens anrief. Dem Hündchen machte ich eine artige spanische Fräse von Papier um den Hals, worin ich die Bittschrift aufstutzte, und am Morgen des Geburtstages ließ ich das Tierchen in die Schlafstube, da es denn sogleich aufs Bett sprang und sich das Papier abnehmen ließ. Die Sache gelang, und ich konnte künftigen Sonnabend wieder dort zu Mittage essen, da denn häufig gelacht wurde, wie ich dem unschuldigen Tiere die besten Bissen reichte und der Hund sie so zu nehmen schien, als ob er sie verdient hätte. Übrigens hatte die Sache zu meinem Vorteile gewirkt. Es wurden hundert närrische Dinge vorgebracht, um nur lachen zu können, weil mich keiner im Hause ansehn konnte, ohne in Lachen auszubrechen. Selbst das Gesicht der alten Schwester hatte einige Falten verloren, und es schien, als wenn man mich jetzt, wo nicht mehr liebte, doch achtete. –

Ich ging nun ins siebzehnte Jahr. Der Schule war ich entlassen und gegen den Sommer sollte ich bei der Profession arbeiten und mauern lernen. Dies wollte mir aber durchaus nicht gefallen, und doch wußte ich nicht, was ich lernen sollte. Ganz entschiedenen Trieb zu einer bestimmten Sache zeigte ich wenigstens nicht; so standen die Sachen.

Der Sommer war gekommen und nun sollte ich mauern. Hier ergriffen mich die fürchterlichen Blattern. Kaum entrann ich dem Tode, und darüber verging der beste Teil des Sommers. Durch die Krankheit waren meine Augen angegriffen, und ich mußte lange nachher noch eine Augenbinde tragen. In dieser langen Nacht[34] und durch das Erwachen neuer Kräfte suchte ich mir den Flügel auf und tappte auf den Klaven umher. Die Finger fanden Töne, zu den Tönen fanden sich Gedanken, die Gedanken gestalteten sich zu Bildern. Ich phantasierte nach meiner Art und lernte das Griffbrett ohne Augen jetzt erst kennen. Ich ward vollkommen gesund; der Winter kam, und nun legte ich mich mit Eifer auf das Klavierspielen. Im Hause war eine schlechte Violine, worauf der Organist meiner Schwester ihre Sonaten begleitete. Diese nahm ich und suchte mir die Skala. Dann nahm ich das Choralbuch und spielte Choräle auf der Violine, weil ich keine anderen Übungsstücke hatte. Diese Choräle taten mir fast die Dienste eines guten Meisters. Ich lernte den Ton ziehen und halten, und von nun an waren alle meine Sinne auf Musik gerichtet.

Eines Abends wurde mein Vater von einem seiner Freunde, der nachher mein Lehrmeister in der Profession ward, abgeholt, um in einen öffentlichen (den Brunowschen) Garten zu gehn, wo ein Konzert sollte aufgeführt werden. Mein Vater nahm mich mit dahin. Es fror im Winter, ich fand keinen Garten, wohl aber eine Menge Bürger, Offiziere und Königliche Zivilbedienten, die Tabak rauchten, Bier, Kaffee, Wein und dergleichen tranken, Billard, Karten spielten oder sich durch die nebeneinander liegenden Säle des Hauses bewegten und lebhafte Konversation unterhielten. In dem einen Saale war das Konzert.

Eine rauschende Sinfonie von Hertel machte den Anfang. Da die Violinen nicht stark besetzt waren, so machten die Trompeten, besonders aber die Pauken die Hauptpartie aus. Vor der Sinfonie wurden auch Aufzüge geblasen, und den Pauker, der ein geschickter Mann[35] war, umstanden eine Menge Zuschauer, die seine Kunst und Fertigkeit bewunderten.

Nach der Sinfonie wurde ein Flügelkonzert, ich glaube von Agrell, gespielt. Da einige hundert Menschen gegenwärtig sein mochten, welche sich durch die Musik in ihren Gesprächen nicht stören ließen, so war von dem Spiele des Flügels nichts zu hören. Nur die Ritornelle waren stark genug, neben dem Gewirr der verschiedenen Gespräche gehört zu werden, woraus ein gar sonderbares Ganze entstand, das mich nicht wenig in Verwirrung setzte. Ich hatte mich hinter den Flügelspieler gestellt, um wenigstens spielen zu sehn. Dieser Flügelspieler war ein junger Kaufmannsdiener Possin von einundzwanzig Jahren, sehr geputzt, mit einem Degen an der Seite und einer köstlichen Porzellanpfeife im Munde. Sein Spiel wurde von mir bewundert, überhaupt aber bewies ich der Musik eine entschiedene Aufmerksamkeit, die mein Vater bemerkt haben mußte.

Am andern Tage fragte mich mein Vater, ob ich Unterricht auf der Violine nehmen wolle. Dies bejahte ich freudig, und nun lernte ich Violine spielen von einem Regimentsmusikus namens Märker, den ich bald übertraf.

Märker verschaffte mir indessen die nähere Bekanntschaft des jungen Klavierspielers Possin, den ich im Brunowschen Konzerte hatte spielen sehn [der nachmals Kapellmeister des Prinzen Heinrich wurde], und nun war meine Freude vollkommen. Ich und Possin waren bald unzertrennliche Freunde; ich besuchte ihn, er mich, und wir trieben zusammen sehr ernsthaft Musik. Wir schrieben Noten ab, und da ich in der Fingersetzung vernachlässigt war, so unterrichtete er mich darinne, indem er mich einige Konzerte spielen lehrte.[36]

Im Januar 1775 starb mein Großoheim, der Kupferstecher Schmidt. Meine Großmutter mütterlicher Seite und deren Schwester waren die einzigen Erben eines bedeutenden Vermögens und einer höchst merkwürdigen Kunstsammlung von Gemälden, Kupferplatten, Kupferstichen und Zeichnungen der größten Meister aller Zeiten.

Mein Eintritt in das Haus dieses trefflichen Künstlers flößte mir eine übermenschliche Ehrfurcht gegen Kunst und Künstler ein. Schmidt hatte eine Frau und einen Sohn gehabt, die vor ihm gestorben waren. Nun hatte er dieses ganze Haus nebst einem Bedienten allein bewohnt. Die Ruhe, der heitere Geist des Hauses, der Anblick der unzähligen Kunstwerke riß mich zur Anbetung hin, und alles Handwerk schien mir auf einmal eine viehische Quälerei ohne Hoffnung und höhern Gewinn. Indessen die Frauen in den Schränken kramten und Geld und Gold und Silber suchten, stand ich versunken in den Anblick einer staubigen Niobe, eines Apollo oder Herkules, ob ich gleich diese Sachen hier nicht zum ersten Male sahe. Was mich aber über alle Fassung entzückte, war die Entdeckung eines vollständigen Apparats der schönsten musikalischen Instrumente, um ein Konzert auszustatten: herrliche italienische Violinen und Bratschen; ein treffliches altes Violoncell; ein französischer Flügel und eine unendliche Anzahl Konzerte, Ouvertüren, Sinfonien, Trios, Quadros und Duetten, schön geschrieben und von den besten Meistern.

Als Erbe einer Erbin dieses Vermögens eignete ich mir alle die schönen Sachen in Gedanken zu und nahm mir vor, Ähnliches zu leisten. Tag und Nacht stellte ich mir diese göttlichen Meister vor, sinnend und arbeitend an Werken himmlischer Weisheit in dem Gefühl der[37] Unsterblichkeit und ewigen Jugend des Schönen. Nur die Kunst, schien es mir, dürfe reden, unterrichten, könne erbauen und bilden. So verlor ich mich hier wie ein Fremdling in einem unbekannten, schönen Lande.

Ein Geheimer Rat und Vetter unserer Familie, – er hieß Troschel, – der sich die Mühe gab, den Mentor der beiden Schwestern auf der neuen Kunstbahn abzugeben, da ihnen freilich auch alles fremd war, bemerkte meine Verzückung und warnte mich in Gegenwart meiner Mutter nach seiner Art väterlich: Die Kunst, sagte er, sei eine Sirene für junge Leute, die von ernsthaften Wissenschaften ablenke und an den Abgrund führe. Ich sollte mich damit sehr hüten, des Guten zu viel zu tun; ich würde ihm solches einst danken. Auch er habe in seiner Jugend an der Poesie gehangen und damit viele Zeit verschwendet, welches ihm jetzt noch reue; jedoch sei er zur guten Zeit noch seinen Irrtum gewahr worden. – Ich wußte nicht, wie mir der Mann vorkam, doch konnte ich es nicht vergessen; und lange nachher, wenn ich ihn sahe, fiel mir immer Shakespeares Polonius ein, der sich beklagt, in seiner Jugend so sehr viel von der Liebe ausgestanden zu haben. Ich lernte seine ernsthafte Wissenschaft indessen hier bald näher kennen: Meine Mutter hatte mir bei den beiden Schwestern ausgewirkt, daß ich die beste Violine haben solle; die andere hatte sich der Geheime Rat für seinen Sohn ausgebeten. Es wurde ein Mann gerufen, der beide Violinen kannte und sie verteilen sollte; ich entdeckte jedoch nachher, daß der Geheime Rat die beste bekommen hatte. Ich sagte dies meiner Mutter und Großmutter, diesen aber schien der Gegenstand nicht bedeutend genug, um davon viel Verdruß zu machen. Ich selbst war froh genug, eine gute[38] italienische Violine zu haben, und so blieb die Sache wie sie war.

Meine Mutter war der Teilung dieser Erbschaft wegen zu ganzen Tagen im Erbenhause. Dadurch war ich in unserm Hause fast allein und widmete diese Ruhe und Muße gänzlich der Musik, wodurch ich denn bald auf meine Füße kam und Violinkonzerte spielte. Ich bekam noch Unterricht von einem guten Violinisten namens Schultz, der Kenntnisse in der Komposition hatte. Ich fing also an zu komponieren, und Schultz ging mir dabei mit Rat an die Hand. Endlich war die Erbschaft geteilt, und meine Mutter kehrte wieder zu ihrer eigenen Häuslichkeit zurück. Sie bemerkte bald, daß gar nichts anders als Musik getrieben wurde. Dies war ihr zwar insoferne lieb, als es mich im Hause hielt und mich von dem vorigen Lotterleben entfernte, doch konnte sie es meinem Vater nicht verschweigen, daß vom Zeichnen und der Geometrie nicht viel die Rede war. Es wurden mir Vorstellungen gemacht, die ich billigen mußte; ich zeichnete, rechnete eine Zeitlang, doch ehe ich es mir versahe, saß ich wieder tief in der Musik, wo denn wieder neue Ermahnungen folgten.

Es war nun wieder Frühling. Voriges Jahr hatte der Krankheit wegen aus dem Mauern nichts werden können, doch jetzt war es nötig, das Versäumte nachzuholen. Auf Befehl meines Vaters fing ich nun mit Macht an zu arbeiten, doch die Luft war bald vorüber, weil meine Hände durch Kalk und Steine und den Angriff des Werkzeugs hart und unförmlich zur Musik wurden. Ich bediente mich daher der gewöhnlichen Mittel, besonders des häufigen Waschens, um solche weich und geschmeidig zu erhalten.[39]

Ich hatte nun schon mehrere Gelegenheiten, Konzerte und kleinere musikalische Zusammenkünfte zu besuchen, und dabei viele neue Bekanntschaften gemacht, die alle dazu benutzt wurden, neue Stücke kennen zu lernen und womöglich meine Bekannten an Virtuosität zu übertreffen.

Dann gab es mehrere öffentliche Gärten, wo fast in allen Tagen der Woche von den Regiments- und Stadtmusikern Konzerte bei Bier und Tabak aufgeführt wurden, die ich nach und nach alle kennenlernte und fleißig besuchte, auch daselbst Klavier- und Violinkonzerte spielte.

Um diese Zeit geriet ich in das Haus des Stadtmusikus George, der seine beiden Brüder als Gehilfen, einen Sohn und andere Lehrlinge bei sich hatte.

Mußte ich diesen George zuerst für einen rohen, gemeinen Mann halten, so lernte ich ihn bald als einen durchaus geschickten Musikus kennen. Er spielte alle gangbaren Instrumente gut, Violoncell und Klarinette vorzüglich, als Kontraviolonist war er jedoch einzig zu nennen. Die Gewandtheit, Reinigkeit, Kraft und Präzision, womit er das Rieseninstrument handhabte, wüßte ich nicht auszuloben; es war, als ob die majestätischen Schritte eines Gottes durch die ganze Musik erklangen. Eine unerschöpfliche Freude und Luft an der Musik rechtfertigte seinen entschiedenen Haß gegen Plumpheit, Verdrossenheit und Pfuscherei der Untergebenen, die es in solchem Falle sehr schlimm bei ihm hatten. Dagegen war er mild und schmeichelnd gegen muntere Jünger, denen gewisse praktische Vorteile geheimnisvoll mitgeteilt wurden.

Das Eigenste aber, wo nicht das Wunderlichste, war das Hauswesen des guten George. Er pflegte sich in einer[40] Gegend der Stadt niederzulassen, wo er ohne zu große Kosten geräumig wohnen und einen Garten dabei haben konnte. In vier bis fünf großen Stuben waren die Wände mit den üblichen musikalischen Instrumenten bekleidet. Mitten in der Wohnstube stand ein Familientisch. An den Seiten wenige Stühle, eine Drechselbank mit Zubehör. Rapiere, Flinten, Reitzeug, Axt, Säge; Nutzhölzer traten unter dem Ofen und Bette hervor; Feuerwerksgeräte, auch eine Elektrisiermaschine fehlte nicht, und hundert Dinge, die man selten beisammen sieht.

Das Bett, worin er und seine Frau beisammen schliefen, stand auch hier und war nebenher von vielen, vielleicht acht bis zehn kleinen Hunden bewohnt, die, sowie jemand ins Zimmer trat, nacheinander hervorkamen und zur Luft und Freude des Ehepaars den Willkomm bellten, dann aber ebenso in die warme Feste zurückkehrten. Die Namen der Hunde waren: Syrinx, Pan, Tubal, Midas, Viole, Clarin, Cornette, Gavotte und andere.

In den andern Stuben waren große hölzerne Böcke aufgestellt, um darunterweg zu gehn und durch die Türen zu kommen. Die Böcke waren oben mit Dielen belegt, worauf den Winter über Blumen und Staudengewächse in Kisten standen.

Unten trieben sich Kaninchen, ein Schaf und Hafen herum, die übrigen Bewohner waren Tauben und Vögel der verschiedensten Art, entweder frei oder in Käfigen und Hecken. Auch ein paar Raben wurden täglich im Sprechen unterrichtet.

Die Hausfrau lag kränklichkeitshalber fast immer bei den Hunden im Bette.

Desto früher morgens stand George auf, ließ von den[41] Burschen die Zimmer reinigen, den Tieren Futter geben, die Gewächse begießen und den Garten bestellen.

Er selbst sahe nach den Instrumenten, bezog sie, reinigte sie vom Staube, und so ging der Vormittag hin.

Nachmittage mußten die Leute zusammentreten und Musik machen, Noten abschreiben und dergleichen. Waren keine Aufwartungen bestellt, so wurde lange musiziert und nach der Musik, vorzüglich im Sommer, im Garten gefochten, gerungen, voltigiert, Komödie aus dem Stegreife gespielt und tausend beliebte Übungen vorgenommen. Da George sich auch mit dem Feuerwerkswesen beschäftigte, wobei jeder seiner Freunde helfen, Papier, Pulver und dergleichen anschaffen mußte, so gab es auch dann und wann ein Feuerwerk, bei dessen Abbrennung geblasen und die Pauken gerührt wurden. Er nannte dieses sein Augenkonzert und konnte sich lange vorher kindlich auf den Augenblick freuen, alle diese Dinge anzuzünden und in die Luft spielen zu sehn. Es wurden papierne Drachen von ungemeiner Größe verfertigt, mit Kunstfeuern illuminiert und im Herbste auf dem Stoppelfelde gegen Abend mit langem Feuerschweife in die Luft gezogen. Der Jubel dabei, wenn alles wohl geriet, war erfreulich und viele Tage nachher der Gegenstand der Unterhaltungen. Wer sich dabei ungeschickt anstellte oder verbrannte, wurde vom Meister ernsthaft angelassen.

Das tätige Leben dieses Hauses mußte mir sehr gefallen, wie empörend mich auch anfänglich der verschiedene Geruch dieser Dinge anging. Doch über die Musik, woran ich hier teilnehmen durfte, und das belehrende Ausschelten des scharfen Meisters, welches (ich möchte sagen:) balsamisch auf mich wirkte, gingen alle anderen Sinne nebenher. Ich war nur mit den Ohren hier. Nur[42] diese und meine Hände waren meine Seele und mein Körper, dachten und empfanden. Ich konnte mich hier stundenlang frei auf allen Instrumenten üben, das ich zu Hause nicht durfte; ich ging mit auf die Türme der Stadt, auf Hochzeiten, Serenaden, und half die Aufwartungen versehn. Alles dieses mußte jedoch meiner Mutter weislich verschwiegen bleiben, denn dazu kam ein Umstand, der mir bei ihr sehr gefährlich worden wäre.

Georges Frau war weder jung und reizend, noch gesund, daher der Gemahl denn andere Bekanntschaften natürlich fand, die die Hausfrau eifersüchtig machten. Durch Beispiel angelockt, hatten auch die jüngern beiden Brüder sich dergleichen zugelegt, und, wodurch dies Verhältnis ein äußerst possierliches Ansehn bekam, so fand sich manchmal dies alles in demselben Hause beisammen, wo es anfänglich lustig und bunt, zuletzt aber allemal stürmisch herging. [Die Stimmen der Männer machten sich dann wie grobes Geschütz, wozu die Hunde und Weibsbilder das kleine Gewehr pelferten.] Von diesen stürmischen Intermezzi profitierten denn der Sohn, welcher Gottlob hieß, und andere aufgeweckte Bursche. Man zerstreute sich mit den Frauenzimmern, und die Jünger ließen sich nun die Brosamen von den Tischen der Herren nach ihrer Art schmecken, wie es gehn wollte. So unanständig mir nun dies alles vorkam, weil ich genau wußte, wie meine Mutter solche Bekanntschaften billigen würde, so ließ es sich doch auch handwerksgemäß denken, ja es kam mir (vor) wie eine eigene Komödie, die kein König so haben könne. Kamen nun gar, welches einige Mal geschahe, die Brüder hinter das nicht eben sorgfältig verwahrte Geheimnis der dreisten Zöglinge, so war die Hetze vollkommen: es gab Zank und derbe Hiebe;[43] die Hausfrau und mit ihr die Hunde nahmen sich des Sohnes an, und zuletzt lachten alle Parteien, denn das Eigentümliche bestand endlich noch darin, daß solche Auftritte den gewohnten Frieden des Hauses nur auf einen Tag störten. Am andern Tage ging alles wieder seinen alten Gang. Überhaupt war's mit Georgen wie mit jedem tüchtigen Meister: Man nahm übel, was er sagte, aber es geschah, was er wollte, und das war immer das Rechte.

War ich hier nicht zum besten aufgehoben, so muß ich Georgen das Zeugnis geben: er warnte mich. Einst war ich mit ihm allein im Garten. Er sagte: »Sie werden ein guter Musikus werden, aber mehr müssen Sie auch nicht werden wollen.« Ich sagte, daß ich auch keinen höhern Wunsch hätte. »Ja,« fuhr er fort, »das sind Redensarten, die mir schon bekannt sind. Denn eigentlich wollen die Herren alle alles werden, das ist: Kriegsräte, Bauräte, Kommerzienräte, doch zuletzt nebenher große Musizi oder andere Künstler; aber das geht nicht und gibt am Ende Unglück. Diese Leute, glauben Sie mir, erdrücken, was sie heben wollen. Wenn sie uns auf die Finger sehn, können sie es auch; alles raten sie wie rechte Räte; wenn's aber so gemacht würde, – die Hunde wollen's nicht essen! Was gut und fertig ist, haben endlich sie gemacht, kurz, sie sind die Herren, und die Schaffer sind die Knechte. Ich will mit diesen Leuten nichts zu tun haben, und so einer werden Sie am Ende doch auch.

Sie sehn wohl, junger Mensch, wie es hier zugeht, das kann Ihnen nicht frommen. Endlich heißt es, man hat Sie verführt und dann ist der Kuckuck los; ich bin Ihnen herzlich gut, weil Sie so viel Luft haben zur Musik, aber bleiben Sie von mir.«

Diese Reden trafen mein Innerstes, vor allem aber[44] rührte mich die Aufrichtigkeit des Mannes in tiefster Seele. Ich wurde dadurch wirklich aufmerksam. Ich hatte eingesehn, wie sich diese Leute in dem beschränkten Kreise niedriger Gemeinheit umtrieben und mitten in dem sogenannten lustigen Leben Hunger und Frost litten. Kam der Winter, so fehlte Holz. An Kochen und Essen wurde nur gedacht, wenn der Mittag da war. Man war verdrießlich, nichts zu finden. Es wurden nun Leckereien, Liqueurs, Kuchen, Mandeln und Obst erborgt und verzehrt.

In dem Hause meiner Eltern dagegen erwartete jede Mahlzeit ihre Gäste, und der Unterschied zwischen Ordnung und dem Zigeunerleben dieses Hauses erschien mir deutlich. Ohngefähr anderthalb Jahre hatte ich dies Wesen angesehn und mitgetrieben, und es gab Stunden, worin ich den lebhaftesten Ekel dagegen empfand. Was endlich der Sache den Ausschlag gab, war, daß ich in der Musik höher hinauf wollte, als ich es hier erreichen konnte. Man trieb die Musik hier nur des Geigens und Pfeifens wegen, wie auch ganz recht war; doch ich verlangte ein Mehreres, und dadurch wurde ich gleichsam unwillkürlich von diesem Hause nach und nach entfernt.

Da ich jedoch nicht wußte, wo ich mit meiner über alles geliebten Musik hin sollte, so fing ich an, wirklich zu leiden. Es war mir nicht verboten, zu Hause zu spielen; nur so viel nicht, als ich brauchte und Luft hatte, das hieß: unaufhörlich, konnte nicht erlaubt sein; legte ich mich des Abends nieder, so wünschte ich nur, daß der Morgen erst wieder da wäre; ich hatte nur für Musik Gedanken, alles andere flog meinen Sinnen vorüber wie die Vögel in der Luft.

Mein Vater sprach mir sehr ernsthaft zu: Er habe mich die Musik lernen lassen wollen, um mir ein bildendes[45] Medium in Stunden der Ruhe zu geben. Immer zu musizieren und an alles andere gar nicht zu denken würde ebenso sonderbar sein, als wenn ich immer ruhen, immer schlafen wolle. Ich werde einsehn, hoffte er, daß jedes Gewerbe seine Übung in Handgriffen, besonders aber in ununterbrochner Tätigkeit erfordere; die Jahre vergingen, und ehe man sich's versehe, sei man Bürger, Vater, der noch höhere Pflichten hätte als die bloße Selbsterhaltung. Dann müßte man doch brauchbar sein, welches man nicht sein könne, wenn man es nicht geworden wäre.

Solche Vorstellungen waren mir allerdings einleuchtend, doch was war zu tun? Hätte ich einen Mentor gehabt, einen Freund, der mir diesen Weg nicht bloß gewiesen, sondern auch geführt hätte, ich wäre gern mitgegangen. Doch unter den Handwerksgenossen hatte ich keinen, den ich Freund nennen konnte, weil ich mich nicht zu ihnen hielt. Meine Freunde bestanden in lauter jungen Musiklustigen, die ich alle zu übertreffen strebte, und so war ich tätig genug, nur nicht auf die Art, wie es mein Vater wollte, den ich übrigens seit meiner Krankheit ganz unendlich liebte, weil ich seine Besorgnis um mich gesehn hatte.

Das Zeichnen auf der Akademie hielt ich für zweckmäßig, auch deswegen, weil es mein Vater gern sahe, und nun verdoppelte ich hier meinen Fleiß. Mein Freund Hackert, den ich auf der Violine unterrichtete, war meine tägliche Gesellschaft. Er hatte das Kupferstechen angefangen und sollte nach einem Jahre zu seinem Bruder nach Neapel kommen. Ich machte mir eine Aussicht, mit diesem nach Italien zu gehn, um in diesem Lande der Kunst den Nektar süßer Gesänge an der Quelle zu trinken.[46]

Ich war voll Hoffnung; meine Fortschritte im Zeichnen wurden bald bemerkt. Der damalige Direktor der Akademie (Le Sueur) schenkte mir Aufmerksamkeit und lieh mir Zeichnungen mit ins Haus. Wenn er in die Akademie kam, setzte er sich neben mich und unterwies mich, wie ich zeichnete. Er sprach französisch mit mir, welches mir schmeichelte, und wenn ich meine Zeichnung vollendet hatte, unterhielt er mich darüber und zeichnete mir eigenhändig ein Köpfchen, eine Hand, ein Auge auf den Rand meines Blatts. Durch Hackert, der mit seinen Schwestern bei seiner Mutter wohnte, wurde ich in einem Kreise junger Schöngeister bekannt. Ein junger Literatus war in dem sittsamen Hause einer der Schwestern zugetan. Dieser führte mich mit ein. Die jungen Leute, welche teils Theologen und Juristen, teils Künstler werden wollten, beschäftigten sich untereinander mit literarischen Produktionen, welche in dem Kreise verlesen wurden. Dabei wurde stark Tabak geraucht und Bier getrunken. Gelesen hatte ich außer Gellerts etwas von Zachariäs Schriften; Klopstocks »Messias« und die Bibel hatte ich meiner Mutter öfter vorgelesen und aus der letztern vieles behalten. Die Sprache der Bibel aber war mir besonders natürlich und deutsch vorgekommen, und ich fand zwischen ihr und dem Messias einen Unterschied, als wenn es zwei verschiedene Sprachen wären, von denen ich die eine wohl nie lernen würde.

Las ich die Prosa der Bibel, so fanden sich zu den Perioden sogleich Melodien in mir an, die ich nicht wieder los werden konnte, und daher behielt ich das Gelesene im Gedächtnis. Las ich Klopstocks Hexameter, so war mir's, als ob die Quelle, woraus jene Melodien sonst unversiegbar flossen, sich auf einmal verschloß; daher war[47] mir's unmöglich, nur einen einzigen Vers dieses unsterblichen Gedichtes im Gedächtnisse zu behalten.

In diesen Kreis ließ ich mich nun ordentlich aufnehmen; doch ich wußte nicht, was ich vorlesen sollte. Mein Talent fühlte ich; ich ahnete etwas in mir, doch es lag so tief, so dunkel da, daß, wenn ich danach griff, ich immer etwas Unförmiges haschte. Ich war hier der Einzige, der auf Musik steuerte; selbst was ich sprach, hatte nur musikalische Beziehung und wurde nicht verstanden. Um doch einmal etwas vorzulesen, nutzte ich gerade diesen Umstand, indem ich mir sagte, du kannst ja wohl schreiben, was du willst; zu verstehn brauchen sie es nicht.

Über Musik hatte ich noch nichts gelesen, weil ich kein musikalisches Buch kannte. Zufällig kam mir Sorgens »Vorgemach dermusikalischen Komposition« in die Hände. Dieser Autor hat sich im Anfange seines Buchs die Mühe gegeben, durch Deduktion des harmonischen Dreiklangs (trias harmonica) den ungläubigen Juden und Türken die Dreieinigkeit Gottes zu beweisen.

Hier ging auch mir ein Licht auf. Ich verfertigte einen Aufsatz, in welchem ich, wenn ich nicht irre, als Erfinder dieser Idee erschien und zuerst die Dreieinigkeit Gottes und seine Allgegenwart überall wo Luft und Odem ist, bewies; ich ging noch weiter in die Zahlen hinein und erklärte nach meiner Art aufs bündigste und weitläuftig genug das ganze Heer der Cherubim, Seraphim und einer unendlichen Anzahl von immer kleiner werdenden Engeln, je größer meine Zahlen wurden. Gegen das Ende wurde die Sache theologisch, und am Schlusse meiner Vorlesung bemerkte ich erst, daß meine Zuhörer sämtlich ihre Pfeifen gestopft und sich in verschiedenen Gruppen abwärts verfügt hatten, um sich untereinander zu unterhalten.[48]

Ich schob diese Unaufmerksamkeit auf die Tiefe der Materie und auf die musikalische Tendenz, indem ich den Gedanken nicht fahren lassen konnte, daß in diesem Schacht ein wichtiger Fund verborgen sein müsse.

Ein junger Theologe, der sich an die werdende Aufklärung der damaligen Zeit anschloß und seine Zweifel über die Gottheit Christi mit Tatsachen belegen wollte, tadelte in einem Aufsatze die Wahl der zwölf Jünger Jesu als menschlich und trüglich und setzte hinzu: Jesus würde den Judas nicht zum Jünger gewählt haben, wenn er ihn von Anfang an gekannt hätte.

Dieser Einspruch erregte meine polemische Natur. Ich suchte zu beweisen, daß es nicht bloß Jesus sei, der diese Jünger gewählt hätte; sie seien ihm vielmehr von Ewigkeit her zugeordert gewesen, um die Weissagung der Propheten zu erfüllen; alles Menschliche an ihnen, und zumal die Verschiedenheit ihrer moralischen Tendenz, sei ein Werk der höchsten Weisheit zu nennen. Zuletzt kam ich insbesondere auf den Judas. Dieser, sagte ich, sei ein Jude gewesen, was man noch heut einen Juden nenne: ein Mensch, dem ein angeborner Erwerbs- und Handelsgeist beigewohnt, der die Dinge dieser Erde irdisch ergriffen und verfolgt, der gewußt habe, daß man ohne Geld nicht kaufen, und ohne essen nicht leben und lehren könne. So habe ihn Jesus gekannt und eben diesen und keinen andern nach Jerusalem gesandt, das Osterlamm zu bereiten. Geld habe ihm Jesus nicht gegeben, weil er selber keins gehabt, und es ihm also überlassen, wo eine solche Mahlzeit herzunehmen sei. Diesen Auftrag habe Judas ohne Einrede gewohntermaßen angenommen und auch wie ein rechter Ökonomus vollführt, ohne das Lamm zu rauben oder zu borgen. Bei seinem Eintritt[49] in die Stadt hätten ihn die Feinde Jesu gefragt, ob er den Meister kenne. – »Allerdings!« habe er geantwortet. – »Was geben wir Dir, wenn Du ihn uns zeigst?« – »Gebt mir Geld, das brauch' ich jetzt, so will ich ihn euch zeigen, daß ihr ihn nicht verkennen sollt.« –

Nun habe Judas mit eins Geld gehabt, vielleicht auch etwas bei dem Handel zu erübrigen gedacht, und die Mahlzeit bereitet. Daß es zum Sterben kommen solle, konnte ihm bei weitem nicht einfallen. Er wußte ja aus der Erfahrung, wie Jesus bei der Frage vom Zinsgroschen, vom Sabbath, bei der Unterredung mit dem Versucher in der Wüste und vielen andern Verfänglichkeiten mitten durch die Gefahr geschritten war. – »Kommt nur an!« mußte er denken, »er wird euch antworten, daß euch die Ohren klingen!« –

Jesus kam nach Jerusalem, und was nun geschah, wissen wir. Er starb den Tod der Missetäter, – aber nicht, weil er verraten war; nicht, weil sein Jünger ihn verraten hatte –: für die Wahrheit seiner Lehre, die er ebensowenig verleugnen als auf abgeschmackte Fragen antworten wollte, starb er! – Vielmehr wußte er seinen Tod vorher, dem er recht gut entgehen konnte, wenn er gewollt hätte.

Was tat aber Judas, wie er diesen Verfolg der Dinge sahe, wie er seinen Herrn nicht mehr retten konnte, ihn verlassen sehn mußte fast von allen andern Jüngern, die sich verkrochen, unkenntlich machten, flohen? – »Ich habe unschuldig Blut verraten!«, sagte dieser Weltmensch; und in der Fülle der Lebenslust, im Triebe weltlicher Regsamkeit konnte er das Leben nicht mehr ertragen; der Schmerz einer wahren Freundschaft überwältigte ihn, und er selbst gab sich den Tod! –[50]

Diese Rede erwarb mir die Gunst und nachherige Freundschaft des Professor Moritz, welche bis an seinen Tod gewährt hat. –

Der neue Frühling des Jahres 1776 war nun gekommen, und ich sollte – leider! – nun wieder mauern. In Berlin wurde ein neues Königliches Kadettenhaus gebaut, daran sollte ich arbeiten. Mein Vater übergab mich einem andern sehr geschickten Lehrmeister namens Lehmer; hier sollte ich das letzte Lehrjahr bestehn und das Versäumte nachholen.

Die erste Bekanntschaft, welche ich hier machte, waren die Hoboisten des Kadettenkorps, welche ganz unwissende Leute waren; jedoch ich nahm mit ihnen, und sie auch mit mir vorlieb; denn am Ende war ich doch nichts als ein Maurerbursche.

Mein Lehrmeister aber selber war nicht unmusikalisch, denn er spielte etwas Violine und Violoncell; und wenn Sonntags noch einige Freunde dazu kamen, so gab es in seinem Hause ein kleines Konzert, das ihm ganz wohlgefiel.

Außerdem war Lehmer in seiner Art ein gebildeter Mann zu nennen; er war klug, kalt, und wußte sich zu halten, um allenfalls für etwas mehr zu gelten; auch gab es in seiner Zeit noch mehrere Handwerker dieser Art.

Es waren bis daher in ganz Deutschland unter den Ständen besonders die Gewerbe deutlich voneinander geschieden gewesen, indem jedes für sich eine Kaste bildete, die sich genau zusammenhielt. Daraus waren Gebräuche und Äußerungsarten entstanden, woran sowohl die Stände selbst, als auch die Glieder derselben genau zu unterscheiden waren.[51]

Äußere Eingriffe in diese Kasten oder exzentrische Auswallungen von innen mußten daher scharf bemerkt werden und Unruhe erregen.

In dem Kreise der Gewerbe entstand dadurch eine Art Familienpolizei, die desto aufmerksamer und ahndungsvoller für die Mitglieder war, je weniger sie außer diesem Kreise bemerkt wurde. Von außen war sie nirgends anzutasten, weil sie nirgends zu erkennen war, und auch die Gesetzgeber und Staatsmänner beeiferten sich oft genug vergebens dagegen, indem sie keine Gewerbsleute waren. Die Kaiserlichen und Königlichen Privilegien deutscher Gewerbe sind zwar alle so prekär gestellt, daß sie oft ganz verschiedene Deutungen zulassen, doch die Gewerke selbst als Eigentümer dieser Privilegien wußten sich solche nach und nach eben deswegen so dem Begriffe jedes Handwerks anzupassen, daß durch vieljährige ruhige Observanz mit Genehmigung der obrigkeitlichen Autoritäten nur das darunter verstanden werden konnte, was die Besitzer wollten.

So beruhete in dem Gewerbe selbst ein allgemeiner Begriff, den ich den Kreis-Verstand nennen möchte. Wenn ein Handwerker mehr verstand als sein Handwerk, so war man sehr geneigt, ihm dies von seiner Gewerbsfähigkeit zu subtrahieren, indem es auf der andern Seite keinem Handwerker schimpflich war, nicht schreiben zu können, weil dem Handwerke selber alles andere nachstehen mußte, und daher schreibt sich wahrscheinlich die große Virtuosität der Vorfahren in allem, was mit Menschenhänden gemacht werden kann.

Mein Vater vertrauete mir, als er mich in den Gebräuchen des Handwerks unterrichtete, daß er in dem Hause des Dresdner Advokaten, wo er als Schreiber[52] gedient, schon zum Handwerke verdorben sei und bloß durch sein exemplarisch sittliches Betragen und durch sein Zeichnen und Rechnen sich seinen Meistern, wo er gelernt und als Gesell gearbeitet, unentbehrlich zu machen gewußt und deshalb mit den Gesellen immerdar auf einem still gespannten Fuß gestanden habe; man habe ihn spottweise den gelehrten Maurer genannt, und wo er als Gesell in Deutschland gewandert sei, habe man ihm überall dies und jenes unter seinen Mitgesellen verschwiegen, was er zwar recht gut erraten, aber niemals aufrichtig von ihnen erfahren habe.

Im Handwerke galt eine Handwerkssittlichkeit; wer diese verletzte, ward bestraft, ja oft hart bestraft, und so war es möglich, die Handwerke in Flor zu bringen. Entstanden nun An- und Eingriffe von außen auf das Handwerk selbst, so war die Bewegung gewaltig, weil sie ganz war und zusammenhaltend.

Die Handwerksehre ging dem Handwerker über alles, und der geringste Schimpf oder die leiseste Verletzung erschuf eine Bewegung.

Solcher Bewegungen entstanden während meiner Lehrjahre und kurz vorher mehrere.

Die Artilleristen, welche vor den Toren der Stadt Kanonen probierten, schossen einst den Galgen ein. Der König wollte den Galgen sogleich wieder aufgebaut wissen, doch dies ging nicht sogleich. Der Stadtmagistrat mußte sich in Pleno hinaus verfügen, den ersten Schlag an dem Gebäude tun und die Stadtfahne darüber schwenken, ehe die dabei arbeitenden Maurer, Schmiede, Schlosser und Zimmerleute, welche mit klingendem Spiel und fliegenden Fahnen hinterherzogen, Hand anlegen wollten.[53]

Friedrich der Große, seit dem langen Kriege an philosophische Ruhe und Übersicht gewöhnt, nannte dies ein Possenspiel und verbot es für die Zukunft.

Mein Vater war der Meinung, das Kleine beim Kleinen zu lassen und den Leuten zu gewähren, was in seiner Art unschuldig sei und bleiben könne, wenn die Polizei nur aufmerksam genug sei; auch stimmten alle erfahrnen Mitglieder der genannten Gewerke hierin überein und baten den Magistrat, dagegen beim Könige Vorstellungen einzureichen. Des Königs Wille war bekannt genug geworden, und nun mischten sich die Philosophen der Stadt in die Sache; es ward darüber gesprochen und geschrieben, und niemand wollte so verstandlos sein, die Albernheit solcher Aufzüge nicht einzusehn, welche nur Unordnungen und Müßiggang veranlassen könnten.

Mein Vater sagte dagegen: Wenn die Leute Aufzüge machen, können sie freilich nicht arbeiten; da sie aber täglich arbeiten müssen, um zu leben, und viel arbeiten müssen, wenn sie für ihre Kosten Aufzüge veranstalten wollen, so verbiete sich der Müßiggang von selber, und gegen Unordnung gebe es unter den Gesellen selber Mittel, die leichter zu unterstützen wären als abzuschaffen.

Indessen blieb immer die Frage stehn: wofür sind solche Aufzüge gut?, und diese Frage ließ sich weder gegen obere Behörden noch gegen jene Stadtphilosophen so beantworten, daß an einem rechten Einverständnisse zu denken gewesen wäre. Selbst im Gewerke waren darüber verschiedene Meinungen. Mein Vater behauptete, es werde dies bald Folgen haben für das Gewerk und späterhin für das Land, indem dies eigentlich der Zügel sei, an welchem man mit gehöriger Klugheit das Gewerbe[54] führen und leiten könne; er halte es daher auch für unpolitisch und sei überzeugt, eine politische Regierung müsse die stärksten Arme des Landes (unter Bedingungen, die das Gewerbe genug begrenze) frei lassen, um so mehr, wenn sie auf der andern Seite hergebrachte Befreiungen allgemeiner Lasten respektiere.

Die Gesellen taten sich bei solchen Aufzügen in Kleidung und Anstand hervor, trugen Degen und beeiferten sich, ihrem Stande Ehre zu machen. Wer gut focht, die Fahne spielte, tanzte, galant war gegen das Frauenzimmer, ward angesehn; dagegen ein Gesell, der Sonntag und Werkeltag arbeitete und sich nicht sauber zu kleiden wußte, weniger geachtet war. Wer schlechtes Handwerkszeug hatte, oder sich wohl gar dies und jenes leihen mußte, nachlässig oder unsauber arbeitete, ruchlose Reden führte, sich in fremde Händel mischte, die Arbeit verunreinigte, ward zur Buße gezogen von den Mitgesellen. Man konnte den Ton dieser Leute unter sich gut nennen.

Waren die Vergehungen nicht entehrend für den ganzen Stand, so bestanden die Bußen in Freihaltungen, wobei alles lustig zuging; waren sie es aber, so war die Buße oft grausam und mit Ausstoßungen verbunden, von denen keine Errettung war im ganzen Deutschlande.

Es dauerte nicht gar lange, so zeigte sich eine Gelegenheit, die Prophezeiung meines Vaters zu bestätigen. Ein Gesell warf dem andern eine tote Katze in seinen Kalkkasten. Augenblicklich warf dieser sein Handwerkszeug von sich, erregte die übrigen Arbeiter, welche das nämliche taten, und alle Gesellen dieses Baues zogen in Gesellschaft umher, riefen die Leute von anderen Bauen ab, und es entstand Bewegung in der ganzen Stadt.[55]

So unrecht dies war, eine einzelne Sache zu einer allgemeinen Sache der Stadt zu machen, so gewaltig waren die Anstalten dagegen.

Überließ man dem Gewerke, die Sache zu vermitteln, so war die Sache in einem Tage abgemacht, und die Schuldigen konnten nachher zur gebührenden Strafe gezogen werden. Dagegen ward aber das ganze Militär der Stadt in Bewegung gesetzt, um einige hundert trunkener Gesellen zu zerstreuen und zum Teil aufzubringen, und es gab einen Lärm, der eine ganze Woche dauerte. –

Das Kadettenhaus, woran ich mauerte, war nicht weit entfernt von dem Laden einer Bäckerwitwe, wo ich einige Male Brot gekauft hatte. Diese hatte zwei Töchter und einen Sohn. Der Sohn zeichnete mit mir auf der Malerakademie, weil er sich dem Bauwesen widmen wollte. Ich war schon genug mit ihm bekannt, um bald seine nähere Freundschaft zu erlangen. Die jüngste seiner Schwestern ward von mir im Klavier spielen unterrichtet, wofür mich die Mutter nach alter Sitte und Sprache: »Umsonst kauf' ich den Tod« bezahlte, wie ich mich auch sperrte. Das Mädchen hatte ungemein schöne und kluge Hände, und da ich nicht versäumte, sie deswegen zu loben, schritt sie bald fort und spielte mit vieler Leichtigkeit. Der Bruder Theodor war fleißig und der Stolz seiner Mutter, welche jedoch immer ihre Bedenklichkeiten äußerte, daß so viel Fleiß nicht auf ein Handwerk verwendet würde, und dabei zu meinem Lobe sagte, daß ich neben der Musik ein nützliches Handwerk triebe. An einem Sonntage kam ich hin und zeigte die Sandrartsche Zeichnung von der Peterskirche zu Rom, welche ich kopiert und zu dem Ende mitgenommen hatte. Theodor[56] äußerte das höchste Erstaunen über die Größe und Schönheit des herrlichen Gebäudes, und seit dieser Zeit fand ich ihn oft in tiefen Gedanken. Das Geld für den Unterricht hatte sich auf zwölf Thaler angesammlet, welches ich eines Tages erhielt. Theodor bat mich, ihm dieses Geld zu leihen, und war hoch erfreut, eine solche bedeutende Summe in seinen Händen zu sehn. Einige Tage nachher kam des Morgens die Mutter zu mir, und in einer Flut von Tränen beschwor sie mich, ihr zu sagen, wo ihr Sohn sei, welches ich wissen könne und müsse. Er sei diese Nacht nicht zu Hause gewesen; er habe dies niemals getan, und es müsse ihm ein Unglück widerfahren sein. Ich wußte von nichts. Wir waren gewohnt, im Flusse zu baden, doch dies war gestern nicht geschehen, und daher konnte ich keine Antwort geben. Meine Mutter war im höchsten Schrecken über diesen traurigen Vorfall; sie sahe in Gedanken plötzlich auch ihren einzigen Sohn verloren, und die Predigt und das Lamento über mein vieles Absein außer dem Hause, über das Baden im Flusse wollte gar nicht enden.

Doch Theodor war fort, bis endlich aus Straßburg ein Brief ankam:

»Liebste Mutter! Ich habe Dich und meine Schwestern gewiß durch meine heimliche Abreise erschreckt. Ich bin gesund und kenne keine Sorge, als Dich zu betrüben. Ich werde in kurzer Zeit wieder bei Dir sein und Dir dann sagen, was mich von Berlin weggetrieben hat. Mitgenommen habe ich nichts, als was ich von meinen Sachen tragen kann, und zwölf Thaler, welche mir Zelter geliehen hat. Ich hielt dies für hinlänglich, aber ich werdemich sehr einrichtenmüssen. Verzehrt habe ich bisher erst einen Thaler, das übrige[57] ist an Trinkgeldern ausgegeben. Lebe wohl und sei nicht zu besorgt um Deinen ewig treuen

Theodor.«


Die Mutter erschien mit diesem Briefe in unserm Hause, da ich denn die bittersten Vorwürfe hören mußte, von diesen zwölf Thalern, welche sie mir wiedergab, kein Wort gesagt zu haben; ich empfand jedoch die tiefste Kränkung, von seiner Entweichung gar keine Red' und Antwort geben zu können, – was niemand glauben wollte –, ja war im Ernste böse. Er mochte im Anfange des Mais fortgegangen sein. Im November war er wieder hier. Der Anblick meiner Sandrartschen Zeichnung hatte ihn so ergriffen, daß er von dem Augenblicke an den Entschluß gefaßt hatte, das Gebäude selbst zu sehn, als ob es das einzige in Italien wäre. Er sammelte sich unverzüglich einige hundert italienische Redensarten, und da er zu einer so kühnen Reise in ein fremdes Land keine Erlaubnis von seiner Mutter zu erhalten hoffte, ging er heimlich fort, sobald er die zwölf Thaler in seinem Besitz sahe, mit denen er sich jedoch verrechnet hatte, weil er überall anderes Geld brauchte. In Straßburg war er, indem er den Münster bestieg, mit einem jungen deutschen Edelmann bekannt worden, der ihm einen Paß bis Rom verschaffte und für eine freie Zeichnung des Münsterturmes fünf Karolinen und eine Reisekarte gab. Von hier ging er mit seiner Karte in der Hand durch die Schweiz über Genua und Florenz zu Fuße gerade nach Rom. »Ich kam«, erzählte er, »gegen die Mittagszeit in Rom an, welches mein Wille war, um den ersten Eindruck dieser Stadt der Welt ganz voll zu haben. Ich war erst wenige Straßen gegangen, als sich die auf meiner[58] ganzen Reise erhaltene Begierde, die Peterskirche zu sehn, zerteilte und in dem Anblick der übrigen Gegenstände fast verlor. Ich kam auf den Spanischen Platz, wo man mir eine Wohnung bezeichnet hatte, die ich auch sogleich erhielt, und konnte mich den Italienern schon recht gut verständlich machen. Ich fand einige junge Deutsche, deren Sprache und Anblick mich aufs allerhöchste erfreute. Einer unter ihnen bot sich sogleich an, nach genommener Ruhe mich umher zu führen, welches ich jedoch ablehnte. Ich hätte, sagte ich, eine ziemliche Reise gemacht, um hier zu sein. Nun ich hier bin, habe ich's in meiner Gewalt, die Peterskirche zu sehn. Deswegen sei ich gekommen, und das solle nicht heute, sondern erst übermorgen geschehn, weil ich mir erst Papier und Zeichengerätschaften anschaffen wolle, ehe ich das Gebäude sähe. – Übrigens war er ohne alle weitere Notiz von seiner Reise zurückgekommen, wie er hingegangen war. Denn er hatte nichts als diese Skizze aus Italien mitgebracht, und da er nun erst die Abwesenheit von seiner Mutter schmerzlich gefühlt hatte, war er zurücke geeilt. –

Unterdessen hatte ich nun eine gute Zeit lang aufmerksam gemauert, ich möchte sagen: mit Luft, so lange nämlich neue Fälle meine Erfahrung bereicherten; auch sahe ich hin und wieder neben mir tüchtige Leute tüchtig arbeiten und konnte an diesen sogar ein freies genialisches Wesen auch im Handwerke bemerken, wenn dagegen den meisten die Arbeit blutsauer ward, ihr ganzes Kommen und Gehen, ja ihr Essen und ihre Freude schleppend und träge erschien.

Völlig unausstehlich und gemein aber war mir das Verderben der Hände und Füße durch das ewige Wühlen[59] und Treten unter Schutt und Steinen, Kalk und lauter harten, ätzenden Sachen, die mir um so empfindlicher angingen, wenn nasse Witterung oder Kälte die Gliedmaßen streng und steif mach(t)en. Unter solchen Umständen waren mir denn Arbeiten, welche dem Körper große Bewegung gaben, die liebsten: Wenn es etwas zu graben, zu laufen, zu schleppen gab, war ich gern dabei, und wohin keiner wollte, da bot ich mich an. Indessen ward ich bald gewahr, daß meine Mitarbeiter in solchen Fällen darauf rechneten, mir aufzutragen, was sie nicht gerne tun wollten, und da ließ ich mich denn weniger willig finden und hatte oft die tödlichste Langeweile, wenn ich bedachte, wie viel lieber und besser ich mich bei der Musik als beim Mauern ausnehmen müsse. Ich fühlte hier recht tief und schmerzhaft das Glück derjenigen, welche mit einem Talente unter begünstigenden Umständen in die Welt treten. Wäre mein Vater ein Tonkünstler oder ich mit einem Talente zur Architektur begabt gewesen, so hätte meinem Glücke bei so trefflichen Eltern nichts gefehlt, da ich hingegen so ein trauriges Leben führte. Unter meinen Mitschülern im Gymnasio oder beim Stadtpfeifer war ich munter, aufgelegt zu freien Ausbrüchen des Geistes; hier unter diesen Leuten war ich traurig, ohne Leben, Witz, Heiterkeit. Ost habe ich zu Gott gebetet, daß er mir mein musikalisches Talent in ein architektonisches verwandeln möchte, um meinem geliebten Vater frei und fröhlich unter die Augen treten zu können; zuletzt glaubte ich, es müsse so sein, und ergab mich, bis denn wieder einmal die allmächtige Liebe zur Musik mich packte und alles gewaltsam auseinander riß, was die Resignation mühsam erbaut hatte.

Es war mein letztes Lehrjahr, und ich hatte den ganzen[60] Sommer hindurch standhaft beim Mauern ausgehalten, bis im Herbst ein unangenehmer Vorfall mir das ganze Wesen aufs neue verhaßt machte.

Das Vordergebäude und die Flügel des Kadettenhauses waren bis zum Dache fertig, und im Herbste wurde noch der Grund zum Quergebäude gelegt. Ich stand eines Tages in der Erde etwa sechs Fuß tief und mauerte am Fundamente. Es war kalt, ich war verdrießlich und hatte Handschuhe angezogen, worüber meine Mitarbeiter ihre Glossen machten. Die Stelle, wo ich arbeitete, ging nahe an der Tür eines Schweinstalles vorbei, der einen übeln Geruch gab. Es ward an diesem Tage geschlachtet. Der Schlächter stand mit einer Keule an der Tür des Stalles; ein Schwein ward herausgelassen, und indem es aus der Türe trat, schlug es der Schlächter vor den Kopf, daß es gerade vor mich hin ins Fundament auf meine Mauer stürzte. Ich ergriff das Schwein bei einem Hinter- und einem Vorderfuße, wie es gerade lag, und warf es dergestalt in die Höhe und gegen den Schlächter, daß dieser zurück auf einen Haufen Steine schlug und großen Schaden nahm. Der Schlächter schrie vor Schmerz, und seine Frau schimpfte unmäßig in so entehrenden Worten, daß meine Mitarbeiter unruhig wurden und das Werkzeug wegwarfen. Ich sprang aus dem Graben, schlug das Weib, warf ihr meine Handschuh ins Gesicht und ging zu Hause, wo ich meinem Vater den Fall erzählte und erklärte, daß ich um keinen Preis wieder dahinginge. [Die Sache war angetan, um Unruhe unter den Gesellen zu erregen, die jedoch beigelegt wurde.]

Meine Lehrzeit war endlich um, ich wurde am 10. Februar 1777 losgesprochen.

Mein erster Gedanke war, als Gesell in die Fremde[61] zu gehen und mich in der Entfernung meiner Eltern ganz leise in die Musik zu legen. Doch ich wußte nicht genug Musik und wollte mich erst weiter bringen. Ich geriet in neue musikalische Zirkel, ging von einem Konzerte in das andere, und es wurde dabei nichts Rechtes geleistet, weil ich mich wohl an der freien Gesellschaft ergötzen, aber von diesen Leuten nichts lernen konnte. Darüber vernachlässigte ich auch das Zeichnen in der Akademie und sahe nun meinen Freund Hackert seltener.

Nach einiger Zeit kam Hackert zu mir, um Abschied von mir zu nehmen. Er fand mich auf dem Hofe beim Kalklöschen. Sein Bruder ließ ihn nach Neapel kommen, um ihn zum Künstler auszubilden. Dieser Abschied durchdrang wie ein Wetterschlag mein Innerstes. Ich fühlte heute recht lebhaft den Abstand von mir zu einem freien Künstler und seinem Wesen. Ich weinte acht Tage, nicht so sehr um den Verlust des Freundes als, ich wußte selber nicht recht, warum. – Das Land der Gesänge zu kennen war mein heißer Wunsch, doch ich kannte die Sprache nicht; dabei hatte ich eine ungeheure Vorstellung von der Weite und Würdigkeit des Vaterlandes der Virgile, Horaze und Tasso; den Himmel dachte ich mir dort höher, Sonne, Mond und Sterne wärmer, heller, und alles schöner.

Italienische Komponisten kannte ich nur durch den großen Ruf; auch glaubte ich, Italien sei nicht das Land, wo man lerne, sondern von da aus die Welt unterrichtet werde. Die sieben Hügel und die Peterskirche würden nur von Heiligen, von Geweihten betreten, an denen sich die Gnade Gottes offenbaren wolle, und für einen so hoch Begünstigten konnte ich mich nicht halten. Darüber versank ich eine Zeit lang in brütende Melancholie;[62] ich las, schrieb, zeichnete und trieb allerlei Dinge durcheinander, um die Zeit los zu werden.

Schon seit einiger Zeit kannte ich einen jungen Stuckarbeiter, der die Orgel spielte und sehr fertig auf dem Pedale war. Seines stillen und eingebognen Wesens wegen machte ich eben nicht gar viel aus ihm, doch fragte ich ihn jetzt, woher er die Übung auf dem Pedale hätte. Er antwortete, sein Oheim, der Schullehrer, habe ein Klavier mit einem Pedale und ein Positiv; darauf übe er täglich eine Stunde, und in der Andacht spiele er die Lieder.

Ich bat ihn, er solle mich einmal mit dahin nehmen. Er versprach, seinen Oheim zu fragen, dann wollte er mir Antwort bringen. Eines Tages kam er zu mir und sagte, wenn ich wollte, so sollte ich ihn und seine Mutter heute abholen, um in die Andacht zu gehen. Ich erschien. Die Mutter konnte gegen vierzig Jahre alt sein. Sie war Witwe und hatte bedeutende Reste ehemaliger Schönheit. Sie fragte mich bald, ob ich ein Christ sei, ob ich betete, ob meine Mutter fromm sei, zu welcher Kirche wir uns hielten, welches ich alles beantwortete, wie ich es wußte. Endlich gingen wir zur Andacht. Wir traten in einen mäßigen Saal von drei Fenstern. An der einen Wand desselben stand ein Positiv von acht Registern und vor dem letztern ein Pult, worauf eine Bibel lag. Das übrige Geräte des Saales bestand in Stühlen und Bänken, deren mehrere bereits von ältlichen Frauen und Männern besetzt waren, die vor sich still im Gesangbuche lasen. Es mochten etwa dreißig Personen beieinander sein, als der Lehrer erschien und ankündigte, das Lied »O Ewigkeit, du Donnerwort« werde gesungen werden. Nach einem Präludium auf dem Positiv begann das[63] Lied, dessen erste Strophe mir Schauder und Entsetzen erregte. Nach dem Gesange trat ein schlichter Mann an das Pult und sprach über dieses Lied, indem er der Versammlung den Begriff des Ewigen auseinandersetzte: »Es lasse sich nämlich der Anfang der Dinge in der Welt nicht ohne Ursache und ebensowenig ohne Folge denken. Da nun der barmherzige Gott den Menschen zu seiner Erhebung und Erhöhung mit Vernunft und mit der Neigung ausgestattet habe, die Ursachen der Dinge erforschen zu wollen, da dieser Mensch einzusehn vermögend sei, daß alles Angefangene natürlich seine Folgen bis in Ewigkeit fortsetze, so sei ein Christ als ein hochbegnadigtes Kind Gottes um so mehr verbunden, immerfort Gutes zu tun und Gutes anzufangen, weil aus dem Guten bis in alle Ewigkeit Gutes folge, und daher die Seligkeit eines Menschen, der des Guten viel tue, unermeßlich und ewig sei. Dahingegen ergebe sich von selber, daß gedankenlose, unbedachte Handlungen und Unternehmungen ein Übel über dem andern erzeugten und dem richtenden Gewissen unsterbliche Qual bereiten müßten, welche selbst die ewige Liebe nicht verhindern könne, ohne die ewige Gerechtigkeit zu verletzen.«

Dies war der ohngefähre Inhalt der Rede, welche überall mit Stellen aus der Bibel belegt war und kaum eine Stunde währte, nach deren Endigung das Lied »O Ewigkeit, du Freudenwort« gesungen wurde.

Ich war von dieser Andacht höchlich erbaut worden. Vor allem aber hatte ich während des Gesanges eine ungewöhnlich klare, volle und weiche Sopranstimme wahrgenommen. Meine Augen suchten umher; man stand auf, man ging. Doch konnte ich keine Gestalt finden, der ich[64] diese Stimme zueignen mochte; es mußte eine junge Stimme sein, und ich sahe nur alte, kalte Gesichter.

Ich war der letzte der Gäste, dankte dem Lehrer und bat um die Erlaubnis, wiederkommen zu dürfen, welche ich auch erhielt. Der Lehrer zeigte mir auf meine Bitte noch sein Pedal, welches ich versuchte, und so empfahl ich mich.

Es war Abend geworden; ein junges Mädchen mußte mir die Treppe hinunter den Flur entlang leuchten. Wie sie das Haus aufschloß, in der rechten Hand den Schlüssel und in der linken das Licht hielt, beleuchtete sich ein braunes, entschlossnes Gesicht, aus dem zwei große schwarze Augen blickten. Eine volle, sorgfältig bedeckte Brust verlor sich sanft in den kurzen Hals; zwei feste runde Arme und sehr zierliche Schenkel vollendeten eine stämmige Figur, die sich leicht und gefällig bewegte. Ich wünschte dem Mädchen etwas zu geben; Geld hatte ich zu wenig. Ich zog meine kleine goldene Tuchnadel hervor, welche oben ein grün emailliertes Kreuz hatte, und gab sie ihr. Sie nahm sie an, küßte das Kreuz mit unendlicher Anmut und steckte die Nadel an ihren Hals, indem sie das Tuch zurückbog und mit behenden Fingern wieder zulegte. Sie dankte mir mit Innigkeit, das Kreuz schien ihr angenehm zu sein; ich drückte einen Kuß auf ihre Lippen und sprang zur Türe hinaus. Ich war nur wenige Schritte vom Hause, als ich mich besann und stillstand. Ich wußte selber nicht, was seit zwei Stunden mit mir vorgegangen war; die Eindrücke waren verschieden und doch zusammenhängend; aber ich war nicht unruhig, und das braune Mädchen behauptete zuletzt das Feld meiner Gedanken. Jetzt erinnerte ich mich, daß die wenigen Worte des lieben Wesens zwar deutsch, doch[65] so eigen gestellt waren, daß sie nicht von hier sein konnte. Aus Sachsen, Westfalen, Schlesien konnte sie auch nicht sein, denn ihre Mundart und Artikulation war bestimmter, energischer, als man es insgemein unter den Deutschen findet. Dies beschäftigte mich ganz angenehm, ohne zu einer Meinung zu kommen. Ich sann darauf, das Mädchen allein zu sprechen, konnte aber auf kein Mittel fallen: Das Haus, wo der Lehrer wohnte, gehörte der Kirche und war immer verschlossen. Unbemerkt konnte man nicht hineinkommen; so erwartete ich ungeduldig die nächste Andacht. Der Tag erschien. Die Zuhörerschaft war diesmal zahlreicher, doch der Vortrag, welcher von dem Lehrer selber gehalten wurde, schien mir weder so klar und innig, noch von solchem Eindrucke auf die Versammlung zu sein als das vorige Mal. Das braune Mädchen aber sah ich nicht, und ich ging traurig von hinnen. Den Tag darauf hatte ich schon keine Ruhe mehr. Ich ging in der Mittagsstunde einige Male an dem Hause vorüber, in der Hoffnung, etwas gewahr zu werden. Eben wollte ich wieder von dannen gehen, als sich die Tür öffnete und eine ältliche Frau heraustrat, die etwas Verdecktes sorgsam trug. Die Frau ging auf die nicht weit entlegene Kirche zu; ich folgte ihr von ferne nach, ohne zu wissen, warum. Die Kirche stand auf einem freien Platze, der mit weißer Wäsche behängt war. Hier hielt die Frau an und rief: »Line!«, und siehe, mein braunes Mädchen trat aus der übereinander gehängten Wäsche hervor. Ich fuhr vor Freuden zusammen, ja ich erstaunte über die malerische Wirkung, welche die dralle, feste Gestalt auf dem schneeweißen Grunde der aufgehängten Wäsche machte. Sie mußte den Trockenplatz bewachen, und die Frau brachte ihr das Mittagsessen. Hier stand[66] ich und lauerte. Die Alte ging wieder zu Hause, und Line setzte sich auf einen Waschkorb, um ihr Essen zu verzehren. Ich trat an sie heran, und sie grüßte freundlich, indem sie sagte: »Wie kommen Sie hieher?« – Ich versicherte, daß es um ihre[n]twillen geschehen sei, da ich sie gestern in der Andacht nicht wahrgenommen habe und um sie besorgt gewesen sei. – »Ja«, sagte sie, »der Herr Lehrer hat gescholten, daß die Madam gestern waschen ließ. Er sagte, alles habe seine Zeit, und die Wäsche hätte einen Tag später geschehen können; man müsse dem Dienste Gottes keine Zeit entziehn, die ihm ohnehin karg zugemessen würde.« – Ich verbarg ihr meine Freude nicht, sie hier und allein zu finden; seit neun Tagen hätte ich sie überall vermißt und auf Mittel gesonnen, sie zu sprechen.

Das Mädchen gefiel mir immer mehr; sie sah in der hohen Mittagssonne aus wie eine frische Orange. Sie bot mir einige Bissen an, die ich nahm, und niemals habe ich etwas dankbarer genossen. Ich mußte mich immer mehr verwundern über die Sprache des Mädchens. Ein wohlgezogner, nicht eben kleiner Mund, leichtes Lippenspiel, eine freie Zunge gaben allem, was sie sprach, Bedeutung. Man hörte nicht bloß deutlich, man verstand auch genau. Die Oberfläche ihres Gesichts schien fest wie Marmor, wenn sie schwieg; sprach sie aber, so war alles in Bewegung, und ein leiser Schein jugendlicher Röte schimmerte durch die braune Farbe. Ich fragte, wie sie in dies Haus komme. Sie antwortete: »Ich bin aus Siena im Toskanischen. Mein Vater starb, da ich sechs Jahre alt war, und hinterließ meiner Mutter sechs Töchter. Meiner Mutter Bruder ging alle Jahre von Siena nach Deutschland, wohin er allerlei Waren verhandelte.[67]

Er hatte mich sehr lieb, und da ihm meine Stimme gefiel, mußte ich ihm immer vorsingen. Einst bat er meine Mutter, daß ich mit ihm nach Deutschland reisen möchte. Ich wollte dies nicht gerne und meine Mutter auch nicht; ich weiß daher selber nicht, wie es kam, daß ich dennoch mitreisete. Auf der Zurückreise starb der Oheim plötzlich am Schlage in einer kleinen deutschen Stadt, wo wir übernachteten, und nun war ich verlassen.

Des Lehrers Bruder, der auch auf der Reise und in demselben Hause eingekehrt war, nahm mich von hier mit nach Minden, weil mich die Wirtsleute nicht behalten wollten. Er hatte auch fünf Kinder, von denen ich deutsch lernte, starb aber auch bald plötzlich, und seine Frau sandte mich hieher zu seinem Bruder, wo ich noch besser gehalten bin als in Minden, nur bin ich noch weiter von meinem Vaterlande entfernt.« –

Die kurze Erzählung machte den ganzen Eindruck auf mich. Es schien mir, als wenn das Mädchen im Sprechen verklärt würde, und ich bekam eine Ehrfurcht gegen sie wie vor einer Heiligen. Die Bissen, welche sie mir gereicht hatte, schmeckten mir nun wie Manna; sie selbst aber nahm ich geradezu für eine heilige Botin. Ich fragte sie, wie sie es denn mit der Religion hielte, ob sie noch katholisch sei, noch ihre Kirche besuche und beichte. – »Certissimo!« rief sie aus in dem Tone der höchsten Würde. – Sie sagte es nicht, aber ihre ganze Artkam mir vor, als ob sie die frühe Entfernung von ihrer heiligen Kirche für eine bittre Prüfung ansah, indem sie mit einer Art von Mitleiden von ihrer Herrschaft sprach, der sie dienen müsse und mit der sie übrigens keine Unzufriedenheit bezeigte. Trotz ihr(er) Jugend fand ich an ihr pathetische Momente, in welchen sie aussah wie eine[68] gefangene Königin, die auf ihre Befreiung hofft und derselben gewiß ist. Ich fragte sie, ob sie denn bei den Andachten des Hauses immer und gern gegenwärtig sei. – »O ja«, sagte sie, »denn da darf ich singen; außer dem erlaubt es die Madam nicht, weil es hier sündlich ist.« – Ich wollte gern erforschen, was sie von diesen Andachten hielte. – »Es mag alles gut sein«, sagte sie, »ich kann die vielen Worte niemals behalten. Die alten Leute sehn aus, als wenn sie niemals wären jung gewesen, und der enge, niedrige Raum preßt mir das Herz zusammen. Den Messen in den schönen Kirchen zu Siena und zu Florenz habe sie schon als ein schlafendes Kind auf dem Arme der Mutter beigewohnt. Die Größe der Kirchen und die Gegenwart der Heiligen fehle hier gänzlich. Sie bete nur recht, setzte sie hinzu, wenn sie ganz allein sei, wenn sie sich schlafen lege und aufstehe; und Sonntags gehe sie in die Messe.« –

Ich fragte, wie es denn mit der Sprache sei, ob sie ihre Muttersprache hier nicht vergesse? – »O nein«, sagte sie, indem sie mich dreist ansah und ihr ganzes Wesen sich zu erheben schien, »ich bin eigentlich aus Florenz, und meine Eltern sind erst nach meiner Geburt nach Siena gezogen; ich weiß auch, daß meine Mutter jetzt wieder in Florenz ist, wo ihr Vater noch lebt.«

»Nun«, sagte sie, »werde ich nach der Wäsche sehn müssen. Die Madam wird bald hier sein.« – Ich pries mein Glück, sie hier allein gefunden und sie zum ersten Male an ihrer süßen Stimme erkannt zu haben, und fragte, wann und wo ich sie wieder so sprechen könne. – »Ich gehe«, antwortete sie, »nicht aus als nach der Aufschwemme, wenn ich Flußwasser hole, und Sonntags muß ich zum Pater Giovanni kommen, mit dessen[69] Schwester ich in die Messe gehe.« – Hier sahn wir die Madam kommen; ich ergriff die Hand des Mädchens und drückte sie. Sie zog sie aus der meinigen, indem sie sich unter die Wäsche verlor, und so entfernte ich mich gleichfalls. Das Mädchen hatte einen tiefen Eindruck auf mich gemacht, und meine ganze Einbildung war mit Italien beschäftigt: »Flo renz und Siena!« klang es vor meinen Ohren im Schlafe und im Wachen. Die nächste Andacht wurde von mir nicht vergessen; ich erschien etwas eher, auch hörte ich die Stimme wieder, doch meine Augen suchten sie vergebens; sie war gleich nach der Andacht davongegangen, und ich mußte trostlos fortgehn.

Der Gedanke, jetzt acht Tage lang zu schmachten, ohne wieder hieher zu kommen und sie vielleicht wieder nicht zu sehn, regte meine ganze Beweglichkeit auf. Ich entschloß mich, sie künftigen Sonntag in der Messe aufzusuchen, und wenn ich sie auch nur sehn sollte. Hier merkte ich bald genug, daß dieser Ort dazu weder schicklich noch gelegen sei. Ein jeder kam und sahe vor sich hin wie auf einen Spiegel, um sein Innerstes zu beschauen; ich hielt mich für verstoßen, indem ich es nicht wagte, das geweihte Wasser zu berühren, wie es der Niedrigste tun durfte. Jede tief verborgne Neigung trat wie ein Schreckbild vor mich hin; nach und nach war ich den Stufen des Altars nähergekommen; ich stand mitten unter Knienden aufrecht, wich zurück und kam an eine Bank, wo ich mich setzen konnte. Ich weiß selbst nicht mehr, was ich hier empfand, aber ich wurde ruhiger, wie ich die ganze Messe abwartete, und ging mit den andern aus der Kirche, ohne einen Menschen anzusehn. Ich fühlte mich erbaut. –[70]

Es ward Abend. So ging ich in mein Bett, doch nicht um zu schlafen. Vor meiner Phantasie erhob sich auf lilienweißem Grunde Alinens Bild, erst schwebend, nach und nach deutlicher in allen Umrissen, zuletzt mit einer Krone und leisem Scheine um das Haupt. Die junge Brust schlug aus der festen Bedeckung sanft auf und nieder; unter derselben trug sie einen prächtigen Gürtel mit roten und grünen Edelsteinen besetzt; ein reiches Gewand bis auf den Boden bedeckte die Füße.

Anfänglich waren ihre Augen in die Höhe gerichtet. Sie sang; der Schall schien in die Höhe zu gehen und mit leisem Nachklange zurück an mein Ohr zu kommen. Sie rief mich an, ihr Befreier zu werden, sie in ihr Vaterland zurückzubringen, indem sie mir dafür den Segen aller Heiligen zu erflehn versprach. Zuletzt schien sie sich zu mir zu neigen, und so zerfloß das schöne Bild, indem es sich zu nähern schien.

Ich war bereit genug, dies Traumbild mit meiner Sehnsucht nach Italien zu vereinigen. Eine Reise nach Italien in Gemeinschaft dieses Mädchens schien mir nun ein Beruf von oben. Wenige Tage vergingen, und ich hatte einen ganzen Plan fertig, dessen vornehmstes Verdienst darinne bestand, einen Engel in sein Vaterland zurückzubringen, und das nächste, meinem eignen Vaterlande einen ausgebildeten Künstler zuzuführen.

Mein Großoheim Schmidt war auch in seiner Jugend als Soldat davon- und nach Frankreich gelaufen und war als ein berühmter Künstler vom Könige mit ansehnlicher Pension zurückberufen worden. Ich sah hierin weder Unmögliches noch Frevelhaftes; meine Neigungen stimmten mit den Absichten meiner Eltern wenig überein; dafür konnten sie nicht und ich auch nicht. Ich wurde[71] von niemand verführt, mein Gewissen war rein, und die Tugend liebte ich. Mein Entschluß war gefaßt. Das Mädchen mußte ich sprechen, sie von meiner Absicht unterrichten; sie konnte gar nicht nein sagen; sie mußte wollen.

Ich schrieb meinen Traum auf, erklärte solchen nach meiner Art, bot mich zu ihrem Führer, zum Retter an; schwor heilig, daß ich sie nicht verlassen wolle, bis ich sie unter den Augen ihrer Mutter wisse. Ihre Sprache und die meinige sollten uns sicher an Ort und Stelle bringen, und sei ich nur erst einmal in Italien und besonders in dem schönen Florenz, dann solle Gott und meine Musik und ihre himmlische Stimme das Angefangene vollenden.

Mein Aufsatz war fertig. Nun aber mußte sie ihn auch haben und lesen können; ich hatte ihn mit lateinischen Lettern geschrieben und hin und wieder italienische Worte gebraucht, wie ich sie aus den Opern des Metastasio kannte. In der nächsten Andacht sahe ich sie, doch es war unmöglich, nur an sie zu kommen; der kleine Saal war voller Menschen. Sonntags früh ging ich ganz früh zur katholischen Kirche. Die Kirche war offen; es war Frühmesse. Da ich nicht fand, was ich suchte, ging ich langsam den Weg von der Kirche zu ihrer Wohnung. Ich sah sie aus der Haustür treten; säuberlich und festlich gekleidet und frisch trat sie einher wie eine Himmelsbraut. Da sie mir sagte, daß sie heute beichten wolle, war ich schüchtern genug, von meinem Plane nichts merken zu lassen, doch bat ich sie um alles, was heilig ist, mir zu sagen, wo ich sie nur einige Minuten allein sehen könne, weil ich ihr etwas überaus Wichtiges zu eröffnen habe, das das Glück ihres Lebens betreffe. Sie besann sich einen Augenblick, und dann sagte sie, ihre Frau habe ihr[72] befohlen, Gartengewächse zu bestellen. Sie wisse noch nicht, wenn ehe sie werde dort hingeschickt werden, doch werde es wohl morgen nach Tische geschehen. Da sie nicht langsam gehn wollte, so waren wir bald genug in der Nähe des Pater Giovanni, und ich mußte abziehn. Ich kam mir hier wieder vor wie verstoßen von allem, was mir lieb war, und die Unbefangenheit des Mädchens war erdrückend für mich.

Den folgenden Mittag ging ich wieder auf meinen Posten. Nach einer Stunde erschien sie zu meiner großen Freude. Der Gärtner wohnte außer dem Tore; das war ein herrlicher Zufall. Nun erzählte ich erst alles, was ich zu sagen hatte. Anfänglich schien sie kalt, zu letzt konnte ich ihren entschiedenen Wohlgefallen bemerken. Sie nahm meine Schrift und versprach sie zu lesen und zu überdenken. Von Einwendungen, welche ich befürchtet hatte in Absicht auf ihre Sicherheit, mit mir zu reisen, und ihren unbefleckten Ruf ließ sie nichts merken. Sie sprach vielmehr davon, wie ich von hier entkommen, mich von meinen guten Eltern losmachen könne? Ohne Reisepaß, ohne Geld, zu Fuß und dergleichen. Alles das war in meinem Plane glücklich vergessen, und ich war in der Tat verlegen, ihr zu antworten, [denn ich hatte hieran wirklich noch nicht gedacht].

Anfänglich wollte ich Theodor zum Vertrauten machen, doch er hing sehr an seiner Mutter, und seit mancher Zeit hatte ich ihn weniger gesehn; und, um aufrichtig zu sein, ich tadelte seine Reise, sein Laufen nach Italien um nichts und sein geschwindes Wiederkommen, ja ich beneidete sein Glück. Er konnte wenig sagen, weil er wenig gesehn hatte; hätte er mich mitgenommen, die Reise mußte fruchtbarer für ihn gewesen sein; deshalb nun[73] wollte ich fort, gleichfalls ohne ihm davon zu sagen, nur hatte ich keinen, der mir Geld lieh; das war mein größter Verdruß. Auch hier fand sich Rat. Ein alter Freund meines Vaters hatte mir zu meinem Gesellenstande ein französisches Reißzeug geschenkt, worin ein nicht kleiner Winkelmesser mit beweglichen Dioptern in Form eines Proportionalzirkels und ziemlich starker Nuß, wie auch alles übrige von seinem Silber und ungemein sauber gearbeitet war; dann besaß ich einen silbernen Becher, den mir meine Mutter geschenkt hatte, silberne Schnallen, ein silbernes Tafelbesteck, einige Medaillen, worunter eine goldene war. Andere Sachen, als zum Exempel mein Handwerkszeug, eine Meßkette, einige Partituren, eine Windbüchse, ein Paar Pistolen, zwei Rapiere, ein spanisches Rohr, wollte ich hier verkaufen und daraus konnte überhaupt gegen hundert Thaler gelöst werden. Meine italienische Violine nahm ich mit. Von Dresden an sollte die Wanderschaft zu Fuße vor sich gehn. Hier sollte die Kleidung verändert werden, welche ich mir etwas romantisch ausgedacht hatte. Schnürstiefeln, lange Beinkleider, ein Jäckchen, ein nicht zu langer Mantel, eine Schärpe und ein runter Hut standen im Anschlage; so wollte ich mit meiner Huldin von Ort zu Ort wandern und unterwegs unser sparsames Leben mit Singen und Spielen fristen. Dabei wollten wir uns nett und reinlich halten, um überall anständig erscheinen zu können. Von Dresden aus wollte ich an meinen Vater schreiben und um Geld bitten, welches er mir gewiß nicht vorenthalten würde; und den Schmerz, den meine Entweichung verursacht haben konnte, wollte ich durch ein rechtschaffnes Leben und unermüdliche Ausbildung meines Talents reichlich vergüten. Dies alles wurde teils anschlagsmäßig,[74] teils historisch und prophetisch zu Papier gebracht, um Alinen zu bestechen, mit der ich noch größere Absichten hatte.

Sie sollte meine Primadonna werden; aus ihr wollte ich eine Sängerin bilden, deren Ruf bald wieder von Italien nach Deutschland ertönen sollte. Von Hassen wußte ich, daß seine Frau, die berühmte Faustina, seinen großen Ruf gegründet hatte. Aber Hasse hatte sich katholisch gemacht; darinne lag etwas gegen meine Natur. So sehr ich auch diesen Glauben jetzt ehrte, so überzeugt hielt ich mich, daß jeder Glaube allein seligmachend sein müsse; daher denn ein Mensch, der seinen Glauben verändere, keinen haben und also keinen finden könne. Ich war stolz darauf, von protestantischen Eltern geboren zu sein. Die völlige Unbeschränktheit des Herzens, zwischen dem Allerhöchsten, Unerklärbaren und einem behaglichen irdischen Zustande umherzuschweifen und, nur dem eigenen ewigen Gewissen verantwortlich, frei wie ein Planet am Firmamente zu schweben, schien mir das höchste Glück eines Menschen. Dagegen empörte das Sakrament der Beichte mein Innerstes. Von Kindheit an hatte ich so viel gedacht und empfunden, was ich keinem sagen zu dürfen glaubte; mein jetziger Zustand selbst war von dieser Art, und ich fühlte mich überzeugt, das Gute zu wollen und zu können.

Diese Grundsätze hatte ich von meinem Großoheim, dem Kupferstecher Schmidt. Dieser hatte während seines langen jugendlichen Aufenthalts in Paris allen Versuchungen, katholisch zu werden, herzhaft widerstanden.[75]

Dies wollte ich auch tun, und wie das Übrige in Italien selbst werden könnte, das wollte ich bis dahin beruhen lassen. In Florenz mußte ich bald die Sprache des Landes verstehn. Mein erstes Geschäft sollte darinne bestehen, ein Gedicht zu einer Oper zu erhalten. Dies wollte ich komponieren, und Aline sollte darin auftreten. Alinens Mutter selbst mußte mir, dem tapfern Befreier ihres Kindes, in allem behilflich sein, was die Sprache und Sitte des Landes forderte. Auch mit dem Namen mußte etwas vorgenommen werden. Hassens und Händels Namen nannte man in Italien nicht; jeder von ihnen war unter dem Namen »il Sassone« bekannt. Ich hatte schon früher mir den Namen »Cavallo di Napoli« (welches einen Zelter andeuten sollte) ausgedacht; jetzt fiel ich darauf, mich »Alino« zu nennen.

Dieser Plan nun war bereits aufgeschrieben. Mein Glück war mir so oft günstig gewesen, daß ich mein Papier schon in Alinens Händen glaubte. Die nächste Andacht erschien, und ich fehlte nicht. Ich hatte ein grauseidnes Tuch gekauft, das Papier so oft zusammengelegt, als es sich tun ließ, und in dies Tuch gewickelt. Als ich die Treppe herauf kam, stand Aline oben allein; sie nahm das Tuch, gab mir dagegen ein kleines Zettelchen, und ich ging in den Saal. Ich nahm mein Gesangbuch. Es[76] ward das Lied angekündigt: »An den Flüssen Babylon.« Ich legte meinen Zettel ins Buch zum Zeichen des Liedes und las ihn gelegentlich. Es war darauf geschrieben: »Morgen früh gehe ich nach Wasser.« Als das Lied gesungen wurde, schwammen meine Augen in Tränen; ich ward hingerissen vor Wehmut, und ein Gefühl schmerzlichen Anteils erfüllte mein ganzes Wesen. Von jetzt an war mir's, als wenn der heimische Boden unter mir glühend sei.

Die Nacht darauf hatte ich einen fürchterlichen Traum: Mir träumte, ich saß an der Aufschwemme und wusch meine Füße. Die blaue Flut bewegte sich, und Aline stieg herauf und winkte mir; sie sah zärtlich aus, voll Liebe und Güte. Meine Arme breiteten sich aus, sie aus der Flut zu retten. Meine Füße standen eingewurzelt in dem Boden, ich konnte sie nicht aufheben. Erst sang sie himmlisch süß, dann weinte sie, und zuletzt versank sie klagend und wimmernd in der Flut. Der Ton ihrer Stimme hallte in die Wolken und kehrte wie ein harmonischer Widerhall zu meinem Ohre zurück.

Früh Morgens ging ich, um sie nicht zu verfehlen, zuerst nach der Aufschwemme. Von hier ging ich ihr langsam entgegen, bis ich nahe genug war, ihre Haustür zu sehn. Ich ging hin und wieder. Der Seiger schlug acht, neun, zehn, eilf, zwölf Uhr, – die Tür ging nicht auf. Ich ward angst, ging zurück bis an die Aufschwemme, setzte mich auf einen Stein, der am Ufer lag, und blickte ins Wasser. Es ward Abend, Aline kam nicht. Die Nacht war entsetzlich. Am neuen Morgen tat ich meinen gestrigen Gang; Aline kam nicht. Sonntag ging ich in die Messe; sie war nicht zu sehn.

Den Tag darauf kam der junge Stuckarbeiter zu mir[77] und sagte, seine Mutter ließ(e) mich bitten, ehe ich wieder in die Andacht ginge, zu ihr zu kommen. Ich erschien sogleich, um nur etwas zu erfahren.

Sie fing damit an, mir zu eröffnen: Der Lehrer ließ(e) mich bitten, in den Andachten nicht ferner zu erscheinen. Sein Haus sei ein Bethaus, ich aber würde wohl wissen, was ich daraus zu machen gedächte. Würde ich jedoch diese Bitte unerfüllt lassen, so habe er bereits obrigkeitliche Maßregeln getroffen, mich in meine Schranken zu verweisen. Auch meine Eltern sollten unterrichtet werden, wie weit es ihr Sohn in der schnödesten Heuchelei gebracht habe, eine ganze Versammlung mit Krokodilstränen zu täuschen, und dabei eine Geschichte erfahren, die die Krone aller Verführung sei.

Ich stand wie eingewurzelt, ohne zu reden. Endlich sagte sie mit einiger Milde: »Warum reden Sie nicht? Wissen Sie nichts zu Ihrer Rechtfertigung zu sagen?« – Ich antwortete ihr: da sie und der Herr Lehrer die Beschaffenheit meines Herzens so genau kenneten, um mich zu verdammen, so wäre die Sache ja am Ende. Ich stehe hier vor Gott wie sie; der wisse, ob ich ein Heuchler sei; dem könne ich's klagen und den dürfe jeder fragen, was er wissen müsse.

Hier trat der Lehrer herein, der eine ernsthafte Amtsmiene annahm. »Nein, mein junger Freund«, sagte er mit Mäßigung, »so kommen Sie hier nicht weg; Sie müssen sagen, was Sie wissen.« – »Nun«, versetzte ich, »so muß ich doch erfahren, was Sie wissen wollen!« – »Haben Sie«, fragte er, »Alinen verführt?« – »Nein!« – »Sind Sie von ihr verführt worden?« – »Nein!« – »Ist sie in Ihrem Hause gewesen?« – »Nein!« – »Sind Sie außer der Andacht in meinem Hause gewesen?«[78] – »Nein!« – »Nein! Nein! Nein und wieder Nein! Haben Sie das Mädchen gesprochen?« – »Ja!« – »Wo?« – »Auf der Straße!« – »Haben Sie ihr ein Papier zugesteckt?« – »Ja!« – »Was stand in dem Briefe?« – »Es war kein Brief!« – »Was stand in dem Papiere?« – Hier erwachte meine Entschlossenheit: »Wenn ich Ihnen«, versetzte ich, »sagen wollte, was in dem Papiere stand, so würde ich es Ihnen gleich gesagt haben. Aline allein sollte es wissen und sonst kein Mensch. Lassen Sie mich gehen; Aline ist unschuldig; ich bin unschuldig. Sie können versichert sein, daß keine menschliche Gewalt mir abzwingen wird, was ich verschweigen will!« – So empfahl ich mich und ging vor des Lehrers Hause vorbei der Kirche zu, wo ich Alinen bei der Wäsche gesprochen hatte. Ich war etwa eine Stunde umhergeirrt, und kurz vor dem Mittagsessen ging ich nochmals zu der schönen Frau, die ich allein fand. Ich beschwor sie, mir zu sagen, was aus Alinen geworden sei.

»Sie ist«, sagte die Frau, »ein verstocktes, unseliges Geschöpf, und Sie sind der zweite, den sie angesteckt hat. Wissen Sie, sie ist eine Italienerin! Eine katholische, falsche Kreatur! Der Lehrer hat sie aus Milde und Menschenfreundlichkeit aufgenommen, und nun gibt sie ihm schon zum zweiten Male den Lohn. Sie hat das Papier verbrannt, doch die Beichte hat sie verraten. Sie ist sogleich fortgeschickt, und es hat sich eine Gelegenheit gefunden, sie ihrer Mutter zurückzusenden, die noch leben soll. Bemühen Sie sich also nicht weiter; Sie werden sie hier nicht wiedersehn.« – Aus allem diesem konnte ich deutlich wissen, Aline hatte nichts von meinen Planen verraten, und nun kam sie mir erst recht erhaben vor. Sie hatte nichts versprochen und doch nichts verraten;[79] in der Beichte war sie aufrichtig gewesen, ja sie hatte nur sich verraten; mich hatte sie geschont.

»Sie werden sie hier nicht wiedersehn!« – Diese letzten Worte der schönen Frau wiederholte ich mir so oft, daß ich zuletzt darauf fiel, sie könne deswegen doch wohl noch hier sein. Ich ließ es an keiner Mühe fehlen, mich zu erkundigen. Daß sie in dem Hause des Lehrers nicht mehr war und bei dem Pater Giovanni auch nicht, erfuhr ich für gewiß. Vier bis fünf Wochen suchte ich sie unermüdet, indem ich stundenlang des Morgens bei der Aufschwemme, des Mittags auf dem Trockenplatze bei der Kirche und nach Tische bei dem Gärtner, welcher ein Bad zu vermieten hatte, ihrer harrete. Zuletzt mußte ich meine Nachsuchungen einstellen und beruhigte mich endlich mit dem Gedanken, sie in Italien anzutreffen, ob ich gleich ihren Familiennamen nicht einmal wußte: denn sie hieß auch nicht Aline. Im Hause ihrer Herrschaft nannte man sie Caroline, und so hatte sie auch die Frau auf dem Trockenplatze gerufen. –

Mit Hackert hatte ich einen Briefwechsel verabredet, und um diese Zeit kam sein erster Brief aus Neapel. Ich habe diesen lieben Brief unzählige Male gelesen, geküßt, an mein Herz gedrückt und mit Tränen der Sehnsucht benetzt. Hackert schrieb mir darinne, daß er mein gedenke, so oft er die große Menge altertümlicher Wunderwerke der Kunst betrachte, womit Italien wie besäet wäre; daß er eigentlich dort keinen Menschen habe, dem er seine Gedanken und Empfindungen ausschütten könne. Mit den Neapolitanern könne er noch nicht viel reden, und mit den meisten Deutschen hier zu Lande würde er so bald fertig, daß er sich immer lieber gar nicht auf ernsthafte Gespräche einlassen möchte. Ich sei es, der[80] ihm hier fehle, um seinem Herzen Luft zu machen, und es tue ihm aufrichtig leid, seinem Bruder von Berlin aus nicht sogleich den Vorschlag getan zu haben, mich mit nach Italien kommen zu lassen. Sein Bruder sei ein großer Künstler, der nur mit großen und gemachten Künstlern umgehe; gegen ihn sei er ernsthaft, streng und ohne Ergießung. –

Das Jahr 1777 war gekommen, und seit der Zeit meines Gesellenstandes war außer der Musik so viel als nichts geschehen.

Mein Vater verlangte nun von mir, daß ich die Musik auf eine Zeitlang gänzlich sollte ruhen lassen, um mich ganz und ernsthaft den Baugeschäften zu widmen; besonders aber sollte Zeichnen und Geometrie zur Tagsordnung gehören.

Dies alles nun geschah wirklich, wie es befohlen war oder wie es gehen wollte. Es wurde ein besonderer Instruktor angenommen, der mich täglich in der Trigonometrie und Mechanik unterrichtete. Da mir nun das Maurerwesen immer mehr zuwider wurde, so beschloß ich, mich auf den Wasserbau zu legen, wogegen mein Vater nichts einwendete. Es war der Professor Wagner, der mich in allen diesen Dingen unterrichtete. Er war ein geschickter und berühmter Mann, von großer Gefälligkeit gegen seine Schüler, welches letztere ich mir sehr bald zunutze machte, indem ich auf meine trigonometrischen und algebraischen Hefte neben mathematischen Figuren musikalische Liniensysteme und Melodien hinzeichnete, die ich ihm zu seinem großen Erstaunen vorsang, und worin er dann die Zeichen musikalischen Genies an mir erkennen wollte, obgleich er selber keine musikalische Ader in sich trug.[81]

Wagner wohnte in dem Hause eines Planetenlesers oder Wahrsagers namens Paul, welcher letztere mit dieser Spekulation ein sehr einträgliches Gewerbe trieb und daher gemächlich lebte, wenn hingegen jener als ein wissenschaftlicher Mann sich sehr einrichten mußte.

Daraus entstand ein sonderbares Verhältnis, insofern Paul sich gern zu den unterrichteten Leuten zählte, und Wagner sich Pauls guten Tisch gefallen ließ, wodurch denn Verwechselungen entstanden, indem Leute zu Wagnern kamen, um sich wahrsagen zu lassen. Dieser Paul war sonst, wenn ich nicht irre, ein Weber gewesen und führte daher alberne Reden, wenn er von seiner jetzigen Wissenschaft sprach.

Ob ich nun gleich nach diesem Hause keinen musikalischen Zug hatte, so weiß ich doch selber nicht, wie es zuging, daß ich nicht ungern hinging. Vielleicht war es die neue Lebensmethode, was mich reizte.

Wagner und seine Frau, der er sehr zugetan war, wohnten mit einigen großen Hunden im obersten Stockwerk allein. Ihr Hauswesen war ganz unerfreulich wie ihre Armut, Unordnung und der üble Geruch, welchen die Hunde verursachten.

Ganz unten wohnte der Wahrsager mit seiner Frau und einer mannbaren Tochter. Hier war Ordnung und Reinlichkeit; doch schien es, als wenn dieser Mann zugleich auf Pfänder lieh, denn in zwei gar nicht geräumigen Stuben, worin ein großes Ehebett und einige große eichene wohlausgeschweifte Schränke standen, waren die ungleichartigsten Dinge an den Wänden, auf Tischen und Konsolen in großer Anzahl zu sehn. Ein Holzschnitt, welcher eine Art von Porträt vorstellen sollte und sich der Manier näherte, wie die obere Seite eines Gewürzkuchens[82] gestaltet ist, hing neben der Tür. Darunter stand: Paulus, Sortilegus Berolinensis. Mit diesem sogenannten Porträt bildete sich Paulus ein, ein rechter Mann zu sein, und vergaß nicht dabei zu sagen, daß der Prinz von Oels ihn habe in Kupfer stechen lassen. Die Hausfrau war ein gutes kleines, außerordentlich breites Gewächs mit einer so großen Fettbeule am Halse, daß sie beinahe zweiköpfig erschien. Das Töchterchen aber von etwa vierundzwanzig Jahren war lang, mager, pockennarbig, weißhaarig und hatte die schönsten Zähne, welche man sehen kann.

Im mittelsten Stockwerke wohnte ein junger Feldmesser von etwa vierundzwanzig Jahren, der sich hier eingemietet hatte, um Wagners Unterricht zu genießen und sich beim Oberbaudepartement examinieren zu lassen.

Wagner hatte einen großen Ruf, und bei der unordentlichen Lebensart nahm er vielleicht öfter mehr Lektionen an, als der Tag Stunden hat. Er ließ sich das Unterrichtsgeld gerne vorher bezahlen, und wenn der Schüler kam, fand er oft die Tür verschlossen. So ärgerlich dies war, so war es zugleich spaßhaft, wenn zwei oder drei Schüler an die Türe traten und solche verschlossen fanden. Es hieß dann, Wagner sei ausgegangen, obgleich er zu Hause war und dem Vierten die Lektion gab. Man kam zuletzt hinter die Sache; denn war er zu Hause, so waren die Hunde still, welche allein und eingeschlossen einen entsetzlichen Lärm machten, sowie jemand klopfte. Sammelten sich nun mehrere Schüler vor seiner Tür, so blieben diese beisammen auf der Treppe und trieben ihre ganze Stunde lang für ihr Geld allerlei Possen. Wagner aber, um seine Gegenwart nicht zu verraten, hetzte dann die Hunde, daß sie bellen mußten, und wie man auch[83] dies merkte und nun die ganze Stunde gepocht wurde, so schlugen auch die Hunde unaufhörlich an, so daß die drinnen auch nichts Ernsthaftes vornehmen konnten. Zuweilen war das Spektakel so scheußlich, daß die Nachbarschaft in Aufruhr kam und der Wirt in seiner prophetischen Geschäftigkeit gestört wurde.

Heiland, so hieß der Bewohner des zweiten Stockwerks, war eines reichen Müllers Sohn aus der Provinz, etwa zwölf Meilen von Berlin. Er mochte zur Feldmesserei so viel Luft haben als ich an der Maurerei, weil er doch am Ende des Vaters Mühle annehmen sollte. Dieser hatte sein Wesen mit der Tochter des Hauses, welches die Eltern zuließen, weil sie eine Heirat zwischen den jungen Leuten wünschten. Er war also unten wohl aufgenommen und trieb viel Mutwillen, der ihm leicht verziehen ward, weil das Mädchen ihn überall in Schutz nahm. Da er ein lockerer Zeisig war und an allem teilnahm, was ihn auf seine Art belustigen konnte, so kam der Lärm zuletzt so oft und nahm so überhand, daß der Wirt Wagnern die Wohnung aufkündigte. Heiland aber wollte dies nicht zulassen und erklärte, daß er sich von Wagnern nicht trennen könne; daher blieb die Sache beim alten.

Heiland war von seinen Eltern sehr gut gehalten und erhielt wöchentlich eine Menge Mundvorrat, weil diese glaubten, er wohne bei dem Professor. Er gab in seiner Wohnung kleine Gelage, ordnete Landpartien an, an denen, wo nicht Geschmack, doch eigene gute Laune das Beste war, weil immer Wagners und die Planetenleute dabei sein mußten. Das Ende solcher auswärtigen Lustbarkeit bestand denn immer darin, daß neue Gäste aus der Stadt geholt werden mußten, die alten zu Hause zu führen.[84]

Als ich mich in diesem Wesen gegen zwei Jahre umgetrieben hatte, fing mir's an zuwider, oder vielmehr unerträglich zu werden, denn gefallen konnte mir's niemals, die Gemeinheit, die Wildheit und die Unreinlichkeit wie drei Fakultäten unter einem Dache zu sehn, wobei so gar nichts herauskam; denn man konnte am Ende nicht einmal darüber lachen. Bloß zuletzt ereignete sich etwas Sonderbares. Heiland hatte sein Examen bestanden, fing an, seltener und kälter zu werden, und sprach von Abreisen. Das Mädchen aber sprach vom Heiraten, von Mitnehmen, und die Sachen wurden so ernsthaft, daß Heilands Eltern davon unterrichtet wurden; ich glaube, das Mädchen hatte an seine Mutter geschrieben. Nun kam eines Tages diese Mutter angefahren und hatte eine artige Frau mit einem jungen Kinde bei sich; aus den gegenseitigen Umarmungen, Freudentränen und Herzensergießungen ergab sich zuerst, daß Heiland eine rechtmäßige Frau und ein Kind hatte. Die Bestürzung und Verwirrung ergriff das ganze Haus über dieser Entdeckung. Das Mädchen aber wütete und schimpfte auf die gemeinste Art, vergaß allen Anstand, und es kamen Dinge ans Licht, die noch niemand gewußt hatte. Ferner war Heiland noch vor kurzem in dem Hause eines Seifensieders bekannt worden, wo er als Erbe einer guten Mühle um die einzige schöne Tochter förmlich angehalten und das Jawort bekommen hatte. Auch diese Leute hatten einen gewaltigen Schreck, denn Heiland hatte versprochen, in diesen Tagen seine Braut nebst ihrer Mutter zu seinen Eltern in die Provinz zu führen, um dort die Verlobung zu vollziehn. Alles dies verursachte gewaltige Bewegung. Heilands Mutter und seine Frau fürchteten nur immer, noch nicht alles zu wissen und[85] beschleunigten daher die Abreise. Am Morgen der Abreise erschien endlich noch eine Frauensperson mit einem Kinde und meldete ein neues Verhältnis an. Das Kind mochte ein halbes Jahr alt sein, und Heiland bekannte sich gegen seine Mutter dazu.

So schloß sich diese wunderliche Historie, bei der sich am Ende noch erklärte, daß Heilands Eltern ihren einzigen Sohn nicht eigentlich des Examens wegen nach Berlin geschickt hatten, sondern vielmehr deswegen, um ihn aus ähnlichen, dort gesponnenen Verhältnissen herauszuziehen. –

Von hier kam ich nun um das Jahr 1779 zum Geheimen Oberbaurate Riedel, um bürgerliche Baukunst zu lernen. Mein Vater behauptete: soviel müsse ein jeder vom Wasserbau verstehn, sich das Wasser vom Leibe zu halten, aber ein gutes Haus und ein gutes Dach drauf zu bauen, sei auch eine Kunst, und man müsse nicht im Sande Wasserbau treiben wollen. Demnach sollte ich nun bürgerliche Baukunst treiben. Jetzt war mir außer der Musik alles einerlei, was ich trieb. Indessen fing ich hier ein anderes Leben an. Der Geheime Rat war ein guter Zeichner, malte in Ol und war im allgemeinen ein Mann von Geschmack, dem alles ansprach, was dem Schönen gemäß war. Die erste Entdeckung, welche ich in seinem Hause machte, war ein altes Klavier, darauf spielte ein alter Jäger, der Diener des Hauses, der Richter hieß, einige Choräle. Sein Herr aber phantasierte ein wenig, suchte und griff Harmonien, wie sie ihm von ohngefähr gelangen. Hier konnte ich nun wieder dienen. Ich merkte, was sie suchten, und half ihnen. Da ich viel mehr spielen konnte als beide zusammen, so war ich eine glückliche Erscheinung in diesem Hause. Man hielt mich[86] für einen Menschen von Genie, und da meine Zeichnungen, wenn ich mich nur daran hielt, erträglich ausfielen, so war ich hier geschätzt und in einer nicht schlechten Lage. Der Geheime Rat, der oft auswärtige Baukommissionen hatte und sich eben so ungern von mir trennte, als ich (mich) von ihm, nahm mich mit sich. Hier kam ich an die Luft, lernte, was man Praxis nennt, die Häuser guter Domänenbeamten kennen, und meine Musik ließ es mir nirgend an Freunden fehlen. Eine dieser Kommissionen war mir besonders merkwürdig. Sie bestand in Revision und Abnahme eines nach einem Brande ganz neu aufgebauten Königlichen Domänen-Amtes.

Gleich den Tag unserer Ankunft daselbst sahe ich die älteste Tochter des Hauses wie eine Sonne an mir vorübergehen. Sie mochte sechzehn Jahre alt sein. Es war, als wenn das Licht aller Planeten in mir aufging. Ich trug die Akten vom Wagen in die uns angewiesene Stube, worin vier weiße Wände, zwei Betten, ein Tisch und drei Stühle standen. Das Bild des Mädchens lag mir in Gedanken; ich war heftig ergriffen worden. Man rief uns zum Abendessen.

Hier fand ich den Amtmann, einen voll- und wohlgewachsnen Körper, seine Frau von etwa vierzig Jahren mit einem von Pockenflecken bedeckten Gesichte, woraus zwei ruhige blaue Augen und die gefälligste Weiblichkeit hervorsah; einen nicht ganz jungen Hauslehrer, der für mich gar kein Gesicht hatte, eine Erzieherin ohne Erziehung und die sämtlichen Schreiber und Wirtschaftsleute des Amtmannes. Die Erzieherin nahm bei Tische das Geschäft auf sich, die jungen Leute aufzuziehn, die dann, bald einer bald der andere, so replizierten, daß ich sogleich von der Achtung dieser Hausgenossen gegeneinander[87] aufs vollkommenste unterrichtet war. Der Hofmeister unter hielt sich mit dem Amtmann, der am Tische saß und anstatt des Essens Tabak rauchte, über die Pferde und Fohlen, lobte den Schimmel, den er nach Mittage geritten hatte, und sprach mit großer Verehrung von dem Scharfrichter, welcher die Fuchsstute vom Kropfe kuriert hatte. Die Hausfrau legte das Essen vor und goß den Gästen Wein ein.

Nach dem Essen gingen wir auf unsere Stube. Der Geheime Rat entdeckte mir hier die Ursache, warum der Amtmann ihn kaum wie sonst bewillkommt habe: Es sei hier wahrscheinlich von allerlei Kontraventionen die Rede, und es sei ihm nicht unangenehm, wenn der Amtmann so wenig als möglich sein Herz zu bestechen suche; desto ungebundner könne man die Sache untersuchen und den Dienst versehn.

Wir legten uns nieder; als ich nach einer Stunde noch nicht eingeschlafen war, stand ich auf, zog mich wieder an, ging in der heitern Nacht im vollen Monde vor dem Hause unter Bäumen auf und nieder und hörte den Nachtwächter, der die Stunden abrief, mit einer vollen, höchst anmutigen Tenorstimme geistliche Abendlieder singen, wie es hier Gebrauch war.

Am andern Morgen fing das Geschäft an. Es fand sich bald genug allerlei, das nicht zu vertreten war, und die Stimmung verzog sich immer mehr. Man sprach von Neidern und Anschwärzungen; der Hofmeister mischte sich in die Untersuchung, sprach von Aufhebens um Kleinigkeiten. Der Revisor hörte bloß und antwortete nicht, und ebensowenig der Protokollführer, denn das war ich.

So kam der erste Mittag heran. Es war Sonntag. Der Prediger aß mit uns. Ich war während des Frühstückens[88] einen Augenblick in der Kirche gewesen und hatte einen Teil der Predigt gehört; der Prediger hatte mich gesehn. Ich dankte ihm für sein herzliches Gebet am Ende seiner Predigt. »Wenn wir nur erst«, sagte er »einen bessern Küster hätten; der Mensch ist imstande, mich mit seiner unangenehmen Stimme in meinem Vortrage zu stören.« – Ich sagte: »Machen Sie doch Ihren Nachtwächter zum Küster; dieser singt ja so schön, daß einem das Herz aufgeht.« – Der Amtmann sah mich mit vollen Augen an: »Der junge Mensch hat, so wahr Gott lebt, recht«, sagte er. »Alles im Dorfe erfreut sich an dem Gesange des Nachtwächters, und jeder schimpft auf den Küster, und noch hat keiner von uns allen an das Natürlichste gedacht. Dazu kommt, daß der Nachtwächter eine gute Hand schreibt, Kenntnis von der Wirtschaft hat und niemals in den Krug geht wie der Küster, der lieber bei der Flasche ist wie in der Schule.« –

Hier war nun auch die Tochter Bertha am Tische, die mich gestern so schnell eingenommen hatte. Vor dem Amtmanne stand Rheinwein, den er dem Geheimen Rat und dem Prediger einschenkte. Mir hatte der Hofmeister wie den übrigen Tischgenossen roten Wein eingegossen. Bertha nahm ein Glas, das vor ihr stand, goß es voll Rheinwein, setzte es mir vor und sagte: »Das ist dafür, daß Sie meinem lieben Nachtwächter das Wort reden! Mein Vater sagt zwar, es hätte noch keiner daran gedacht, den Nachtwächter zum Küster zu machen; ich habe wohl daran gedacht, aber wer hört darauf, was ein einfältiges Mädchen sagt?« –

Ich konnte mich kaum auf meinem Sitze erhalten vor Freuden, mein Lob von diesen lieben Lippen so unbefangen und wohlverdient aussprechen zu hören; dagegen[89] empfing ich von der Erzieherin und dem Hofmeister Blicke, die mich wieder in meine Fassung brachten. Nach Tische trat ich zur Hofmeisterin, küßte ihre Hand und sagte, ich sähe dort einen Flügel stehn und bäte sie, etwas hören zu lassen. – »Ja«, sagte sie, »ich lehre die Kinder spielen und singen, aber Mademoiselle Albertine ist mir über den Kopf gewachsen; wenigstens glaubt sie es.« – So setzte sie sich hin und spielte ein Rondo auf dem ziemlich abgespielten Flügel, worüber ich sie sehr lobte und etwas von ihrer Gunst gewann, denn nun sprach sie doch auch mit mir.

Bertha trat herzu und verlangte, daß ich spielen sollte. Ich sagte, dies wolle ich gern, doch vorher solle sie mir erlauben, ein Messer und Rabenfedern zu holen, um das Instrument zu bekielen, denn so wäre es nicht möglich, darauf zu spielen. – »Ach, wie glücklich sind Sie«, sagte sie, »diese große Kunst zu verstehn! Wir müssen immer einen Wagen nach der Stadt schicken, um den Stimmer zu holen, und manchmal reißen die Saiten oder verstimmen sich wieder, gleich wie er fort ist.« –

Ich bot mich an, diese Kunst ihren Nachtwächter zu lehren, wenn er Lust dazu hätte, welches auch angenommen wurde.

Nachmittags ging ich auf die Stube, um mein Journal in Ordnung zu bringen, unterdessen die Gesellschaft im Garten Kaffee trank. Der Amtmann kam mir nach auf die Stube und fing an zu reden: »Sie scheinen mir ein wackrer junger Mann zu sein, und so nehme ich keinen Anstand, Ihnen folgendes zu eröffnen: Ich bin von Neidern wegen der Führung der neuen Gebäude angeschwärzt; das wußte ich, ehe Sie kamen, und jetzt merke ich, der Geheime Rat sinnt auf Kleinigkeiten, um den[90] Verdacht zu bestätigen. Wie kann man glauben, ich werde mir selber schlechte Gebäude bauen, da ich das Amt behalten will, um die Kammer um einige armselige hundert Thaler zu betrügen? Der Bau ist noch nicht ganz fertig, also weder abgenommen noch übergeben, und man kommt schon mit einer Untersuchung. Sagen Sie selbst als ein verständiger Jüngling, ob dies recht ist?« –

Ich antwortete, daß ich hier kein Recht zu sprechen hätte. Die Instruktionen des Geheimen Rats kenne ich nicht, ich wäre in meiner Pflicht, und es würde mich unglücklich machen, in einem so lieben Hause ein unangenehmes Andenken zu hinterlassen. Übrigens irre er sich vollkommen in dem Charakter des Geheimen Rats, der ein ernsthafter, billiger, liebenswürdiger Mann sei, aber doch seine Sendung erfüllen müsse. Mit diesem solle er offen und frei reden, und ich sei versichert, er werde mich loben, wenn er meinem Rate folgte. – So ging er aus der Stube.

Die Sache aber war, wie sich nachher zeigte, folgende. Der Amtmann war ein Liebhaber schöner Pferde, mit denen er Handel trieb. Er ließ also den Stall für diese Tiere zuerst bauen und aufs kostbarste einrichten. Dies hatte Aufsehn gemacht, und deswegen hatte man geglaubt, der Amtmann ließe die andern Gebäude schlechter bauen, um jene mehrern Kosten zu decken, und ihn also beim Minister verklagt.

Ehe ich jedoch dies letztere wußte, ward mir sehr bang ums Herz. Ich nahm Anstand, dem Geheimen Rat meine Unterredung mit dem Amtmanne zu berichten. In einem Hause, wo ein so schönes Mädchen wohnte, sollte ich ein so fatales Geschäft vollbringen helfen? Dies tat mir weh![91] Manches hatte sich schon gefunden, und das Schlimmste, fürchtete ich, müsse nachfolgen.

Vor dem Abendessen ging ich vor dem Hause unter den Bäumen auf und ab. Bertha trat in die Haustür; sie näherte sich, und wir gingen zusammen. Sie erzählte mir, der Vater sei eben mit dem Geheimen Rate in lautem Wortwechsel begriffen; sie wisse gar nicht, was das bedeuten solle; die Mutter weine, und das ganze Haus sei auseinander; ich solle doch den Geheimen Rat zu beruhigen suchen, sie wolle den Vater bewegen. Übrigens sei der Nachtwächter gekommen, sie habe ihn rufen lassen, und ich solle ihn lehren den Flügel bekielen. Alle diese Dinge wirkten, ich weiß selber nicht was, bei mir; ich war in entsetzlicher Herzensangst.

Der Nachtwächter war ein Mensch von zweiunddreißig Jahren und sah wohl aus. Ich fand ihn so gelehrig und anstellig, daß ich ihn bald fragen mußte, wie er hier zu diesem Dienst komme und darinne beharrte. Er versetzte, er wolle mir dies auf den Abend erzählen; um zehn Uhr ginge er singen, und wenn ich mit ihm sein wolle, so wolle er mir die ganze Nacht erzählen. Ich bestellte ihn auf einen andern Tag wieder, um ihn ferner zu unterrichten, und er ging von dannen.

Ich ging nun auf die Stube zum Geheimen Rate und erzählte ihm meine Unterredung mit dem Amtmanne, und daß ich für Pflicht hielte, ihm solches wiederzusagen.

»Dieser wunderliche Mensch«, sagte der Geheime Rat, »sieht in mir durchaus nichts als den Feind seines Hauses; er tritt in die Stube, fährt daher und sagt Bitterkeiten über mein Amt, als wenn er der schuldigste Mensch wäre. Ich weiß nicht, was er will, denn ich bin im stillen überall schon umhergestreift und finde mehr zu loben[92] als zu tadeln. Der Stall ist freilich kostbar gebaut und größer, als er zu sein braucht, doch ist an den andern Gebäuden nichts erspart oder weggelassen. Ja, ich bin der Meinung, er ist aus Neid angeschwärzt. Aber ich muß doch untersuchen; die Sache mag ausfallen, wie sie wolle. Wenigstens von seiner Seite ist an gar keinen Betrug zu denken, und was die Werkleute versehn haben, sollen sie verbessern, ehe ich von hier gehe. Sie aber«, fuhr er fort, »werden auch zu flicken haben: an Ihrem Herzen, wenn Sie von hier weg sind. Ich merke, die Mademoiselle Albertine, die Sie sich schon zu einer Bertha getauft haben, hat Ihnen einen schönen Stich beigebracht. Wenn der Minister merkt, daß wir uns hier verliebt haben, ist er imstande, eine zweite Untersuchungskommission herzuschicken.« –

Ich war ausgelassen vor Freuden über des Geheimen Rats Gesinnung gegen den Amtmann, doch eben so sehr erschrocken über seine Entdeckung, denn er sagte mir, was ich mir selber noch nicht gesagt hatte: ich liebte! Ja, ich liebte die schöne Bertha; nun war mir alles klar, und alle meine Angst fiel von mir wie Blei; ich flog wie ein Vogel davon.

Mein erstes Geschäft bestand darin, Bertha aufzusuchen; sie war lange nicht zu finden, endlich kam sie von der Tochter des Predigers. Ich sagte ihr meine Neuigkeit, welche jedoch nicht den erhofften Eindruck machte, da sie von einer kranken Freundin kam, für die sie sehr besorgt schien.

Die Revisionsangelegenheit war endlich zur Zufriedenheit aller Teile beseitiget, doch der Minister hatte dem Geheimen Rat aus der Residenz geschrieben, daß er ihn hier abholen werde, um die umliegenden Ämter zu bereisen,[93] und bis dahin also mußten wir hier bleiben und hatten wenig zu tun. Eines Morgens kam mein Nachtwächter, der Martin hieß, zu mir. »Ich habe Sie«, sagte er, »alle Abend erwartet; es kann sein, daß Ihnen an meiner Geschichte nichts liegt; doch mir liegt daran. Sie gehen doch nach Berlin zurück und können mir, wenn Sie wollen, einen Dienst tun.«

Er erzählte nun, er sei eines Landpredigers Sohn aus Westfalen. Während seiner Studien in Halle habe er nach fünfzehn Monaten Streit mit einem andern Studenten wegen eines Mädchens bekommen. Er habe ihn am Kopfe verwundet, der Mensch aber habe verdorbene Säfte gehabt, die sich auf seine Wunde geworfen, und nach zwei Monaten sei jener gestorben. – Sein Vater sei über diesen Zufall untröstlich, wolle ihn nicht mehr sehn und ihn enterben. Er habe flüchtig werden müssen und sich, da er alle Land- und Feldarbeiten verstehe, von Dorf zu Dorf als Drescher oder Knecht bis hieher umgetrieben, wo er nun seit einem Jahre Nachtwächter sei und sich den Augen der Welt also am leichtesten verbergen könne. Er wohne hier in dem Hause eines Tagelöhners, wo er am Tage Vogelkäfige schnitze und Felgen zu Wagenrädern aushaue. Der Amtmann habe ihn gestern gerufen und ihm gesagt, daß er nächstens Küster werden solle; er habe darauf nichts geantwortet, bestün(de) aber der Amtmann darauf, so müsse er auch von hier wieder fortgehn. Nun sei er auf den Gedanken gekommen, sich mir anzuvertrauen. Er hoffe, ich werde dies Vertrauen nicht mißbrauchen und ihm eher nützlich als schädlich sein. Sein Leben sei ihm längst zur Last, da er jedoch von einer Mutter zärtlich geliebt werde, die er nicht betrüben wolle, so habe er beschlossen zu leben, so lange es gehn[94] wolle. »Kurz vorher, ehe Sie kamen«, fuhr er fort, »war ich willens, Bertinchen meine Sache vorzutragen, da sie ein treffliches Mädchen ist und mir schon viel Gutes getan hat; doch fürchtete ich, sie möchte es ihrem Bräutigam wiedererzählen, den ich nicht leiden kann, weil es ein gar zu massiver Menschensohn ist, der durchaus kein Interesse nimmt als an Weizen, Haber, Gerste, Kühen und Pferden. Er mag übrigens ein guter Wirt sein und Vermögen haben, das Mädchen aber ist etwas Besseres wert.« – »Wie!« rief ich aus, »Bertha ist verlobt!« – »Ja«, sagte er, »schon seit Ostern. Auf Pfingsten kommt er wieder her. Er ist einundzwanzig Jahre alt und scheint sich gar nicht sonderlich um das Mädchen zu bekümmern. Da er dem schönen, reinen Wesen so nahe ist, könnte er wenigstens alle Woche einmal kommen, doch er kömmt nicht als wenn er weiß, daß der Amtmann ein neues Pferd im Stalle oder neue ostfriesische Kühe hat, und dann ist, sowie er vom Pferde steigt, sein erster Weg zum Stall; nach dem Mädchen fragt er kaum.« –

Es war mir kaum möglich, die zerreißende Bewegung meines Busens zu verbergen. »So jung noch«, sagte ich, »und schon in Bande, schon in Gefangenschaft?« – »Ja«, sagte er, »das ist hier nicht anders. Auf dem Lande ist solch ein Mensch was wert, und der Amtmann hat ihn gern; er kauft kein Pferd, Kraft (so hieß der Bräutigam) muß es erst reiten. Warum ich ihn nicht wohl leiden kann, ist, weil er nichts schätzt, als was er brauchen kann; alles andere ist für ihn nicht in der Welt. Ich hatte«, fuhr er fort, »einen Nachtigallkäfig sauber geschnitzt und brachte ihn der Bertinchen am Ostermorgen mit einer herrlichen Nachtigallen. Das Kind machte ihn aufmerksam auf die fleißige Arbeit und den schönen Gesang des[95] Vogels«. »Ein Schwein auf dem Koben und die Nachtigall auf dem Baume«, sagte Kraft, »sähe ich lieber!« Er hatte sich einen Wagen in Frankfurt machen lassen, der kam hier an und wurde allgemein bewundert. Da ich nichts sagte, so fragte er mich: »Nun, Martin, was sagst denn Du?« – »Der Wagen«, sagte ich, »sieht gut genug aus; ich mag das Pferd nicht sein, das ihn zieht; er geht schwer im Sande, und lange wird er nicht halten.« – »Mach's besser, dummer Hans!« rief er aus. »Ein Vogelbauer ist es nicht. Du wirst solch einen Wagen nicht machen!« – Da machte ich mich dran, suchte mir das Holz aus und baute dem Amtmanne einen Wagen. Dieser hat ihn beschlagen lassen und ist letzthin damit zum Schwiegersohn gefahren, der seinen neuen Frankfurter Wagen glücklich zerbrochen hat. Da hat denn Kraft gesagt: 'Das hätte ich in dem Jungen nicht gesucht, daß er das könnte; er soll mir auch einen Wagen bauen!' – Doch das wird Martin bleiben lassen!« –

Martin sagte mir nun ferner, er habe einen Oheim, der Kammergerichtsrat in Berlin sei; diesem solle ich melden, daß er lebe und eine Vereinigung mit seinen Eltern wünsche. Zum Studieren habe er die Lust verloren, aber er wolle dem Vater die Wirtschaft führen, daß er mit ihm zufrieden sein solle.

»Doch«, fuhr er fort, »Sie nehmen, wie ich merke, großen Anteil an dem Mädchen. Sie sind erst wenige Wochen hier. Sie können höchstens zwanzig Jahre alt sein. Haben Sie dies Haus schon sonst gekannt?« – »Ach!« sagte ich, »hätte ich es niemals kennen gelernt!« Ich gestand ihm, daß der erste Anblick des Mädchens mich durch und durch ergriffen hätte; daß er mich in diesem Augenblick zu dem unglückseligsten Menschen mache durch seine[96] Nachricht. »Dies tut mir leid«, sagte er, »aber erfahren mußten Sie es doch. Doch hätte ich Ihnen das Mädchen gewünscht; sie ist Ihrer vollkommen würdig.« Und nun fuhr er wie ein Strom fort, sich über das Lob dieses Mädchens zu ergießen. »Sie ist wie ihre Mutter, die ich trotz ihrer Narben schön finden kann, denn diese regiert das ganze Haus mit Liebe und Freude. Sie ist eine vollkommene Wirtin. Ich kenne nur eine, mit der sie zu vergleichen ist, das ist meine Mutter. Eine größere Kennerin des Gesindes als die Amtmannin ist mir nicht vorgekommen. Eine Magd, die sie in Dienst nimmt, ist auch gewiß gut und wird alle Tage besser. Gehen Sie durch das ganze Haus, durch die Molkerei, ins Brauhaus, in die Brennerei, in die Kuhställe, – überall finden Sie Ordnung und Reinlichkeit. Dabei schilt und schimpft sie nicht; auf dem ganzen Amte ist es ruhig. Aber«, setzte er hinzu, »was hätten Sie denn auch mit dem Mädchen gewollt? So jung Sie sind, ohne Amt, mit Ihrem Talente und in Ihren Aussichten müssen Sie jetzt, können Sie jetzt nicht heiraten. Hätte ich Ihr musikalisches Talent gehabt, ich wäre geradenwegs nach Italien gegangen, wozu ich eine sonderbare Neigung habe; wollen Sie denn nicht nach Italien gehn?« – Ich erschrak, als der Mensch diese Saite tönen ließ. »Wie kommen Sie«, sagte ich, »auf Italien? Wer hat Ihnen davon gesagt? Geben Sie mir Ihre schöne Stimme, und ich gehe von hier dahin, ohne vorher zurück nach Berlin zu gehn, wo mir das Herz im Leibe friert. Aber Sie irren sich in mir. Ich bin allerdings nicht ohne Naturell und Trieb zur Musik, aber mein Spielen, welches hier freilich hinreicht, ist noch zurück und wird niemals besonders werden, weil meine Hände schon vom Handwerke angegriffen sind. In der[97] Komposition ist noch nicht viel, ja eigentlich gar nichts geschehen, denn ich habe keine ordentliche Unterweisung darinne gehabt; was ich tue, geschieht aus angeborner Lust. Meine Stimme ist schwach, und in Italien müßte ich verhungern, schon deswegen, weil ich die Sprache nicht kenne.« – »O, wenn Sie sonst keine Sorge haben«, sagte er, »so müssen Sie auch wissen, daß man in Italien beinahe von gar nichts leben kann, und eine Sprache lernt sich. Ich wüßte nur nicht, was ich da sollte. Von Deutschland, dachte ich, müßte ich ganz weg; Gott weiß, wo ich die Furcht hernahm, die mir sonst nicht eigen ist. Frankreich und Eng[el]land kann ich nicht leiden, das erste der Sprache wegen, und das andere des verfluchten Handels wegen. Da dachte ich, in Italien ist ein warmes Klima, und weiter fiel mir auch gar nichts ein; an meine Stimme dachte ich nicht. Bertinchen hat mir auch gesagt, Sie hätten meine Stimme gelobt, und ich muß gestehn, ich möchte wohl ordentlich singen können, denn meine ganze Kunst besteht in Liedern, die ich in Halle mit den Studenten gelernt habe. Ich kenne die Noten nicht.« –

Als Martin fort war, kamen mir meine eigenen Gedanken wieder. Es war mir doch seltsam, daß Bertha auch nicht ein Wort von ihrem Bräutigam gesagt hatte. Ich entschloß mich indessen, sie nicht zu fragen und die Sache in Geduld abzuwarten; doch wollte ich wissen, ob sie ihn liebte. – Und wenn sie ihn nicht liebt? wird sie darum dich lieben? wird sie überhaupt einen Mann besonders lieben können, sie, die von allen geliebt wird, eben weil sie selbst gegen alles voll Liebe ist? Alle diese Fragen durchkreuzten sich in mir und taten wenigstens eine temperierende Wirkung auf meine erregte Leidenschaft.[98]

Sonntag früh kam der Minister, den Geheimen Rat abzuholen. Es war nur ein Platz im Wagen, und ich mußte zurückbleiben. Sie fuhren noch vor Tische wieder ab.

Kurz vor der Mahlzeit kam unerwartet der Bräutigam, der junge Herr Kraft an. Ich war in großer Bewegung; ich fürchtete einen Auftritt, eine Explosion. Wie mir Martin gesagt hatte, so war es. Der Amtmann war auf dem Hofe. Kraft stieg ab, begrüßte seinen Schwiegervater, und sie gingen gleich in den Ställen umher und traten nicht eher ins Haus, bis das Essen aufgetragen war. So hatte ich Zeit, mich abzukühlen. Ich hatte eine Art von Ehrfurcht vor dem jungen Manne bekommen, indem er sein sicheres Eigentum nicht vor meinen Augen in Besitz nahm. Er trat in die Stube und verneigte sich kurz gegen mich, nachdem mir ihn der Amtmann vorgestellt hatte, und man setzte sich an den Tisch. »Ich wäre«, sagte er, »nicht gekommen, wenn ich gewußt hätte, daß der Geheime Rat schon wieder fort ist, denn diesen wollte ich um etwas fragen. Der Vater hat voriges Jahr eine Eisgrube bauen lassen. Sie ist nach dem besten Muster gebaut, aber wir haben schon jetzt kein Eis mehr, und ich wollte den Geheimen Rat fragen, woran das liege.« – Ich fragte ihn, ob er mir das Gebäude wohl genau beschreiben könne. – »Ich habe«, sagte er, »die Zeichnung mitgebracht, wonach sie genau ist gebaut worden.« Er nahm sie aus der Tasche und gab sie mir. – Ich sagte, gegen die Struktur wäre nichts einzuwenden, jedoch wenn sich das Eis darin durch acht bis neun Monate halten sollte, so müßte sie wenigstens noch einmal so groß sein, weil eine so kleine Masse Eis sich nicht so lange halten könnte. – »Habe ich's nicht gedacht!« rief er aus.[99]

»Die Eisgrube, nach welcher diese Zeichnung genommen ist, ist gerade noch einmal so groß. Mein Vater aber sagte: ›Was soll ich mit alle dem Eise machen? Ich will das Gebäude nur halb so groß haben.‹ Und nun ist all[e] das Geld weggeworfen!« –

Nach Tische ward allerlei vorgenommen. Bertha sang einige Lieder sehr artig. Der Hofmeister bat, sie möchte doch singen: »Das ganze Dorf versammelt sich.« – »Ach«, sagte sie, »damit verschonen Sie mich! Traurige Lieder muß man nicht singen, als wenn man traurig ist und allein. Mir wird allemal nicht wohl ums Herz, wenn ich ohne Not die lamentabeln Gesänge hören muß. Ich mag gern Anteil nehmen, aber ich muß helfen können, und wer kann vergangne Schmerzen lindern?« – »Das ist auch mein Sinn«, sagte Kraft. »Mich kann's beinahe aus der Fassung bringen, wenn mich einer traurig machen will; man hat andere Sachen zu tun, als bei guten Tagen zu trauern.« – Der Hofmeister nahm wieder das Wort, indem er ausrief: »Omnibus hoc vitium est cantoribus!« Es wäre nur die Art aller Virtuosen, sich nicht hören zu lassen, wenn sie gebeten würden; schon Horaz habe darüber geklagt, und so sei es noch, und nun sprach er noch lang und breit über das Kapitel. – »Nun«, sagte Kraft, »wenn denn Horaz es gesagt hat, so dächte ich, Sie hielten das Maul! Tinchen hat gespielt und gesungen ohne Umstände, und Ihre Predigt paßt also nicht hieher. Übrigens muß ich gestehn, daß ich auch nicht geneigt wäre, jedem aufzuspielen, der es verlangte; und wenn wir ehrlich sein wollen, denken wir vielleicht alle so, wenigstens handeln wir meistenteils so. Habe ich nicht recht?« fragte er, indem er sich gegen mich wandte. – »Ein jeder«, sagte ich, »hat recht, der ehrlich sagt,[100] was er denkt. Es ist natürlich, daß das, was einer kann, sich nicht zu allen Stunden gut hervorbringen läßt. Wer dagegen aus Ungefälligkeit eine Gefälligkeit ablehnen wollte, den könnte man billig tadeln. Das aber würde unsere schöne Bertha immer nicht treffen, die ja das Gegenstück von aller Ziererei ist.« – »Ja«, sagte die Erzieherin, »wenn's drauf ankommt, der Mademoiselle Albertine das Wort zu reden, so regen sich alle Zungen; diese muß nicht Unrecht haben!« – »Nein«, sagte Kraft, »das muß sie auch nicht, wenn sie unschuldig ist! Und Ihr wißt alle beide nicht, wie solchen Menschen zu Mut ist, denn Ihr kennt nichts als Eure Bücher!« – Man fing an, ernsthaft gegen einander zu werden, und die Amtmannin sagte: »Der Kaffee ist im Garten. Ich denke, wir reden jetzt von etwas anderm!« – »Und ich«, sagte Kraft, »werde zu Hause reiten, sonst wird es Nacht!« – So ging er und kam nicht wieder. Bertha begleitete ihn.

Der Kaffee ward im Garten getrunken. Bertha ging mit mir einen Gang auf und ab. »Ich habe Ihnen«, sagte sie, »noch nicht gesagt, daß Kraft mein Mann werden soll. Ist es nicht ein recht guter Mensch?« – »Er gefällt mir über alle Maßen«, antwortete ich. »Ich beneide ihn um vieles, aber ich muß ihn schätzen.« – »O«, sagte sie, »wollen Sie wissen, was er von Ihnen sprach, da er sich aufs Pferd setzte? – ›Das ist ein ganz anderer Junge‹, sagte er ›wie der überweise Hofmeister. Ich käme gern öfter her, aber dieser Mensch und die Mamsell könnten mich aus dem Himmel verjagen; ich kann sie alle beide nicht leiden; ihre Nase ist mir zu spitz und seine zu breit‹.« –

Nun wußte ich denn alles, was ich wissen sollte. Es überfiel mich eine Achtung gegen die beiden jungen[101] Leute, die sich so rein und wahr gegen einander verhielten, wogegen mein entflammtes Herz eine traurige Figur machte. Diese jungen Leute, dachte ich, müssen sich von Tage zu Tage lieber und treuer werden, indem ihre angeborne Neigung wie ein guter Garten aufgeht, ohne heftige Leidenschaft durch Zeit und Wartung wächst und durch's ganze Leben bestehn kann; ohne Sorge, wovon sie leben wollen, ohne Hindernis und Hehl fangen sie gleich das wahre Leben an, das sie fortsetzen und jeden Tag voll und unbewußt genießen werden. Das Mädchen ist reif, zur Mutter, zur Wirtin erzogen. Der junge Mann weiß, was er soll; liebt, was er hat; er ist ein geborner Herr! – Was bin ich dagegen? Eine unsichere Tätigkeit, ein namenloser, nimmersatter Trieb, eine verspätete, ungeduldige Neigung und ein ewiges Hin- und Herreißen lockt mich, schreckt mich, jagt mich.

Martin besuchte mich jetzt öfter; er ward mir immer lieber, denn er war ein trefflicher Mensch. Er hatte einen stattlichen Wuchs, ohne groß von Körper zu sein. Ein seiner Hieb auf der Backe, von der rechten Nüster nach dem Kinn zu gab seinem Gesichte ein derbes Ansehn, das zu seinem übrigen festen Knochenbau gut paßte. Sein Vater wollte einen Theologen aus ihm machen und dachte, ihm seine sehr gute Predigerstelle, neben welcher er sich eine Erbpacht zugelegt hatte, zu hinterlassen. Martin hatte Anlage zur Landwirtschaft gezeigt, welche der Vater eher unterstützte als zu hintertreiben suchte. Daher kam es, daß er so geschickt in Feld- und Handarbeiten war und erst im zwanzigsten Jahre die Universität bezog. Er gestand mir, daß es ihm aufrichtig leid tue, in seinen Studien gestört worden zu sein; er sei mit Genuß auf der Universität gewesen und rate[102] jedem Menschen, der etwas sein wolle, einige Jahre auf solche Art zu verleben. Auch seine Mutter sei sehr damit zufrieden gewesen, die er über allen Ausdruck liebe. Seine Augen strahlten, als er von seiner Mutter sprach; ihr Lob rollte wie eine Siegessinfonie von seinen Lippen. Ich war entzückt über die schöne Liebe dieses Sohnes und nahm mir fest vor, ihm zu dienen.

Nach einigen Tagen kam der Minister mit dem Geheimen Rat zurück. Er saheunser Revisionsprotokoll durch, unterrichtete sich augenscheinlich von der Verfassung der neuen Gebäude, lobte den Stall und die schönen Pferde und reisete ab. Nach einigen Tagen gingen auch wir in Frieden und gutem Andenken nach Berlin zurück.

Bei meinem Abschiede fragte ich Bertha, ob wohl Kraft es nicht übelnehmen würde, wenn sie mir zum unvergeßlichen Andenken einen Kuß mitgebe. »Wenn es unvergeßlich sein soll«, sagte sie, »muß ich Ihnen wohl zwei geben, damit es vorhält; auf Pfingsten ist unsere Hochzeit, dann denken Sie an uns oder kommen Sie lieber selber.« – Ich fuhr auf sie zu, küßte sie in Inbrunst meines Herzens, und zum dritten Male auf die volle Brust. »Nun,« sagte sie mit größter Anmut, »für diesmal sei es genug, sonst müßten wir Erlaubnis nachsuchen!« – So fuhr ich von dannen, und noch heute habe ich keinen Ausdruck für die Wirkung dieser Küsse. Bertha ist mir das Modell geblieben zu allem, was weiblich, schön und liebenswürdig ist; die völlig ausgewachsene Geistesgesundheit in einem so jungen, blühenden Körper, diese Erinnerung wird nur mit meinem Leben verlöschen. Sie starb leider im ersten Wochenbett an ungeschickter Behandlung, und wie ich gehört habe, soll Kraft untröstlich gewesen sein.[103]

Gleich nach meiner Ankunft in Berlin suchte ich den Kammergerichtsrat auf. Er wußte alles, nur Martins Aufenthalt nicht. Der Prozeß war entschieden. Der Tod des Studenten war zwar die nächste Folge des Duells gewesen, doch hatte sich gezeigt, daß alle Säfte des Patienten verdorben, und sein Tod auch ohne den – übrigens nicht tödlichen – Hieb so gut als gewiß gewesen wäre. Nur durfte Martin nicht wieder auf die Universität kommen. Das Übrige konnte mit Gelde abgemacht werden, weil das Zeugnis der Professoren und der Eltern zu Gunsten des Angeklagten war. –

Ich war nun im Violinspielen ziemlich fortgeschritten, und seitdem ich eine gute Bratsche hatte, spielte ich auch Bratschenkonzerte, die man gerne von mir hörte. Dies veranlaßte viele Invitationen zu Konzerten, wobei ich zuletzt wie unentbehrlich wurde, da ich auf drei Instrumenten Konzerte spielte. Dadurch lernte ich einen jungen Juristen namens Sebaldt kennen, von dem ich bald unzertrennlich wurde, weil er ein trefflicher Musikus war. Er hatte weder eine schöne Violine noch einen schönen Ton, aber er spielte rein und war der beste Anführer eines Liebhaber-Orchesters, denn er konnte mit sehr mittelmäßigen Leuten, wenn sie nur willig waren, die bestmöglichste Musik machen.

Durch Sebaldt wurde ich in einem Hause bekannt, das aus zwei Brüdern und einer Schwester bestand, die sämtlich unverheiratet waren. Die Brüder bliesen beide Flöte, die Schwester, ein nicht ganz junges, aber kräftiges Mädchen mit den schönsten schwarzen Augen und Haaren, bewirtete sehr artig solche Gäste, mit denen ihre Brüder Musik trieben. Es gefiel mir bald in dem Hause, das ich denn auch oft genug besuchte, wo man jeden[104] Abend wenigstens ein Trio haben konnte. Sebaldt liebte das Mädchen, das konnte ich bald merken, aber die Sache mußte traurig enden, indem der gute Mensch von einer Gesundheit war, welche sichtbarlich abnahm, bis er zu meinem großen Leidwesen starb.

Kurz vor Sebaldts Tode hatte sich in dem Hause ein Protonotarius des Kammergerichts eingefunden, ein kleiner, freundlicher Mann von Vermögen, mit dem sich's gut leben ließ. Er bezeigte sich artig gegen das Mädchen, und nach Sebaldts Tode ließ er nicht übel merken, daß er Absichten auf sie habe. Anfänglich war mir's, als ob ich dies übelnehmen müßte, daß ein solches Männlein unter meinen Kanonen ein Mädchen zu kapern gedächte, an die ich wohl nähere Rechte geltend machen könnte. Hier fiel mir Martin ein und unsere Unterhaltung über Italien; daher fing ich an, seltener zu werden, doch die schönen, großen Konzerte, welche hier eine Woche um die andere gegeben wurden, und die ich nach Sebaldts Tode dirigierte und sehr sorgfältig einrichtete, zogen mich immer wieder dahin. Ich sahe wohl ein, daß das Mädchen, die einige Jahre älter war als ich, auf etwas Gewisseres zu denken hätte; ich entschloß mich, zu resignieren und fing an, außer den großen Konzerten sparsam zu erscheinen. Dies mußte bald bemerkt werden, und so oft ich hinkam, fand ich das Mädchen ohne ihre sonstige Heiterkeit, an die ich mich sehr gewöhnt hatte.

Noch ein Umstand ereignete sich hier: die drei Geschwister lebten von dem Ertrag eines sehr einträglichen Monopols; dieses Monopol war angegriffen worden, und die Brüder standen eben auf dem Punkte, den darüber geführten Prozeß zu verlieren.

Der Protonotarius konnte dies wissen. War nun dies[105] die Ursache oder nicht, genug, auch dieser zog sich zurück, und das wackere Mädchen stand auf dem Punkt, kurz nacheinander den dritten Liebhaber zu verlieren.

Der jüngste Bruder, auf den ich am meisten hielt, kam eines Tages zu mir und eröffnete mir den Zustand seiner Schwester; sie wäre trostlos, mich dadurch beleidigt zu haben, dem Protonotarius mit Güte begegnet zu sein. Sie habe ehedem an mir eine stille Neigung zu finden geglaubt, und sie könne den Schmerz nicht erleben, wenn ich mich im Ernst entfernen wolle. Ich sagte dem Bruder ganz aufrichtig, daß ich von der Zeit an, als der Protonotarius sich gezeigt und Eingang gefunden habe, mich schicklicherweise entfernt hätte aus Respekt für das Glück seiner Schwester. Ich sei einige Jahre jünger als seine Schwester und habe einen weiten Weg vor mir, bis ich ein Haus halten könnte; daß ich es aber gewaltig übelnehmen würde, wenn der Protonotarius geglaubt habe, unter meinen Augen sein Spiel zu treiben mit einem Mädchen, die billig von jedermann verehrt würde.

Am andern Morgen ging ich selber zu dem Protonotarius. Ich begegnete ihm mit Ehrfurcht, doch als einem Freunde. Das Gespräch lenkte sich bald; er wurde vertraulich, und ich erfuhr seine wahre Meinung. – »Das ist nicht schön«, sagte ich und erklärte geradehin, daß ich aus Respekt gegen das Glück des Mädchens ihm Platz gemacht und ein anderes Verhältnis bezogen hätte, weil er ein vollkommener Mann sei, einen ehrenvollen Dienst und eine gute Lage hätte. – Er habe, sagte er, bis jetzt einen Teil seiner Einkünfte von seinem Vater bezogen, der ihm jedoch angekündigt habe, daß er wegen großer Verluste nicht mehr das an seinem Sohn tun könne, was er bis daher getan. Daher könne er kein Haus[106] machen, und so weiter. – Ich sagte, diese Wohnung ist vollkommen groß genug für zwei, für drei, ja für mehrere menschliche Wesen. Das Mädchen sei eine treffliche Wirtin, und er werde gewiß mit ihr weniger brauchen, als wenn er ohne Haus lebe. Träte er zurück, so sei das Mädchen lädiert, welches ich nicht ruhig mit ansehn könne; ich ward zuletzt warm genug, um dem kleinen Manne durch feste Worte zu imponieren, worauf er sagte, er wolle sich bedenken. – »Was!«, antwortete ich, »bedenken will sich ein dreißig jähriger Mann, der heiraten muß und will, über ein köstliches Mädchen, das er seit einem Jahre kennt und umgibt? Nein, mein Freund, tun Sie Ihre Schuldigkeit und geben Sie mir Ihr Wort! Das Mädchen muß Ihre Frau werden!« –

Ich erreichte meinen Zweck, und nach vier Wochen war die Hochzeit, der ich jedoch nicht beiwohnte, weil ich verreiset war. So viel ich weiß, leben die Leute noch glücklich miteinander, und ihre Söhne sind versorgt.

Seit Sebaldts Tode war ich nun Direktor aller Konzerte an seiner Stelle worden, in denen ich mit ihm zusammen gewesen war. Diese Konzerte zeichneten sich dadurch aus, daß das Ganze kein bloßer liebhaberischer Zeitvertreib war, sondern auf ernsthafte künstlerische Beschäftigung deutete.

Unter unsern musikalischen Häusern befand sich ein Destillateur namens Radicke, der sich neben seinem Erwerb mit dem Orgelbau beschäftigte und außerordentlich sauber arbeitete. Seine Orgelpfeifen, seine Klaviaturen, die er alle eigenhändig machte, waren daher Muster der Nettigkeit. Er war längst mit den besten Instrumentenmachern befreundet und sahe diesen ihre Mensuren und äußere Handgriffe ab. Er bauete sich einen großen Konzertflügel[107] mit drei Klaviaturen, der einen vollen, schönen Ton hören ließ und eine Menge Veränderungen hatte. Seinen Sohn ließ er im Klavierspielen unterrichten, sodaß dieser ein leichteres Konzert nach seiner Art abspielen konnte. Daraus entstand ein kleines Konzert in dem engen Hause, das anfänglich in jeder Woche einmal abgehalten wurde.

Zu diesem Konzerte fand sich auch ein Mühlenbescheider namens Bruwill ein. Dieser stille Mann hatte sich seine Violine selber gemacht und nachher auch selber, ohne mündliche Anweisung, darauf spielen lernen. Das Instrument war nach einem schönen italienischen Muster vollkommen nachgearbeitet. Er spielte rein, hatte einen guten Ton und lernte in diesem kleinen Kreise bald seiner Stimme so vorstehn, daß er brauchbar genannt werden konnte. Dieser wohnte in der Werderschen Wassermühle ganz oben unter dem Dache mit seiner Frau und einer etwa achtzehnjährigen Tochter.

War nun Radicke ein sauberer Nacharbeiter im Kleinen und schnitzte allein und langsam an seinen Arbeiten, so war Bruwill ein Mann, der eine Mühle von sieben Gängen beschaffte und tüchtige Müllergesellen bildete. Der ganze Stil dieses Mannes war daher derber, einfacher, man könnte sagen: tiefer.

Radicke hatte, ehe er seinen großen Flügel anfing, einen kleinen zur Probe gemacht, der ihm ganz wohl gelungen war. Bruwill beschloß, auch einen Flügel für seine Tochter zu bauen. Er hatte unter den Instrumenten, die er zum Muster aufsuchte, einen großen Orchesterflügel vom alten Silbermann entdeckt und sogleich die sichere Meisterschaft daran wahrgenommen. Nach diesem Muster arbeitete er nun einen dreichörigen Flügel mit[108] zwei Klaviaturen aus. Er war nicht so groß als der, den Radicke gemacht hatte, aber der Ton war noch schöner. Nun ließ auch dieser seine Tochter im Spielen unterrichten, die bald große Fortschritte machte, weil sie ein ausgezeichnetes Talent besaß.

Bruwill, dem das Konzert in Radickens Hause zu kleinlich sein mochte, indem in einer engen Stube die Instrumente nicht austönten, hatte auf dem Dache seiner Mühle noch einen Raum ausgemittelt, der am besten zu einer Stube genutzt werden konnte. Diese Stube wurde so groß als möglich mit Brettwänden eingerichtet, und bald stand eine artige Konzertstube da, deren Wände mit musikalischen Sinnbildern geziert waren.

Nun wurde das Konzert wechselsweis eine Woche hier und eine Woche in Radickens Hause gegeben. Die neue Stube war mehr als noch einmal so groß, und die Bretterwände taten auch das ihrige, einen bessern Klang zu geben.

Die ganze Musik bestand hier in fünf Violinen, zwei Bratschen, zwei Violoncellen, einem Kontraviolon, zwei Flöten und dem Flügel. Sebaldt, der große Lust daran hatte, gab sich große Mühe. Er hatte von dem berühmten Dresdner Orchester gehört, daß der dasige Konzertmeister Pisendel jede Stimme durch seine Hand gehen ließ, ehe sie aufgelegt wurde; dann bezeichnete er sie genau mit Auf- und Abstrich, mit piano und forte und allen Modifikationen, und hielt darauf, daß das ganze Orchester diese Zeichen befolgte. Daraus entstand, daß der Komponist jedesmal seiner Wirkung gewiß war. Man brauchte weniger Proben; die Artisten spielten mit Lust und Kraft, und die Kenner behaupteten, daß alle Violinbögen im Dresdner Orchester zugleich auf- und abgingen, und hierauf[109] gründet sich der damalige Ruhm des Dresdner Orchesters.

Dies sollte nun auch unter uns erreicht werden. Sebaldt bezeichnete die Stimmen. Schwere Stellen wurden so oft[e] wiederholt, bis sie gut hervortraten, und in einigen Jahren hatte sich hier unter dem Dache der Werderschen Mühle ein musikalisches Ensemble gebildet, das endlich die Aufmerksamkeit einiger Kenner auf sich zog.

Der Konzertmeister Joseph Benda und der Hoforganist Schale waren zuletzt immer gegenwärtig, unterstützten mit ihrem Rate und gaben ihren Beifall durch das sichtbare Vergnügen zu erkennen, welches sie hier fanden.

Die schwersten Sinfonien, Konzerte und Ouvertüren der Bach, Graun, Goldberg, Müthel, Benda, Händel, Wolf, Geminiani, Vivaldi, Tartini, Hasse, Kirnberger und Quantz wurden hier sicher und natürlich aufgeführt.

Ein Vorfall machte dem kleinen Orchester viele Freude: Ein fremder, nicht unfertiger Klavierspieler erschien und legte ein neues Konzert vom Weimarischen Wolf vor. In der Mitte des ersten Allegro hatte der Konzertist das Unglück, zwei Blätter umzuschlagen, ohne es zu merken, denn er spielte fort. Das Orchester ward dadurch so wenig gestört, daß alle zugleich wie abgeredet den Ort trafen, wo er fortfuhr, und mit dem folgenden Ritornell auf den Punkt eintraten. Das Konzert war aus dem G-dur. Als das Stück geendet war, trat der Hoforganist Schale heran und sagte, die Modulation des Stücks sei ihm ganz neu; der Komponist sei mit einem Male aus dem D-dur ins e-moll geraten. Er habe dies anfänglich für einen Schreibfehler gehalten, da aber das Orchester gefolgt sei, müsse es am Stücke liegen. Hier nun ward das wahre Verhältnis[110] der Sache aufgedeckt; wer aber von dem allen nichts glauben wollte, war unser neuer Klavierspieler. Alle einmütigen Versicherungen der Ripienisten, daß sie beinahe eine ganze Seite hätten überspringen müssen, um ihm zu folgen, waren nicht hinlänglich, ihn zu überzeugen, bis zuletzt der alte Schale an den Flügel trat und ihm in der eigenen Stimme des Konzertisten die zwei Folioseiten zeigte, die man nicht gehört hatte, weil sie nicht waren gespielt worden. Das Stück ward nun noch einmal wiederholt, wo denn alles seinen ordentlichen Gang ging.

Nach Sebaldts Tode ward ich mit einem Musikus aus dem Orchester des Döbbelinischen Theaters namens Schobert bekannt. Dieser hatte eine angenehme junge Frau, welche zu den bessern Soubretten dieses Theaters gehörte. Da beide nur eine geringe Gage vom Theater hatten, so mußte Schobert nebenher Unterricht in der Musik geben. Dadurch bekam ich Gelegenheit, öfter im Orchester an seiner Stelle den Dienst bei der ersten Violine zu versehn. Ich fand mich bald so fleißig zu allen Proben ein, wurde mit den Schauspielern und Schauspielerinnen, denen ich ihre Singrollen einlernen half, bekannt und diesen so unentbehrlich, daß ich hier ein ganz tätiges Leben fand. Manchmal stritten sich zwei, drei, ja vier dieser Leute um mich, wenn ich um neun, zehn, elf oder zwölf Uhr akkompagnieren sollte. Ich lernte hier die Arien der Hiller, Andre, Georg Benda, Schweitzer, Neefe und anderer kennen, zugleich aber auch das inwendige Leben des Schauspielergewerks, von dem ich freilich durch Georgens Haushaltung einen kleinen Vorschmack hatte.

Indessen lebte man hier mit mehr Geschmack, indem[111] man wenigstens noch einmal so viel verzehrte, als man einnahm. Was man wünschte, war vorher da; es fehlte nie an einem guten Frühstück oder sonstigen Leckereien, eher an einem Fleckchen in der Stube, wo man es hinstellen, oder einem Stuhl, worauf man es verzehren konnte, denn alles war bedeckt und belegt mit den Werkstücken des gestrigen oder heutigen Schauspieles. Das bunte Leben hatte sein Gefälliges, obgleich ich mich dabei nicht ganz wohl befand, weil von eigentlicher Kunst gar keine Rede war. Man fragte nur immer, wo man sich nach dem Schauspiele treffen wolle. Das bekannte Pathos des alten Döbbelin, der seine Persönlichkeit in die Rollen und seine Rollen ins gemeine Leben übertrug, mißfiel mir deswegen nicht ganz. Ich konnte den Ernst verehren, mit dem er in Kleinigkeiten zu Werke ging. Recht schien er immer zu haben, besonders gegen viele dieser Leute, die gar nichts wollten von ihm annehmen und sich weit über ihm glaubten. Das deutsche Theater hatte jedoch damals wirklich bedeutende Subjekte. Fleck spielte als ein junger Mann schon ernsthafte, hohe und alte Rollen mit Glück. Eine Madame Nouseul war als Lady Macbeth eine hohe Erscheinung, Mademoiselle Döbbelin, Langerhans, Brückner und dessen Frau, eine Mademoiselle Withöft, Madame Mecour, Herr Unzelmann waren in ihrer Blüte; Mademoiselle Niclas war eine Julie, wie man sie wünschen konnte; dazu kamen die Gastrollen eines Schröder, Brockmann und anderer.

Die Shakespeareschen und Lessingischen Stücke wurden mit Glück, ja mit Genuß gegeben. Wäre dazumal eine Seele gewesen, die den schönen Körper regiert hätte, ein deutscher Fürst, der das Deutsche aus Deutschheit[112] geliebt, die Dichter ermuntert, die Künstler angefeuert, geehrt hätte, – die Epoche wäre erwünscht genug gewesen, für eine lange Reihe von Jahren ergiebig zu sein, anstatt das deutsche Theater schon seit manchen Jahren wieder von den Brosamen der Franzosen leben und sich an fremden, ins Deutsch übersetzten Sitten wo nicht bilden, doch gewöhnen muß.

Schobert hatte einigen Verdruß beim Theater bekommen und wollte ein anderes Engagement suchen. Dies eröffnete er mir zuerst, und da er zu diesem Endzwecke verreisen mußte, ersuchte er mich, an seiner Stelle zu spielen, bis er wiederkomme. Dies tat ich sehr gern. Kurz vorher hatte ich den Anfang gemacht, seine Frau, die er Rosa nannte, im Singen zu unterrichten. Diese Rosa war ein sehr junges, munteres Wesen von gutem Hause und war mit Schobert davongegangen; ob sie förmlich verheiratet waren, weiß ich nicht. Man konnte sie keine Schönheit nennen, aber sie war wohlgebildet, bewegsam und von guter Stimme, mit der sie übrigens wenig anzufangen wußte, weil sie nicht ordentlich gelernt hatte; indessen sang sie, wie damals mehrere ihresgleichen, frisch weg große Arien und brachte sich, wie sie es nannte, durch. Ein junger Graf von großem Vermögen hatte sich auch hier eingefunden, der eine zärtliche Natur und nicht von der stärksten Leibesbeschaffenheit war, und seit seiner Erscheinung hatte sich das Haus sichtbar aufgenommen, weshalb ihn anfänglich selbst Schobert gerne zu sehn schien. Doch ward dieser jetzt eifersüchtig und reisete nicht ohne Sorge weg. Er empfahl mir seine Frau, eröffnete mir das Verhältnis mit dem Grafen und bat mich sehr, seine Frau unterdessen nicht zu verlassen. Von der Zeit an kam ich alle Tage ins[113] Haus, unterrichtete Rosa mit Eifer, und da sie merkte, daß es ihr gelang, sahe sie mich gern und machte bald Fortschritte. Als Schobert abgereiset war, entdeckte sie mir, der Graf habe ihr einen Heiratsantrag gemacht; sie könne jedoch ihren Mann nicht verlassen, der viel um sie gelitten hätte; das Theater sei ihr auch lieb geworden, und die Familie des Grafen würde eine solche Verbindung doch nicht zugeben wollen. Ich wußte ihr nichts anders zu raten, als daß sie dies ihrem Manne schreiben solle; in jedem Falle aber solle sie fortfahren, ihr Talent zu kultivieren, sie möge sich entschließen, wozu sie wolle. Ich wurde nun selber eifersüchtig auf den Grafen und war dadurch in großer Verlegenheit. Davon zu bleiben und mit dem Grafen zu brechen war nicht ratsam, da er in diesem Hause viel aufgehen ließ und ganz artige Dejeuners und Soupers gab, an welchen ich gern Anteil nahm, weil es sehr munter dabei zuging. Unter den Leuten, welche der Graf mit in diese Partien zog, war ein junger, munterer Mann namens Daval, der mit ihm wohnte und eine Art von Aufseher zu sein schien, obgleich er es sich niemals merken ließ, denn er machte alles mit und lebte mit dem Grafen in enger Freundschaft. Eines Morgens kam der Graf zu mir und eröffnete mir seine unüberwindliche Neigung zu Rosa: er könne ohne sie nicht leben. Er sähe, daß ich ihr Vertrauen besäße, ja sie schiene mehr als vielleicht billig sei, auf mich zu halten; ich solle ihm behilflich werden, es solle mein Schade nicht sein. Ich sagte ihm, er hätte zu bedenken, daß er mit einer verheirateten Frau in Abwesenheit ihres Mannes zu tun hätte; wie ich Schobert kenne, sei er darinne eben nicht spaßhaft, und die Sache sei überhaupt von einer Art, daß ich gestehen müsse, sein Vertrauen[114] sei mir eine Last geworden, die mir bis Schoberts Zurückkunft schwer aufliegen würde. Den folgenden Morgen kam Daval zu mir †††

Diese Epoche nun war für mich nicht ganz unfruchtbar. Ich las mit Begierde die Literatur- und Theaterzeitungen. Ich hatte mir bald im Orchester einen beständigen Platz ausgemittelt, wo ich bald bei den Violinen, bald bei den Bratschen tätig sein konnte. Ich bekam Luft, eine Oper zu komponieren. Es war kein Gedicht zu bekommen. Endlich machte ich mich an die Gellertsche Oper »Das Orakel«, von der ich einen guten Teil fertig hatte, wie mir jemand sagte, ich hätte keine Hoffnung, dieses veraltete Gedicht aufs Theater zu bringen; daher ich denn davon abließ.

Um diese Zeit waren die Benda'schen Opern aufs Theater gekommen, an denen ich einen so großen Anteil nahm, daß ich im Orchester mit meiner Violine in der Hand Tränen bittren Anteils vergoß. Der Komponist selber (Georg Benda) erschien in Berlin und dirigierte seine Opern. Ich war sehr aufmerksam auf alle Worte und Zeichen, die der originelle Mann von sich gab, dem Orchester und den Sängern seine Meinung deutlich zu machen, und ich glaubte alles zu verstehn, da ich mit den Personen des Stücks bekannt war. Juliens Bild, wie es sich durch Bendas Musik in mir eingegraben hatte, konnte ich nun gar nicht mehr loswerden; ich lebte und litt, ich lag im Sarge mit ihr. – So weit wollte ich es bringen! Die Komposition eines solchen Stücks sollte mein Ziel sein!

Schon die Ouvertüre erregte meine ganze Eifersucht. Der stille Anfang derselben, das Abwechseln der Instrumente[115] im Orchester mit denen auf dem Theater, die obligaten Violinen und Flöten, das stille Säuseln des ganzen Orchesters, das nur von einzelnen ahnungsvollen Akzenten unterbrochen wird, erschuf mir das unvermischte Bild einer süßen, geheimnisvollen Frühlingsnacht, durchwirkt von schmetternd rührenden Nachtigallgesängen, die sich endlich in den Schlummer der ganzen Natur verlieren. – In solcher Nacht, so fühlt' ich's, kann die Liebe den Liebenden erwarten. Noch erinnere ich mich der Sorgsamkeit, mit welcher ich den sanftesten Ton aus meiner Violine zu ziehen suchte, um nur die heilige Ruhe dieser Nacht nicht zu stören, in welcher Romeo zu seiner Julie schleichen soll.

In einer Probe dieser Oper, an der Stelle, wo Laura erscheint mit den Worten: »Ach! eben schloß ihr müdes Auge der schmerzenstillende Schlaf«, begleitete das Orchester nicht sanft genug. Benda rief den Spielern zu: »Meine Herren, Sie werden das arme Kind wieder aufwecken! Spielen Sie ja sacht!« –

Ich hatte bisher die Violin- und Flügelkonzerte dieses Komponisten wie ein gelerntes Pensum mit Eifer gespielt, ohne daß ich mir gefiel, und nahm das Herz, den guten Benda zu bitten, sich von mir eins seiner S oli vorspielen zu lassen. Er sagte mir das gewöhnliche »Bravo!« Nun bat ich ihn, mich nicht so abzufertigen und mir seine Meinung offen zu sagen. Darauf versetzte er in seinem treuen böhmisch-deutschen Dialekt: »Ich glaubte, Sie wollten nur gelobt sein: ich habe dies Solo für mich und meine Hand gesetzt und es gespielt wie das meine; wenn es Ihnen also gefallen soll, so müssen Sie es spielen, als wenn Sie es gemacht hätten; sonst mag ich es auch nicht gemacht haben.« –[116]

Nun wußte ich, woran ich war, ohne mir den Sinn dieser Worte erklären zu können, die sich in meinem Gemüte wie ein Räderwerk bewegten. Unterdessen spielte ich mehrere Wochen lang nur dies Solo und fiel endlich darauf, mir eine Stelle nach meiner Hand abzuändern, wodurch ich vermögend wurde, das ganze Stück mit gefälliger Bequemlichkeit bis ans Ende zu bringen. Dadurch fing ich an, mir selber zu gefallen, und nun war ich imstande, dem Stücke einen Totalausdruck abzugewinnen, wodurch es mir immer lieber wurde.

Ohngefähr acht Tage darauf wurde Bendas »Ariadne« im Orchester probiert, und Benda selber führte die Musik an. Ich saß an der ersten Violine neben dem Vorspieler, der mich unterrichtet hatte. Nach der Sinfonie kehrte sich Benda zu mir, rückte meinen Oberleib zurecht und sagte: »Wer nicht sehn kann, muß sich aufs Raten legen; – und darauf müssen Sie halten!« sagte er zum ersten Violinisten. Im Nu, als er diese Worte gesprochen hatte, rückte sich das ganze Orchester zurecht, und mir war es eine Ursache, von der Zeit an eine Brille zu tragen.

Als Benda fort war von Berlin, fing mir an, das Leben und mein Dienst bei den Schauspielern langweilig und heillos zu werden. Die Benda'schen Musiken hatten zugleich so auf mich gewirkt, daß mir die Musiken der andern Theaterkomponisten nach und nach immer weniger schmecken wollten. Ich vermißte darin jene Heiterkeit, die glühende Leidenschaft, die mich eben wie aus dem Schlummer erweckt hatte. Gar zu lange konnte ich dies nicht verhehlen; ich ließ mich darüber in etwas derben Worten aus; man fing an, kälter gegen mich zu werden, und kaum war Benda nicht mehr in Berlin, so war(ich)[117] auch nicht mehr im Orchester, nachdem ich mich etwa ein volles Jahr in diesem Wesen versucht hatte.

Einer meiner heißen Wünsche war indessen unerfüllt geblieben. Ich kannte noch keine ordentliche Partitur und hatte schon längst gewünscht, ein Benda'sches Stück in Partitur zu sehn, und dazu war mir nun durch die Entfernung vom Theater die Hoffnung ganz abgeschnitten.

Darüber fiel mir ein, daß ein Bratschist aus dem Orchester, der nebenher ein Taubenhändler war, einst gesagt hatte, er besäße die Partitur von Bendas »Ariadne auf Naxos«. Zu diesem nun ging ich hin. Er besaß die Partitur wirklich, wollte sie aber nur verkaufen und verlangte so viel Geld dafür, als ich nicht hatte. Eines Tages kam er zu mir und sahe auf meinem Hofe ein paar Tauben sitzen, welche einem Nachbar gehörten, und verlangte von mir, ihm diese Tauben zu geben, so wolle er mir die Partitur der »Ariadne« leihen. Daraus konnte nun freilich nichts werden, weil ich nicht einmal wußte, wem die Tauben gehörten. Indessen hatte ich bald ausgemittelt, daß diese Tauben einem Sekretär gehörten, mit dem ich öfter in Konzerten gewesen war. Zu diesem nun ging ich hin, und nach manchem Hin- und Herreden wurde ich mit ihm einig, daß ich ihm für diese Tauben ein neues Bratschenkonzert komponieren sollte. Darüber erhielt ich meine Tauben, welche ich sogleich gegen die Partitur umtauschte, an der ich Tag und Nacht schrieb, um solche so bald als möglich zurückzugeben.

Das Vergnügen, welches ich beim Abschreiben dieses Werkes empfand, ist nicht auszusprechen. Ich sah das Theater vor mir mit allem, was darauf gehört, und nahm mir vor, ein ähnliches Stück zu komponieren, worin es an Löwen und andern Ungeheuern nicht fehlen sollte.[118]

Das Gedicht selbst mißfiel mir übrigens im höchsten Grade. Der Name Theseus war mir ehrwürdig. Diesen Theseus, den Besieger des Minotaurus, den Retter der Söhne seines Vaterlandes, sah ich hier klagen, ohne daß ihm ein Finger weh tut, wie einen bankerotten Kaufmann davonlaufen und seine edle Retterin in der Einsamkeit unter den Tieren der Wildnis verlassen. Die Musik riß mich hin zum Anteil an etwas, und an den Personen dieses Stücks konnte ich keinen finden; Ariadne kam mir vor wie ein deutsches Bürgermädchen, in fremde Kleider versteckt. Erst schläft sie, dann schimpft sie, und endlich stirbt sie. Theseus kommt; niemand weiß woher, warum, und noch weniger weiß er selber, warum er geht. Das Ganze erschien mir wie eine Reihe von Alltäglichkeiten, in griechisches Gewand gehüllt. Mein Anteil an Ariadnen, mein Unwille über den Theseus und meine Bewundrung der herrlichen Musik verwirrten mich.

Was einen tiefern, obgleich weniger gefälligen Eindruck machte, war die »Medea« des nämlichen Komponisten; ich sage: die Medea. Denn auch Jason war keinen Augenblick imstande, etwas anderes als meinen Haß zu erregen. Er erscheint weder als ein Held von Kolchis noch als ein Mann, und Medea mußte von Rechts wegen ein gemeines Weib sein, um solch einem Kerl nachzulaufen. Doch die Musik glich alles aus. Es war natürlich, daß die Empfindung, welche mir bang machte oder wohl tat wie den gegenüberstehenden Helden, uns beide vereinigen mußte. Hätte die Musik jedoch mehr Antikes gehabt, so wäre der Dichter verloren gewesen, dem man um des Komponisten willen gern verzieh.

Ich dachte lange darüber, wie man nur so etwas darstellen[119] wolle, und da mir die Reden dieser Personen ohnehin etwas journalier vorkamen, fiel (ich) auf den Gedanken, daß wohl noch ein mehreres hinter dieser Fabel verborgen sei, welches aus diesem Stücke nicht hervorgeht. Ich fragte meinen Freund Moritz, und nun war's am Tage, daß dieser Dichter nur dem Komponisten hatte wollen Gelegenheit geben, äußere Zustände mit Musik zu begleiten. Daher nahm ich mir vor, wenn ich einst ein solches Stück komponieren würde, meinen Dichter besser zu beobachten, damit nicht das, was die Empfindung baue, durch Verwirrung der Begriffe wieder zerstört werde. Etwas Ähnliches hatte ich auch an der Oper »Romeo und Julie« auszustellen. Das Ende des Stücks war mir völlig zuwider, ja verhaßt. Diese schnelle Verwandlung des tiefsten Todesschmerzes in wilde, ausgelassne Freude übergehn zu sehn, war mir zerstörender als der Tod selber. Dies klagte ich dem Professor Engel, der mir weiter nichts sagte, als: das ganze Gedicht sei keinen Schuß Pulver wert. –

Nun hatte ich auch mein Bratschenkonzert fertig. Es war in neuern Zeiten der erste eigentliche Versuch, in einem Konzerte etwas mehr als das bloß Spielen, das Hörenlassen zum besten zu geben. Ein pathetisches Allegro sollte eine ernsthafte Stimmung geben, darauf sollte ein tief bewegendes Adagio dieser Stimmung Unruhe und große Arbeit schaffen, die sich zuletzt im Rondo zu freier Behaglichkeit erheben und das Ganze heiter abschließen sollte. Das Konzert selber aber sollte ein Ganzes sein, und deshalb hatte ich aus dem Adagio etwas in das Rondo verwebt, das rezitativisch vorgetragen wurde. Mein Sekretär hatte eine unendliche Freude, als er sein Konzert zum ersten Male spielen hörte. Es wurde zweimal[120] nacheinander gespielt, und die es hörten, bewiesen mir ihre Zufriedenheit und munterten mich auf, diesen Weg zu verfolgen und mehr dergleichen zu komponieren. Dies war jedoch nicht mein Sinn; ich dachte auf ganz andere Dinge.

Bis jetzt hatte ich noch gar keinen Unterricht in der Komposition gehabt. Ich wußte nur zu gut, wie sauer mir dieses Konzert geworden war, um meine Intention darin nur einigermaßen klarzumachen. Diese Intention bestand in nichts Geringerm, als ein klassisches Werk zu liefern und mich bei Kennern geltend zu machen.

Ich saß daher während des Komponierens überall fest, ohne die Mittel zu kennen, mir fortzuhelfen. Dazu, glaubte ich, müsse man die Kunst im ganzen Umfange verstehen, und nun dachte ich auf weiter nichts, als wie ich mir diesen Unterricht verschaffen wollte.

Ich hatte längst gewünscht, eine Kirchenmusik zu komponieren. In der St. Georgenkirche wurde an einer neuen Orgel gebaut, welche ihrer Vollendung nahe war. Ich ging zum Kantor Schmidt und trug ihm mein Verlangen vor, ihm eine Musik für die Einweihung seiner Orgel anzufertigen, wenn er mir einen Text geben wolle. Der etwas steife Mann maß mich mit den Augen von unten bis oben. Er habe zwar, sagte er, noch keine Musik zu dieser Feierlichkeit, doch sei ihm eine versprochen, und einen Text habe er nicht.

Ich merkte recht gut, daß mich der gute Mann nicht für voll ansahe; das bloße Übelnehmen konnte aber nicht viel helfen, weil eine so gute Gelegenheit zu einer neuen Kirchenmusik nicht gar oft eintritt. Ich nahm daher einen schon komponierten Text, änderte darin allerlei nach meinem Sinne und trug diesen Text zum Kantor mit[121] der Frage, ob ich ihm diesen komponieren solle. Er nahm ihn mir nicht ohne Gravität ab und sagte, er wolle ihn durchlesen und mir Antwort sagen.

Ich war sehr ungeduldig, keine Antwort zu erhalten; deshalb ging ich zu meinem Freunde George, erzählte ihm mein Bedürfnis. Er lächelte und sagte: »Ihr seid beide ein paar wunderliche Leute. Er schämt sich, eine Musik umsonst anzunehmen, die er doch braucht, und Sie brennen für Begierde, ohne Not einem Undankbaren zu dienen. Ich werde mit ihm reden, und wenn er noch keine Musik hat, werde ich ihm sagen, daß er ein Narr ist.« George kam zurück, brachte mir meinen Text wieder und sagte: »Mit dem Menschen ist nichts anzufangen, wie ich denn noch niemals einen Pedanten gesehn habe, der wüßte, was er will. Mein Rat ist der: Komponieren Sie Ihren Text, wenn Sie der Luft nicht widerstehn können, und wenn Sie fertig sind, wird sich das andere von selber finden.« –

Ich hatte wirklich schon den Anfang gemacht; der erste Chor und ein Rezitativ waren fertig. »Wer hat Ihnen denn diesen Text gemacht?« fragte George. Ich sagte ihm, es sei der nämliche, den der hiesige Kantor Kühnau auch komponiert hätte. – »Das müssen Sie ja nicht sagen«, rief er, »sonst tut's der Narr gewiß nicht! Sie sind einander spinnefeind.« – Ich fuhr also mutig fort, aufs Ungewisse meine Musik zu machen und war bei guter Zeit damit fertig. Die Orgel war vollendet, und Schmidt hatte noch keine Musik, weswegen er denn auf Georges Versicherung, daß die Musik gut sei, meine Arbeit passieren ließ.

George und ich hatten zur Aufführung dieser Musik alle unsere Freunde zusammenberufen, und ich durfte auf[122] eine Aufführung hoffen, die meiner Arbeit vorteilhaft war. Da die Musik zur Einweihung einer Orgel gemacht war, so hatte ich eine Arie mit der konzertierenden Orgel angebracht. Der Organist war ein alter, stumpfer Mann und verbat sich diese Arie. Das war mir ein Donnerschlag, eine meiner besten Intentionen vernichtet zu sehn; überhaupt aber war es mir unangenehm, daß dieser alte, unwissende Mann zu meiner neuen Musik die Orgel spielen sollte.

Ich bat einen Freund, der ein guter Orgelspieler war, den Mann zu disponieren, ihn die Orgel spielen zu lassen, wenn meine Musik gegeben würde. Dieser kam zurück und brachte abschlägliche Antwort. Des Organisten Frau kam zu mir und erhub ein jämmerliches Geheul, daß ihr Mann gerade am Tage der Orgeleinweihung nicht selber spielen solle. Der Kantor sagte, er könne sich darinne nicht mischen, und ich geriet in einen hoffnungslosen Zustand. Es wurde eine Probe in der Kirche gehalten, die unglücklich ablief, denn der Organist kam gar nicht vom Flecke, und meine Musik, woran ich so warm und fleißig gearbeitet hatte, klang ganz entsetzlich. Meine Not wuchs mit jeder Stunde; ich schämte mich, ich weinte die Nächte hindurch, ich ärgerte mich, daß alles so ruhig um mich her, jeder sein Geschäft trieb. Der Organist erklärte endlich: dies sei gar keine Kirchenmusik; er könne sich damit nicht befassen und er werde bei meiner Musik die Orgel verschließen! Dies gab mir Mut, indem es meine Entschlossenheit erweckte. Ich lief zum Stadtpräsidenten Philippi, stellte ihm mein Ungemach vor, wie ich aus gutem Herzen alles getan zum Lobe Gottes und zur Feier des Festes. Meine Rede floß mir von den Lippen; ich war aufs höchste gespannt und forderte Gerechtigkeit.[123]

Der alte, würdige Stadtpräsident griff mir freundlich ans Kinn, indem er sagte, ich solle ganz ruhig sein; die Orgel solle zu meiner Zeit mein sein und keines andern, er werde selber in der Kirche sein und meine schöne Musik, wie er sie nannte, anhören.

Dies beruhigte mich, und ich ging. Zu Hause fand ich ein Billet; meine erste Sängerin war krank geworden. Ich lief zu ihr und überzeugte mich. Es war im Monate November, seit vierzehn Tagen hatte es immerwährend geregnet; der Kot auf den Straßen war ermüdend. Den ganzen Tag ward ich erhitzt und durchnäßt, die Nächte ohne Schlaf gewesen; ich spürte ein Fieber, und nun konnte gar das Unglück kommen, daß ich am Tage meiner Musik im Bette sein mußte. Die Angst meines Herzens war gräßlich. Ich witterte eine Sängerin aus, doch diese verstand so wenig Musik, daß ich keine Hoffnung vor mir sahe, ihren Vortrag nur einigermaßen mit Zufriedenheit gekrönt zu sehn.

Die Generalprobe kam heran. Sie ward in der Kirche gehalten. Es regnete den ganzen Tag. Der schnöden Witterung wegen kamen viele Musiker nicht in die Probe; aber meine kranke Sängerin erschien und sagte, sie habe von meinem Unglücke gehört und wolle singen, so gut sie könne.

Ich mußte nun die Orgel selber spielen, da jeder andere durch die Weigerung des Organisten war verscheucht worden. Die Probe ging so gut als sie konnte, denn George, der den Kontraviolon spielte, nahm sich der Musik hilfreich an. Er bat die Herren öfter, zu wiederholen, und für heute ging die Sache gut genug, indem er mir die Versicherung gab, morgen würde alles da sein und jeder würde das Seinige gern tun. Alles das[124] war nun auf den Kantor Schmidt auch nicht ganz ohne Wirkung gewesen. Er hatte meine Angst gesehn, meine Sorge und Bemühung mit zu großer Gelassenheit ertragen; das fühlte er wohl. Er fragte mich, wieviel Texte er wohl sollte drucken lassen. Ich riet ihm zu dreitausend Stück. »Gott behüte!«, schrie er, »wo denken Sie hin! Dreihundert wird zuviel sein! Ich kann das Stück nicht unter einen Groschen verkaufen, weil der Text einen ganzen Bogen beträgt, und ich leide den größten Schaden! Denn was übrig bleibt, wird Makulatur! Ich kann die Musik ja niemals wieder aufführen!« –

Es war das erste Mal, daß ich diesen Mann in voller Lebhaftigkeit seines ganzen Wesens wie eine Flamme aufschlagen sah.

Ich sagte ihm: »Tun Sie, was Sie wollen, aber ich halte es für besser, daß Ihnen einige Texte liegen bleiben, als daß Ihnen welche fehlen.« – Endlich sprach ich mit seiner Frau, mit der ich denn handelte und sie von Hundert zu Hundert hinaufstimmte, und es wurde beschlossen, achtzehnhundert Stück druckenzu lassen, denn bis auf zweitausend konnte ich sie nicht bringen.

Bis jetzt war ich in einer beständigen Fieberbewegung gewesen. Nach der Generalprobe war ich mit eins ruhig geworden. Ich bekam Hunger und aß mit Begierde. Die Nacht hindurch schlief ich mit Ungestüm, und der Morgen fand mich gerüstet. Mein erster Gang war zum Kantor, der mir nicht ohne Hastigkeit sagte, er habe noch keinen einzigen Text verkauft.

Ich stand an der Kirchtüre und sahe die Leute hineinströmen und zu meiner großen Freude viele alte Musiker, und endlich den alten Marpurg, der mich sehr munter und freundlich grüßte. Als ich diesen gesehn hatte, ging[125] ich an mein Amt, verteilte die Stimmen und sahe, wie meine Freunde, die Musiker, nach und nach sich ansammelten und mich grüßten. Die Trompeter und der Pauker waren die Devotesten, und so gings nach und nach etwas kälter hinauf bis zu den ersten Violinisten und Sängern, in deren Händen das Schicksal eines angehenden Komponisten liegt.

Meine Musik begann. Noch tönen die herrlichen Trompeten in meinen Ohren. Alles lösete sich zu mei ner Zufriedenheit auf, indem alles von mir abging, ja abfiel wie eine leichte Decke. Besonders gefiel meine Orgelarie, welche mir doppeltes Vergnügen brachte, weil ich sie selber spielte. Nach der Musik ward ich von allen Musikern aufs freundschaftlichste angesehn. George umarmte mich kräftig und gerührt. Seine Gehilfen und Lehrlinge sahen in einiger Entfernung meiner Erhebung zu; ich war glücklich. Nach der Musik ward ich von der Kantorin förmlich zu Tische gebeten. Bei Tische ward von mir gesprochen, und der Kantor legte etwas von seiner Würde beiseite, indem er sagte, er wünsche, daß er mir gefolgt sei. Er habe alle seine Texte verkauft, und nun, nach der Musik, schickten die Leute noch immer nach Texten. [Ja, er würde über viertausend verkauft haben, wenn er sie gehabt hätte.]

Ich war über allen Ausdruck glücklich und ward es immer mehr. Am andern Morgen erhielt ich ein Schreiben mit fingerlangen Buchstaben von Herrn Marpurg, worin er mich aufs freundschaftlichste anzufeuern suchte, die Ordnung meiner Komposition lobte, und dergleichen.

Das Sonderbarste bei dieser Geschichte bestand darinne, daß mein Vater von allen diesen Dingen nichts[126] wußte oder nichts zu wissen scheinen wollte, da so viele Leute davon wußten.

Um diese Zeit wurde mein erster Versuch in Klavierstücken bei Rellstab gedruckt und in der Zeitung angekündigt. In einer Gesellschaft, von der mein Vater Mitglied war, ward die Zeitung vorgelesen und also auch diese Ankündigung. Mein Vater sagte, es sei das erste Mal, daß ihm sein Name auf diese Art vorkomme, und er habe nicht gewußt, daß außer ihm und seinem Sohne noch jemand in Berlin diesen Namen führe. Der alte Schmeling (Vater der berühmten Mara) war zugegen und sagte: »Das ist ja auch Ihr Sohn und kein anderer!« – Doch mein Vater glaubte dies nicht eher, bis er mich selber gefragt hatte, wer mich so viel Musik gelehrt hätte. Ich sagte, daß ich ohne Lehrer gelernt hätte, doch gerne weiter fort wollte, denn ohne eine ordentliche Schule sei doch nichts Rechts zu leisten, man müsse so viel versuchen, und darüber verginge so viel Zeit. Musik, meinte mein Vater, wüßte ich nun genug, und fragte, ob ich Italienisch lernen wolle; der Professor Sanseverino habe seinen Unterricht angeboten. Ich war voller Freude, und das Italienische ward angefangen, doch sollte ich nur drei Monate lernen, denn der Professor hätte gesagt, in drei Monaten könnte ich so weit sein, mir selber fortzuhelfen.

Dieser Sanseverino (Verfasser der »Vita di Bianca Capello«) war Dichter; das war mir lieb. In der ersten Stunde konnte ich lesen und mit Hilfe des Lateinischen auch manches verstehen. Der Poet verfertigte mir eine Kantate »La Medea«, die ich sogleich in Musik setzte. Von ihm erhielt ich auch die Partitur von Schwanenbergers »Romeo e Giulia«, welche ich abschrieb, und nun[127] war ich wieder eine Zeitlang sehr glücklich und dachte häufig nach Italien.

Ich faßte nun den Entschluß, den ordentlichen Kursus der Harmonie bei Fasch zu lernen. Dieser aber war so besetzt, daß er keine Lektion annehmen konnte. Einer von Faschens Schülern, den ich kannte, sagte mir, er höre auf, Lektionen zu nehmen, und wenn ich noch gesonnen sei, Unterricht zu nehmen, so wolle er mich vorschlagen. Ich war bereit. Fasch verlangte erst etwas zu sehn von meiner Arbeit, und so ging ich hin und zeigte eine Sinfonie und eine Sonate vor, welche Fasch durchsahe.

Ich ward angenommen, und nun ging ich zu Fasch in die Lehre. Als ich hier angefangen hatte, schickte Kirnberger zu mir und ließ mich rufen. Ich kam. Er kannte mich schon, wie ich ihn. »Sie haben ja«, sagte er, »eine Kirchenmusik gemacht, die ich so rühmen höre. Lassen Sie mich doch diese sehn! Wo haben Sie denn gelernt?« – Ich antwortete, ich habe nirgends und so viel als nichts gelernt; erst seit kurzem sei Herr Fasch so gütig, mich durch seinen Unterricht zu beglücken. »Nun«, sagte er, »wenn Sie das lernen, was er kann, haben Sie alle Hände voll. [Den Kontrapunkt versteht er ordentlich, seine Kanons sind gewiß gut, und dabei hat er einen guten, ja einen seinen Geschmack. Sebastians Sachen habe ich von keinem besser spielen hören, und des Hamburgers Sachen spielt er noch besser. Was mir nicht an ihm gefällt, ist, daß er allen alles recht machen will.]« –

Ich glaubte, meine Sache sehr gut zu machen und erzählte Faschen, daß mich Kirnberger rufen lassen, und was er mir alles zu seinem Lobe gesagt hätte. Fasch hörte mich ruhig an, bis ich fertig war. Nachdem die Lektion geendigt war, sagte er, er müsse gestehen, daß[128] seine vielen Lektionen ihm anfingen, beschwerlich zu werden für die wenigen heitern Stunden, welche ihm seine Kränklichkeit übrig lasse; und obgleich er gern und mit Genuß unterrichte, so müsse er doch anfangen nachzulassen, denn es sei doch fast zuviel, vom frühen Morgen an und auch nach Tische immerfort zu unterrichten.

Dagegen habe Kirnberger gar nichts zu tun und leide einigermaßen Not. Ich solle daher Faschen die Liebe erzeigen, ihn von meinem Unterricht zu dispensieren; er könne mir dagegen Kirnbergern als einen vollkommen gründlichen Harmonisten anrühmen, der sich zugleich freuen würde, einen geistvollen Schüler in mir zu finden.

Mich traf diese Rede wie ein Blitz; ich konnte vor Wehmut nicht gleich antworten und stand traurig da; es war, als wenn ich mein Todesurteil aussprechen hörte.

Als ich die Sprache wiederbekommen hatte, sagte ich, daß ich ja nur eine einzige Stunde wöchentlich bekäme, wenn er in Berlin sei, und da er sechs Monate des Jahres in Potsdam lebte, so erhielte ich ja im ganzen Jahre kaum ein viertelhundert Lektionen. Ich hätte jahrelang auf seinen Unterricht gewartet und mich darauf gefreut; woher es denn komme, daß von allen seinen Schülern er mich auswähle, mich allein verstoßen wolle? Ich liebte ihn; ich hinge an ihm und seiner Lehre mit ganzer Seele. Ob er denn von diesem allen nichts fühle? – »Ich kann Ihnen aber nicht nützlich genug sein, doch wenn Ihnen die wenigen Lektionen hinreichen, so bleiben Sie in Gottes Namen; an fünfundzwanzig Lektionen mehr im Jahre werde ich nicht sterben, doch Sie werden davon auch keinen rechten Vorteil haben, denn Sie sind alt genug, keine Zeit mehr verlieren zu können. Herr[129] Kirnberger ist beständig in Berlin, Sie können daher beständig von ihm lernen. Wollen Sie indessen bei mir bleiben, – verstoßen will ich Sie nicht!« –

Ich war sehr niedergeschlagen, indem ich glaubte, Fasch habe etwas gegen meine Konduite, in welchem Punkte ich nicht sein aufmerksamster Schüler sein mochte. Indessen konnte ich hinwiederum bemerken, daß er mit meiner Intelligenz nicht unzufrieden war, besonders da ich zu seinen einzeln vorgetragenen Lehren immer sogleich mit einer Anzahl Beispiele bereit war, worauf sich jede Lehre anwesenden ließ.

Ich wußte nun nicht, ob ich zu Kirnbergern wieder hingehn und diesem meine Kirchenmusik bringen sollte, da sie Fasch noch nicht einmal gesehn hatte. Endlich sagte ich mir: Kirnberger hat deine Musik verlangt; verlangt die Fasch auch, so kann auch er sie haben.

So trug ich meine Musik zu Kirnbergern. Er las erst den Text, welchen er kannte. Als er das Ganze durchgegangen war, sagte er: »Ei nun, das mag wohl recht stark klingen!« – Ich bat ihn, mir seine Meinung nicht zu verhehlen; ich sei überzeugt, noch weit zurück zu sein, doch voll des besten Willens, emporzukommen, und was er mir sagen werde, solle mir ein Evangelium sein; ich wolle gern auf den Grund; die Wahrheit ginge mir über alles. – »Wahrheit!« sagte er. »Das schwere Wort reden Sie so hin, [als ob Sie längst wüßten, wer Wahrheit ist]. Freilich wissen Sie alles: was Sie gern hören, ist Ihnen auch Wahrheit; man darf Ihnen nur schmeicheln, und man kann Ihnen weismachen, was man will, und dann gehn Sie von Haus zu Haus und erzählen, was Kirnberger gesagt hat.

Ihre Musik, junger Herr, muß wohl klingen; ja schallen,[130] knallen muß sie; aber wenn ich nun hinzusetze, daß sie nicht singt, nicht andächtig, heilig, kirchlich, dagegen aber weltlich, leidenschaftlich und frech ist, – ist das auch wahr? Sprechen Sie!« – »Wenn Sie es sagen, Herr Kirnberger, ist es gewiß wahr!« – »Sie haben also«, fuhr er fort, »das Beste ausgelassen. So gut macht es jeder Anfänger, und so hört jeder Pfuscher auf; denn was für Kunst kann darin sein, im Schweiß des Angesichts Noten aufeinander zu passen, bis sie harmonieren? Und wenn Sie nichts Besseres werden wollen, als ein solcher Hucker und Drucker, so bleiben Sie bei der Kelle!« –

Der Schmerz, den ich bei dieser harten Rede empfand, war so überwältigend, daß es Kirnberger merkte und sagte: »Dies scheint Ihnen weh zu tun, und Sie nehmen es gewiß übel; das mögen Sie nur tun, und wenn Sie deswegen von Ihrer Komponiererei ablassen, so habe ich gewiß zu Ihrem Heile beigetragen. Es gibt nichts Erbarmungsvolleres als einen gemeinen Künstler, deren so viele sind; dagegen ein gemeiner Handwerker immer eine würdige Person bleibt, sobald es ihm bei geringen Fähigkeiten nur Ernst ist.«

»Was müßte ich denn aber tun«, sagte ich, »da ich doch einmal den Trieb habe und die Lust, etwas Musikalisches zu leisten?« – »So sprechen alle«, antwortete er. »Noch habe ich keinen gesehn, der nicht seine ersten Aufwallungen für Beruf, ja für Genie gehalten hätte. Es hat sich mit dem Genie! Genie ist etwas anderes, als Ihr jungen Herren glaubt. Da läuft eine Herde von Genies herum, die das Brot nicht wert sind, was sie essen. Glauben Sie mir, junger Freund, die Natur ist nur auf die Natur eingerichtet. Was nicht in ihr gehört,[131] kann sie nicht ernähren. Was ist denn also ein Musikus ohne Naturell, ein Sänger ohne Stimme? Und deren ist die Welt voll. Erst fangen sie an, Liedchen, Sonatchen, Sinfoniechen, Kantatchen, alles so niedlich, artig anzufertigen, daß ihren Eltern oder ihren Mädchen das Wasser im Munde zusammenläuft, und nun denken sie, sie hätten's, und des Genies ist kein Ende, bis man zuletzt ein Mann und ein Vater und – ein Stümper ist. Soll man nun einem Menschen raten, ein Künstler zu werden? Die Musik ist die gefährlichste von allen Künsten für den Künstler. Das Beste, was er leisten kann, kommt so leicht und harmlos hervor, daß jeder es für sein eigen hält, und keinem dabei der himmlische Geist einfällt und die unsägliche Mühe, den Ton sicher zu finden, der in eines Menschen Herz dringt. Die Welt nimmt es hin wie die Blätter und Früchte des Baumes, wie das Licht des Tages, weil sich das von selber versteht; und wer wird seinem Gotte für solche gemeinen Dinge danken? Da will man denn Außerordentliches leisten, es soll Auffallendes sein. Da müssen denn die Trompeten heran, und des Gepaukes ist kein Ende.

So, mein junger Freund, ist es mit dieser Musik, und Papa und Mama denken gewiß, das sei ganz was Erstaunliches. Aber haben Sie schon einen Choral vierstimmig setzen lernen? Sie fangen an bei den Zwecken; womit wollen Sie enden? Ich habe noch keinen gesehn, der glücklich um die Schule herumgekommen ist; sie brechen alle den Hals.

Sie wollen ein Handwerk treiben und eine Kunst auch; wissen Sie, was das heißt? Ich habe mein Lebelang nichts als Musik gemacht und glaube, was zu können, und habe mein Leben lang gepfuscht; denn wenn ich[132] große Meister betrachte, komme ich mir vor wie ein verlorner Mensch; ich weiß mich vor Traurigkeit nicht zu lassen. Sie wollen Häuser bauen und nebenher komponieren, oder wollen Sie komponieren und nebenher Häuser bauen?« –

Dies Gespräch wirkte zerschmetternd. Ich fing an, wirklich an meinem Talente zu zweifeln, besonders deswegen, weil Fasch gar zu wenig Wesen aus mir zu machen schien, der mir so mir nichts, dir nichts den Unterricht aufsagen konnte. Wenn ich an die Musik dachte, schlug mir das Herz vor Angst und Sorge. Meine Kirchenmusik war mir zum Ekel geworden, und ich fand in allen Winkeln Fehler, die ich mir nicht erklärenkonnte. Klagen konnte ich keinem, die meisten meiner Bekannten waren kalt; ich hatte sie für neidisch gehalten und ich würde vor Scham gestorben sein, wenn mein Vater oder einer von ihnen Kirnbergers Sermon gewußt hätte. So setzte ich mich an mein Klavier und hauchte meine Leiden in wehmütigen Phantasien aus.

Es war das Frühjahr 1783. An einem Sonntage nach dem Mittagsmahle beschenkte mich mein Vater mit einem neuen, sehr sauber gearbeiteten Zollstocke. Dabei zeigte er mir an, daß ich dem Ende meiner Minderjährigkeit nahe sei; morgen früh sollte ich vor das Gewerk treten und mein Vorhaben anzeigen, Maurermeister zu werden.

Auf einer Seite ward ich durch diesen Befehl erschreckt, und auf der andern Seite konnte ich kaum das Lachen verbeißen über das Vertrauen, welches mein Vater in meine Fähigkeit setzte.

Ich erwiderte, daß ich den redlichen Willen hätte, ihm wie immer zu gehorchen; er werde aber wissen, daß ich in der bürgerlichen Baukunst nur ein Anfänger sei und[133] nichts weiter getan als Zeichnungen kopiert hätte; dagegen hätte ich mich seit zwei Jahren mit Mechanik und Hydraulik beschäftigt. – »Noch mehr aber«, unterbrach er mich schnell, »mit Musik. Und was soll Dir das, wenn Du kannst, was Du nicht brauchst, und entbehrst, was Du wissen sollst?« – Ich bat ihn, die Sache so lange beruhen zu lassen, bis ich beim Oberbaudepartement mein Examen bestanden hätte, welches in wenigen Monaten vor sich gehn könne; das Meisterwerden sei mir ja gewiß genug. – »Und eben deswegen«, versetzte er, »muß man das Gewisse zuerst nehmen, denn nur, was man hat, ist gewiß; wenn Du examiniert bist, hast Du nichts und die Herrn Examinatoren auch nicht viel; denn so viel als sie Dich fragen, werden sie wohl wissen. Dagegen Du auf Dein Meisterstück wirst Meister werden und Dein Brot erwerben können. Wenn Du Meister bist, bist Du Dein, dann tue, was Du weißt; bis dahin tue, was ich befehle.« –

»Ich bin aber darin wirklich nicht so weit«, sagte ich, »ich werde mich prostituieren.« – »Nein!« sagte mein Vater, »Du wirst Deine Schuldigkeit tun, und es wird gelingen, und ich will es!«

Ich versetzte: Nach dem Begriffe, der mir von der Meisterschaft beiwohne, sei ich zu weit zurück; die Forderungen seien streng und würde ja darinne nichts nachgelassen, und es sei ganz unmöglich, ein Meisterstück zu machen, wenn man kaum ein guter Schüler sei; er solle mir doch nur vorher ein Jahr Übung verstatten. – »Wunderlicher Mensch!« rief er aus, »was willst Du denn beginnen, solange Du nicht auf Deinen eigenen Füßen stehst? Das Meisterstück soll eben die Übung sein, der Anfang in Meisterstücken; und dazu mußt Du erst[134] Meister sein, weil Du nicht eher Gelegenheit dazu hast; ja hier gehn erst die eigentlichen Lehrjahre an: die Verlegenheit, die Not, der Verdruß, das sind die wahren Lehrmeister! Ich werde mich wohl hüten, Dich für mehr zu halten, als Du bist; doch was hier gefordert wird, wirst Du, mußt Du können!« –

Ob nun gleich mir dies alles nicht ganz klar vorkam, so mußte ich nachgeben, denn mein Vater fing an, warm zu werden.

Wie ich mir die Sache einsam überdachte, fielen mir allerlei Dinge ein, von denen die Musik nicht das letzte war. Kirnbergers fürchterliche Ermahnung regte mir den tiefsten Grund auf. Was konnte er davon haben, mich von der Musik abzuraten? Er, der in Wahrheit hilfreich gegen angehende Musiker war und, wie ich wußte, mehrern den Unterricht unentgeltlich gab? Es schien mir daher ausgemacht, daß ich zur Musik schon zu alt (sei) und kein entschiedenes Talent besitze. Daher entschloß ich mich nun einmal wieder, mich mit aller Gewalt ins Handwerk zu werfen.

Am folgenden Morgen erschien ich vor dem Gewerk. Ich kann nicht sagen, daß ich dabei unruhig oder furchtsam gewesen wäre, und fast war mir's, als wenn sich der Wunsch in mir regte, daß ich möchte abgewiesen werden, weil ich als Gesell wenig gemauert hatte; doch ich ward angenommen.

Mein Vater war zu der Zeit Oberältester. Seine sämtlichen Freunde ermunterten mich, meinem sehr geschickten Vater nachzuschlagen, lobten meinen Vorsatz, und es ward mir aufgegeben, vorher ein Haus zu bauen, woran ich als Polier[er] arbeiten sollte.

Mein Vater hatte bereits einen solchen Bau, und ich[135] trat mein Amt als Polier[er] sogleich an. Das Haus war angelegt, und ich sahe nicht ohne Zufriedenheit das Fundament unter meinen Händen aus der Erde hervorgehn, denn ich hatte dazu eine hinlängliche Anzahl guter Leute, die mit mir zufrieden waren wie ich mit ihnen.

Seit dem vorigen Winter war ich in einem damals angesehenen [jüdischen] Hause bekannt, wo zwei erwachsene Töchter waren. Die jüngere, welche man Janny nannte, zeichnete und malte in Öl. Sie war achtzehn Jahre alt, von gedrungenem Wuchse, hatte die Farbe ihrer Nation, eine etwas gebogne Nase und einen unvergleichlich schönen Mund; die Augen, Zähne, Arme und Busen waren das Prächtigste, was man sehn kann.

Die älteste Schwester Adele war schöner von Farbe und Gestalt, von seiner weißer Haut, blauen Augen und sehr einnehmendem Wesen; dabei hatte sie eine rührende und weiche Sopranstimme und sang Stücke, die ihr gefielen, vortrefflich. Sie hatte einen Singmeister, doch unterrichtete auch ich sie in solchen Stücken, die ich ihr mitbrachte, und mein Unterricht schien ihr annehmlich, indem sie bald bedeutende Fortschritte machte.

Das Familienverhältnis dieses Hauses zog mich eben nicht an. Die Mutter trieb ihr Wesen für sich und der Vater desgleichen auf seine Art. Aber der letztere, welcher für einen schönen Geist gelten wollte und auch ein Drama geschrieben hatte, fand seine Freude darinne, Gelehrte, Dichter und Künstler nicht selten in seinem Hause zu sehen.

Dies war nun mir sehr willkommen, und ich sahe hier zuerst Moses Mendelssohn, Ramler, Engel, Leuchsenring, Stamford, Rode, Chodowiecki, Meil, Brandes und andere, und erfreute mich im stillen an den Reden dieser[136] Männer. Willkommener noch waren mir die beiden sehr ausgebildeten Mädchen, die ich alle Tage sehn durfte, da sowohl die Mutter wie der Vater jeder gleichsam für sich lebte, und die Töchter desgleichen. Janny sowohl als Adele sprachen und schrieben vollkommen Französisch und waren der englischen und italienischen Sprache mächtig. Mit ihnen konnte ich ungestört stundenlang von Kunst reden. Es ward gesungen und gespielt, und Janny malte und teilte ihre Bemerkungen mit. Es währete nicht gar lange, als sich zwischen der letztern und mir ein leidenschaftliches Verhältnis entspann. Wir sahen uns täglich, doch wurden nebenher lange Briefe gewechselt, in welchen sich bald meine Sehnsucht nach Italien verriet und wovon endlich auch Janny angesteckt ward. Auch sie wollte ihre Kunst auf klassischem Boden gedeihen sehn und ihrem Vorbilde, der berühmten Angelika, näher sein.

Mir selber schien dieses einmal wieder eine Weisung meines guten Genius, und wenn diese mich nicht nach Italien führte, so – sagte ich mir – sei auch alles an mir verloren. Ich beschäftigte mich nun mit Planen unserer Reise, die mir jedoch weit mehr Mühe machten als das vorige Mal, indem sich meine Lage um vieles verändert hatte, und Janny, mit der ich über viele Dinge in Streit geriet, manches auf ihre eigene Art veranstaltet wissen wollte. In jedem Falle mußte ich nun erst Meister sein, und dazu brauchte ich wenigstens ein Jahr Zeit.

Zufällig sprach ich einen von Kirnbergers Schülern, der in meiner Kirchenmusik mitgesungen hatte. Er lobte meine Musik und sagte mir, Kirnberger halte etwas auf mich. Ich konnte meine Verwundrung nicht verbergen und setzte ihm entgegen, daß ich dies besser wüßte. – »Wie?« sagte er, »Sie haben ihm ja Ihre Musik selber[137] gebracht, und er hat mir davon gesagt, daß er bei einem so jungen Menschen weder den Ernst noch die Kühnheit gesucht hätte.« – »Hat er Ihnen dies wirklich gesagt?« fragte ich. – Er wiederholte mir diese Worte mit allen Umständen, und nun erzählte ich ihm treu, wie mir Kirnberger alles Komponieren auf Lebenszeit verleidet hätte; seit der Zeit hätte ich keine Luft, eine Note zu schreiben. – »Das ist«, versetzte er, »nichts Ungewöhnliches bei ihm; je besser man es ihm macht, je unleidlicher wird er; und eigentlich lobt er nur die, von denen er nichts hofft, bekümmert sich wenig um sie und sagt dann, sie hätten's schön gemacht.« –

Diese Rede gab mir meine ganze Lebenskraft wieder, und ehe ich mir's versahe, hatte ich für Adele, die ich sehr eifrig unterrichtete, welches von dem Vater wohlgefällig bemerkt wurde, allerlei Kleinigkeiten komponiert, die gut aufgenommen wurden. Da ich jedoch an dem Polier[er]stücke täglich dreizehn Stunden gegenwärtig sein mußte, und nach Feierabend bis Mitternacht bei Janny war, so konnte aus dem Komponieren nicht gar viel werden und aus dem Schlafen fast noch weniger. Es lag mir schwer auf dem Herzen, daß ich in der Komposition, was man die Schule nennt, nicht genug vorwärts ging. Im Satze selbst war ich bei weitem nicht sicher; es kamen Fälle genug vor, wo ich mir nicht selber helfen konnte, und in den Kontrapunkten war noch soviel als garnichts geschehen. Fasch gab mir wöchentlich nur eine Lektion, und wenn er in Potsdam war, erhielt ich vier Wochen lang gar keine. Es fiel mir wohl ein, Kirnbergern zu fragen; doch das konnten beide übelnehmen, und ich war hier in Verlegenheit.

Der Herbst war da; mein Haus war fertig, und von[138] hier war ich nun erlöst. Als ich jedoch nun meine Hände betrachtete, das war ein trauriger Anblick! Die äußere Haut fiel fast herunter, und die Form derselben war so entstellt, daß ich lange Zeit Tag und Nacht Handschuhe und erweichende Mittel brauchte, sie wieder in gute Form zu bringen.

Nun erst wurde mir das Meisterstück selbst aufgegeben. Es bestand zuerst in einer Figur von sechshundertundacht Fuß lang und über siebenhundert Fuß tief, dessen vordere Seite mit drei Vorsprüngen versehn war; hinten aber und auf beiden Seiten hatte die Figur lauter Ecken und Winkel.

In den Grenzen dieser Figur sollte ein Grundriß zur Bewohnung zweier fürstlicher Familien angelegt werden. Die Familien sollten gänzlich abgesondert, zugleich aber auch gemeinschaftlich dieses Schloß bewohnen können. Das Gebäude sollte nach korinthischer Ordnung drei Geschosse hoch eingerichtet, alle Grenzen auf den Seiten fest zugebauet, und von der nachbarlichen Seite kein Licht genommen werden. Zu diesem Plane sollten nun vier Grundrisse der sämtlichen Geschosse, die Fassade, ein Profil, die Schablonen der bedeutendsten Gesimse, und zuletzt ein Kostenanschlag angefertiget werden.

Diese Figur ward mir vor dem versammelten Gewerke zur Ansicht überreicht und dann sowie das Papier, worauf alles gezeichnet werden sollte, versiegelt. Nun gab mein Vater der Meisterschaft ein gutes Gastmahl, wobei es nicht an Munterkeit fehlte.

Da mein Vater Oberältester war, so durfte ich [doch] in seinem Hause nicht zeichnen, und ich ward daher in das Haus des Nebenältesten gewiesen, der mir ganz hold war, weil ich ihm nebenher seine Zeichnungen und Anschläge besorgte.[139]

Am folgenden Tage ging meine Arbeit an. Ich fand dort zwei Meister, welche mir die Siegel löseten und meine Gesellschaft blieben.

Die Figur hatte dem ersten Anblicke nach ein sonderbares Ansehn, denn alles daran war mit Fleiß verschoben und verwoben. Die Maße der äußern Linien und unzähliger Sperrlinien waren mit Zahlen in die Figur geschrieben; und manche Linie, welche mit der Zahl 50 beschrieben war, dreimal so groß als eine andere, welche mit 150 bezeichnet war; aus spitzigen Winkeln mußten stumpfe, wie aus Ecken Winkel werden. Da ich nicht unerfahren in der Trigonometrie war, so bemerkte ich dies augenblicklich, und in einer Stunde stand meine Figur ganz regelmäßig auf meinem Papiere, wobei ich denn von meinen Gesellschaftern sorgfältig war beobachtet worden. Als die Herren dies bemerkt und gefrühstückt hatten, zogen sie von dannen und überließen mich meinen Gedanken. Eine so kindische Versuchung hatte ich nicht erwartet, aber es war hergebracht und ein alter Gebrauch, dessen Nutzen ich nachher denn wohl einsahe.

Da ich verschiedene italienische und deutsche Prachtgebäude von Zeit zu Zeit kopiert hatte und bald inne wurde, daß hier von keinen Hexereien die Rede war, so wuchs mein Mut und meine Luft von Tag zu Tage. Meine wachthabenden Gesellschafter kamen anfangs täglich zweimal, meine Zeichnung zu öffnen und wieder zu versiegeln. Nach acht Tagen war der Grundriß des Hauptgeschosses in Ordnung, und nun kam man immer seltener und bald darauf gar nicht mehr. Dies war mir nicht einmal lieb, denn hatte ich Gesellschaft, so rückte ich weiter vor, dahingegen ich nun, den ganzen Tag allein,[140] mir Noten mitbrachte, die ich abschrieb, oder etwas Neues komponierte.

Mein Vater hatte mir angeboten, ich solle mir die Figur zu Hause auch auftragen, damit er mich mit Rate unterstützen könne, weil er mich dort nicht besuchen dürfte. Dies versprach ich, verschob es von einer Zeit bis zur andern, wie meine Zeichnung anwuchs, und endlich war es zu spät. In fünf bis sechs Wochen war ich fertig. Mein Vater hatte eine sichtbare Freude, die saubere Zeichnung zum ersten Male zu sehn, und als ich sie dem Gewerke zur Beurteilung vorlegte, gab er ein kostbares Gastmahl. Er hatte mich weder so fertig im Zeichnen noch in der Distribution gehalten und war an dem Tage ganz ungemein vergnügt, obwohl er nicht einmal wußte, daß ich während dieser Zeit ein ganzes Oratorium von Hasse abgeschrieben und eine Kantate komponiert hatte, meinen ununterbrochenen Briefwechsel mit Janny, die ich alle Tage sprechen konnte und dennoch täglich an sie schrieb, ungerechnet. – Von dem Königlichen Hof- und Schloßbaumeister Naumann, dem das Gewerk die Meisterzeichnungen zur offiziellen Beurteilung vorlegen mußte, erhielt ich ein [höchst schmeichelhaftes] Zeugnis über die gute Anlage und saubere Arbeit, und meine Freude hätte grenzenlos sein müssen, wenn mir nicht das vermaledeite Mauern wieder bevorstand, denn nun mußte ich noch ein Haus in Natura bauen, an dem ein Eckpfeiler, ein Rauchfang, ein Kussen und ein Kreuzgewölbe von meinen Händen gemauert werden sollten; wenn ich daran dachte, so war mir's, als wenn ich sollte mit Ruten gepeitscht werden.

Ein solches Haus war nun bereits vorhanden, dafür hatte mein Vater gesorgt; leider war dieses Haus so[141] groß, daß ich keine Hoffnung sahe, in diesem Jahre damit fertig und Meister zu werden. Meine Ungeduld war überschwenglich; ich war beinahe fünfundzwanzig Jahre alt, und alle meine Gedanken waren wieder nach Italien gerichtet. – Der Bankier Itzig ließ dieses Haus auf seiner Meierei vor dem Schlesischen Tore aufbauen. Es sollte hundertunddreißig Fuß lang, fünfundvierzig Fuß tief, drei Geschosse hoch und durchaus massiv gebauet werden. Es war schon im Monate Junio, und ein kleineres Haus war für dieses Jahr nicht mehr zu bauen vorrätig.

Ich legte mein Haus an; mein Vater unterstützte mich gewaltig, indem ich täglich fünfzig bis sechzig Leute unter mir hatte und alles fordern durfte, was ich für notwendig hielt.

Wenn ich hier die Not und Widerwärtigkeiten betrachtete, womit ich meine erste Kirchenmusik aufgeführt hatte, wobei mir jedes neue Hindernis ein neuer Sporn gewesen war, ohne Hilfe, als die ich mir selber gab, – so konnte ich kaum aus mir selber klar werden, mit welcher tiefen Trauer und undankbaren Kälte mich nun alle diese Hilfe in manchen Stunden erfüllte, indem mir dies alles vergeblich und unangewandt schien, das unmöglich zu etwas Gutem führen könne.

Meinen Vater, der jetzt immer freundlicher gegen mich wurde, liebte ich mit überschwenglicher Kindlichkeit; meine Tränen flossen, wenn ich an seine Zuneigung und Aufmerksamkeit dachte; er hoffte, sich durch diese letzte Anstrengung aller seiner Kräfte in mir eine Hilfe seines herannahenden Alters und Fortpflanzung seines guten Namens zu erbauen.

Mein Gemüt war aber von entgegengesetzten Trieben hin und her gerissen. Unzerstörbar war jedoch die Gesundheit[142] meines Leibs und der Seele. Ich stürzte mich in die Arbeit aus Pflicht, aus kindlicher Treue; ich wußte selbst nicht zu sagen, warum. Da der Bau von meiner Wohnung über eine halbe Meile entfernt lag, so mietete ich mich dort außer dem Tore ein, um den weiten Weg zu gewinnen. Doch was half das alles mir? Nach Feierabend ging ich zu Jeanetten, die bei ihren Eltern an dem entgegengesetzten Ende der Stadt den Sommer über in einem G arten wohnte. Und seit vier oder fünf Monaten ging ich, wenn Fasch in Potsdam den Dienst hatte, jeden Freitag nach Potsdam und nahm meine Lektion dort, von dannen ich jedesmal an demselben Tage wieder zurücke kam. Fasch, der von meinem jetzigen Berufe nichts wußte, glaubte, daß ich in Potsdam Geschäfte besorgte, weil ich nicht widersprach, wenn davon die Rede war, und sah mich gern, weil ich Fortschritte machte und er dort mehr Muße hatte als in Berlin. Da dies aber den ganzen Sommer hindurch regelmäßig geschah, so sagte er einst, er müsse gestehn, daß ich mir seinen Unterricht etwas kosten ließ(e), wenn er die Zeit, die Zehrung und das Fuhrlohn rechne, oder ich müsse gute Geschäfte in Potsdam machen. Er wußte nicht, daß ich die Reise hin und her zu Fuße in einem Tage vollbrachte und am Abend wieder auf meinem Bau war. Die Sache war mir übrigens keines Weges zu ermüdend. Des Morgens ging ich nach drei Uhr von meiner Meierei, und zwischen acht und neun Uhr war ich in Potsdam in Faschens Stube. Meine Lektion währete bis gegen eilf Uhr, dann ging ich noch in Sanssouci oder auf den Bergen umher. Gegen Mittag hatte ich mir die Mahlzeit vor dem Berliner Tore in einem guten Gasthofe bestellt, und nach dem Essen ging ich bequem wieder nach Berlin,[143] wo ich denn abends bei Janny noch sehr lange munter war. Mein Vater und Mutter und überhaupt niemand wußten von der Sache. Der eigentliche Vorteil aber des Zusußgehens bestand in der angenehmen Einsamkeit, denn auf dem Wege arbeitete ich meistenteils meine Stücke aus, die ich nachher desto geläufiger niederschrieb.

Anfänglich hatte ich einigemal ein Fuhrwerk gemietet, doch der Fuhrmann ließ mich warten; auf dem sandigen Wege kam ich nicht vom Flecke; ich kam spät nach Potsdam, wo dann am Tore unter der Regierung Friedrichs des Großen des Examinierens kein Ende war: woher ich komme, wie lange ich mich aufhalte, was ich für Geschäfte habe, und dergleichen. Allen diesen Unbequemlichkeiten wie auch den bedeutenden Kosten des Fuhrwerks entging ich auf meine Art, bis endlich Fasch die Sache merkte und keine Bezahlung mehr für seinen Unterricht annehmen wollte.

Durch diese kontemplative Tendenz meiner Fußreisen aber fand sich noch ein Vorteil an, der mir bald sehr nützlich wurde: durch den Mangel eines Notenblatts oder Klaviers ward ich mit dem wesentlichen Nutzen des doppelten Kontrapunkts bekannt. Aus den Ideen, welche entweder schon vorhanden waren oder zufällig durch vorübergehende Gegenstände erregt wurden, entstanden Melodien; durch Umdrehen oder Verkehren dieser Melodien entstanden neue analoge Ideen, und ich merkte, daß der Kontrapunkt für ein gutes Naturell ein zuverlässiges Medium des Interessanten, Schönen und Tiefen, besonders aber eines reinen Stiles sei. Ein sicherer Geschmack und Gefühl des Wahren muß in aller Kunst der Grundstein sein und kann daher auch hier nicht entbehrt werden, und so hoben sich mit einem Male alle Zweifel[144] und Mißverständnisse, welche ich gegen den unschuldigen Kontrapunkt hatte vorbringen hören. So verflog mir eine Zeit, die mir außerdem würde unerträglich gewesen sein. [Es war das nämliche Jahr (1783), als ein Erdbeben das unglückliche Messina und Kalabrien verwüstet hatte.]

Durch mein Hin- und Herlaufen nach und von Potsdam aber entstand noch eine interessante Bekanntschaft. Einstmals besuchte ich den Hauptmann von Stamford, der bald mein intimer Freund ward. Er führte mich in das Haus des Anno 1777 verstorbenen berühmten Fagottisten Eichner, wo er täglich zu Mittage speiste, und ich ward sein Gast und einmal für allemal eingeladen, wenn ich in Potsdam war. Eichner hatte eine Frau und eine Tochter hinterlassen, welche letztere Sängerin des damaligen Kronprinzen Friedrich Wilhelms II. war. Seit dem Abgange der Madame Mara im Jahre 1781 sang sie auch in der großen italienischen Oper zu Berlin die zweiten Rollen.

Dies Mädchen war eine treffliche Natur; ihr Geist und Körper waren von einer Bewegsamkeit und Biegsamkeit, daß jeder, der für etwas gelten oder sich angenehm unterhalten wollte, dies Haus besuchte.

Maria, so hieß dies Mädchen, ward von ihrer Mutter nach ihrer Art scharf gehalten, doch regierte jene das Haus, und die Mutter hielt alles Schöne und Angenehme, was hier geschahe, für ihr eigenes Werk, ja wenn es darauf ankam, machte sie die jugendlichsten Spiele und Kindereien mit, um Marien, die sie gleichwohl sehr liebte, zu gefallen. Da sowohl Mutter als auch die Tochter eine bedeutende Pension bezogen, bewohnten sie das ganze Haus allein, welches einen artigen Garten hatte. Die übrigen Hausgenossen bestanden in einer alten Köchin,[145] einem Hausmädchen, einem Gärtner und einer Kammerjungfer, die Grete hieß und die einen höchst sonderbaren Aufzug machte. Lang,. hager, pockennarbig, mit einem gelben, behaarten Gesichte, kleidete sich diese Grete und putzte sich durch abgelegten Staat und kleine Geschenke, welche sie von Marien zu dem Zwecke erhielt, auf sonderbar romantische Art in mannigfaltigen Farben nicht ohne Geschmack aus, so daß sie in diesem Hause sich ausnahm wie eine Art von Negerin in der Suite einer vornehmen Herrschaft.

Für Marien war ich bald eine interessante Bekanntschaft geworden. Sie erfand sehr artige Melodien zu Gedichten, welche Stamford brachte und die zum Teil von seiner Arbeit waren, und sang sie mit unaussprechlicher Anmut; aber sie war nicht imstande, sie aufzuschreiben. Diese Arbeit verstand ich, und nun war ich hier ein angenehmer Gast.

Mein erster Vorteil von dieser Bekanntschaft war die Gelegenheit, die Kammermusik des Kronprinzen zu besuchen, wo zum Exempel die Haydnschen Sinfonien in der höchsten Vortrefflichkeit ausgeführt wurden. Das große Konzert war Sonntags, und nun ging ich auch öfter Sonntags nach Potsdam, hörte die Musik, und nach der Musik ging ich zu Stamford, wo ich ein Bett fand und die Nacht bleiben konnte.

An einem Sonntage sollte Händels »Messias« in Potsdam aufgeführt werden. Um diesen Tag recht voll zu genießen, ging ich Sonnabends abends nach sieben Uhr von Berlin ab, um die Nacht in Potsdam noch ordentlich zu schlafen. Ich kam gegen Mitternacht an, vermißte aber beim Schlafengehn meine Brieftasche, welche mir Jeanette verfertigt hatte, und worin eine Menge Briefe von[146] ihr waren. Ich hatte diese Brieftasche etwa eine Meile von Potsdam eines gewissen Geschäfts wegen auf die Erde gelegt, damit sie mir nicht entfallen sollte, aber vergessen, sie wieder aufzunehmen. Nun war ich in großer Sorge, und aus dem Schlafen konnte nichts werden. Morgens mit den ersten Strahlen der Sonne ging ich daher von Potsdam zurück, meine Brieftasche zu suchen, deren Rosenfarbe mir entgegenstrahlte, wie ich in ihre Nähe kam und darüber eine große Freude hatte. Nun ging ich nach Potsdam zurück, hatte den Tag viel Vergnügen mit Marien, und das Oratorium, welches die erste Händelsche Musik war, die ich hörte, machte einen großen Eindruck auf mich. Nach der Musik ward das Abendessen bei Marien genommen, wo man sehr munter war; es fiel mir jedoch ein, in der schönen, heitern Nacht nach Berlin zu gehen, weil ich am andern Tage bei guter Zeit hier sein wollte.

Meine Zurückreise ward unternommen, doch kaum war ich über die Brücke gekommen, welche bei Glienicke über die Havel geht, als sich der Horizont bezog und ein starkes Donnerwetter, von gewaltigen Regengüssen begleitet, herauszog und mich bis auf die Haut durchweichte. Da ich den Weg genau kannte, so war ich wegen der Finsternis nicht eben besorgt, doch fühlte ich zum ersten Male, daß ich ohne Waffen war, und ein ungelegener Schauer ergriff mich, als ich daran dachte, daß auf diesem Wege vor mehrern Jahren ein Mann war ermordet worden, wovon das Zeichen übereinandergeworfenen Reisholzes am Wege lag. Es war ein fatales Gefühl der Hilfelosigkeit, und ich wußte in diesem Augenblick nichts weiter zu tun, als daß ich meine Handschuh anzog, die ich in der Tasche hatte. Indem ich meinen Weg[147] fortging, erblickte ich in der Entfernung den Schein einer Laterne. Ich verdoppelte meine Schritte, um diese Reisegesellschaft einzuholen, konnte jedoch dem Lichte nicht näherkommen, bis ich, vom starken Laufen ganz erhitzt, meinen gewöhnlichen Gang wieder annahm. Hier bemerkte ich, daß ich nicht auf dem rechten Wege sein könne. Der Regen dauerte langsam fort, und die Gegenstände wollten sich in der dichten Heide nicht erkennen lassen. Abends vorher hatte ich vier Meilen gemacht, die Nacht wenig geruht und war morgens wieder zwei Meilen gegangen; den ganzen Tag war ich in Bewegung gewesen und ich fühlte Müdigkeit. Der Morgen konnte so gar weit nicht sein, und um in der Finsternis nicht weiter in die Wildnis zu gehn, setzte ich mich auf einen breiten Granitstein, bei dem ich eben hielt, um die Morgenröte hier zu erwarten. Ich hatte ein starkes Einlegmesser bei mir; dies zog ich hervor, hielt es fest als Waffe in der Hand, wenn mir etwas widerfahren sollte, und so saß ich. Und so schlief ich ein. Mir träumete, ich kam in Jeanettens Stube, wohin ich mich gegen etwas retten wollte, das mich verfolgte. Sie saß und malte etwas, das sie mir nicht zeigen wollte; überhaupt schien ihr meine Erscheinung nicht angenehm zu sein. Adele saß an ihrem Klaviere und spielte, doch das Klavier hatte die Gestalt eines Kastens, worin Orangenbäume gepflanzt waren. Sie spielte Variationen, die ich ihr gemacht hatte, so schön, daß ich sie kaum erkennen konnte. Der Vater trat in die Stube und tadelte die Variationen. Gleich darauf trat Marie in das Zimmer, lachte unmäßig und fiel tot zur Erde. Grete kam gerannt, bellete und pelferte wie ein Hund, riß von dem einen Baume eine Orange ab und warf nach Jeanetten. Die Frucht fuhr[148] gegen die Wand und barst auseinander, daß die Teile von beiden Seiten flogen und einen unausstehlichen Geruch gaben. Grete sah bunt aus wie eine Eidechse, warf mir angenehme Blicke zu und ruschelte zur Tür hinaus. Bertha erschien; zur Tür war sie nicht hereingekommen; sie hatte Blumen in der Hand, die ich nicht kannte. Mit der andern Hand zog sie Marien zu sich, und in dem Augenblicke waren beide verschwunden.

So wachte ich auf. Die Sonne war in voller Schönheit da, und nun konnte ich bemerken, daß ich auf dem rechten Wege auf einem wohlbekannten Steine saß, den ich von Jugend an unzählige Male gesehn hatte; und so setzte ich meine Reise fort.

Durch die Erhitzung, Nässe und das kalte Nachtlager hatte ich mir eine starke Unpäßlichkeit zugezogen, durch welche ich mich jedoch nicht von meinem Bau entfernen ließ, weil ich fest entschlossen war, das große Haus vor dem Winter unter's Dach zu schaffen.

Zu meiner übrigen Tätigkeit fand sich nun das Bedürfnis ein, zu lesen. Jeanette hatte bald die Entdeckung gemacht, daß ich die bedeutendsten neuern Schriftsteller nicht kannte. Sie sprach häufig von und aus Büchern, ich konnte dagegen nur aus dem Herzen antworten, wenn mir solches eine Antwort gab; außer dem war ich stumm, wenn nicht die Rede von Musik war. Sie gab mir nun Lessings und Wielands Schriften zu lesen. Ihre Leidenschaft war heftig, sie liebte mit Ungestüm und verlangte das nämliche von mir. Ich arbeitete mich ab und war geteilt zwischen Neigung und Geschäften; sonst war ich ihr ergeben und wäre durchs Feuer gegangen um sie. Sie warf mir Kälte vor, zog in ihren Briefen gegen die Männer los und schalt sie unwürdig der Liebe[149] eines liebenden Weibes. Dies gab manchen kleinen Streit. Endlich gab sie mir meines nachherigen göttlichen Freundes Goethe Schriften zu lesen. Das erste waren die Leiden Werthers. Schon seit mancher Zeit hatte ich die Sensation dieses Buchs bemerkt und kannte es noch nicht. Es lag eine gute Weile bei mir; ich kann sagen, ich fürchtete mich, es zu lesen, da Jeanette mir in allen ihren Briefen die Liebe des jungen Werther groß und gewaltig pries. Er allein schien ihr ein wahrer Mensch, ein würdiger Liebhaber, und Lottens ward mit Kälte gedacht. Eines Abends legte ich mich sehr ermüdet auf mein Bett. Neben demselben lag das Buch. Ich nahm es und las die kurze Vorrede, welche mir wie Balsamtropfen auf dem Herzen zerfloß. Ich las weiter, und fort war meine Müdigkeit, mein Schlaf. Es war meine Denkungsart, mein Ausdruck, meine Schreibart, die ich hier fand. Das Büchlein war längst mein Freund, wie ich keinen hatte und keinen zu suchen wußte, und der Verfasser mußte es auch sein. Auch ich war verpflanzt auf fremden Boden, liebte, was nicht heimisch war, und ganz natürlich ging die Wirkung des Buches in meine Briefe an Jeanetten über, und nun schwärmte ich mit ihr zugleich über ein en Gegenstand. Doch sie sprach von Sterben, von gemeinschaftlicher Aufopferung: das brachte mich zum vollen Gefühl meines Lebens, und nun stritten wir wieder. Ich stellte ihr das Leben vor als ein Kapital, das Zinsen tragen könne, und die Unsterblichkeit als die Fortsetzung eines lebendigen Zustandes. Ich tadelte den, der sich selber das erste und letzte Mittel entriß, etwas für seine Liebe zu tun. Hätte Werther Alberten umgebracht um Lottens Besitz, so hätte er allerdings ein Verbrechen begangen, allein dies wäre doch eine Tat[150] gewesen. Man müsse nichts allein besitzen wollen, was man nicht allein erwerben könne.

Dagegen sagte Jeanette: Werthers Aufopferung sei eine Heldentat und lasse sich deswegen nicht nach allgemeinen Moralgesetzen beurteilen. Dies konnte ich zugestehen, indem ich die Nachahmung solcher Heldentaten verwarf, woraus nichts entstehn kann; einen Liebhaber, der Werthern nachahmen könne, verglich ich mit einem Maler, der Bilder kopiere und eben deswegen kein Künstler heißen könne.

Wir gerieten über dies und ähnliche Kapitel in Streitigkeiten, ohne einig zu werden, und mein Beispiel, was ich an der Malerei gezeigt hatte, war etwas übel aufgenommen worden, denn Jeanette, die selbst angefangen hatte zu malen und Bilder kopierte, meinte, ich solle hübsch bei der Sache bleiben und nichts in den Streit mischen, was nicht darein gehörte. Die Malerei habe mit Werthers Geschichte soviel gemein wie die Musik. Selbst die Künste hätten nichts miteinander zu schaffen; jedes müßte für sich sein und beharren. Ich empfand wohl, wohin das gehörte und widersetzte mich tapfer, indem ich behauptete: es gebe nur eine Kunst; die Malerei oder Musik seien nur verschiedene Felder, Teile dieser allgemeinen Kunst; man müsse die Grenzen kennen, aber auch wissen, wie's drüben aussähe; ja, der Maler, welcher musiziere, sowie der Tonkünstler, welcher male, das seien die echten, rechten Künstler; dagegen der trockene historische Abschreiber wie der Notensetzer niemals aber im Geist und (in) der Wahrheit ein Künstler genannt werden könne. Das Reden und Schreiben hierüber ward so ernstlich, daß sich Jeanette zuletzt ihre Maler und schönen Geister, die täglich ab- und zugingen, zu Hilfe nahm;[151] auch der Vater mischte sich in die Sachen, und diese waren alle gegen mich. Ich hatte nur Adele auf meiner Seite, die aber fast beständig schwieg und mir bloß Beifall zulächelte, wenn ich recht glühend sprach. Man forderte mich auf, zu erklären, was es denn heiße: ein Maler solle musizieren. Benda und mehrere Musiker hätten das Brüllen des Löwen, das Zischen der Schlange, Krähen des Hahns musikalisch auszumalen gesucht; ob ich denn dies für schön halte, nicht in den allgemeinen Tadel solcher Pinseleien einstimme? – Ich sahe wohl ein, daß ich nicht verstanden werden konnte, und verstummte. Man triumphierte, und ich mußte manche Neckerei darüber anhören. Da mir's jedoch schien, als wenn ich auch wohl Unrecht haben könnte, wenn ich Dinge in der Tiefe ahnete, die von andern obenauf mit leiblichen Augen bemerkt werden wollten und um desto schwerer zu bestreiten waren, so ging mir diese Sache gewaltsam im Kopfe herum. – Indessen komponierte ich für Adelens Stimme das Wielandsche Gedicht »Serafina«. Das Gedicht schien meinem Zustande paßlich; auf diesen Grund dachte ich meine Figur so zu gestalten, ihr Bild so erkennbar herzustellen, daß man von dem Ton der bloßen Stimme ergriffen, gerührt und hingerissen werden solle. Meine Szene war im Scheine des Vollmonds; auch diesen wollte ich darstellen, daß jeder seine Nähe fühlen müsse. Adele sang das Stück, wie sie sollte; auch sie war in ähnlicher Lage, indem sie einen Mann liebte, den sie nicht sehn durfte. Das Stück ward produziert und gelobt, doch von meinen schönen Heimlichkeiten erriet kein Zuhörer etwas, das er hätte wieder verraten können, als Jeanette, die meine Intention kannte und sich manchmal darüber lustig machte, welches mir bitter wehe tat[152] und mir ihren Vorwurf erneuerte, daß ich sie nicht heiß genug liebte. Ich gab mir (wie es auch klingen mag) nach meiner Art wirklich Mühe, um Jeanetten von meiner Liebe zu überzeugen, was sie denn geschehen ließ.

Seit einiger Zeit kam ein Maler in das Haus, der bei Tische öfter gegen das Hinlaufen der Deutschen nach Italien deklamierte, indem er behauptete, was man nicht dahin bringe, könne man weder dalassen noch wieder mitbringen; die Natur sei überall, und was ein guter deutscher Künstler in Italien lernen könne, könne er auch zu Hause vollkommen ebensogut lernen; er selber, setzte er einst hinzu, sei in Italien gewesen und wisse davon am besten zu sagen. Ich konnte mich nun nicht mehr halten und erhub ein so unbändiges Gelächter, daß meine Unbescheidenheit eine große Unzufriedenheit bewirkte, die mir vielleicht übel würde bekommen sein, wenn der Schwätzer so viel Herz und Eifer für die Kunst gehabt hätte als ich. Er nahm jedoch den Ton des wohlgezognen Mannes gegen einen Jüngling an, und nach aufgehobener Tafel fragte er mich ruhig, was ich gegen seine Meinung einzuwenden habe, da ich nie in Italien gewesen sei? – Ich sagte, eingewendet hätte ich ja nichts; gelacht aber hätte ich, indem ich mir in dem Augenblicke vorgestellt hätte, wie possierlich ich mir selber vorkommen würde, wenn ich nach meiner Zurückkunft aus Italien ein solches Geständnis vor mir abzulegen gezwungen sein würde. Übrigens sei ich seiner Meinung nicht entgegen und überzeugt, daß man nach Italien etwas mitzunehmen habe, was sich jedoch leicht transportieren lassen werde. Hierüber beruhigte sich der Pinsel völlig, und wir waren den Abend noch sehr aufgeräumt.

Ich war um die jetzige Zeit wirklich vergnügt. Mein[153] Bau ging gut, und vor dem Winter hoffte ich noch Meister zu werden; doch bemerkte ich an Jeanettens Liebe einigen Nachlaß. Ihre Briefe, die sonst voller Glut und wirklich schön waren, singen an wortreich und verlegen zu werden. Sie schrieb jetzt öfter französisch, und von Italien war keine Rede mehr. Ich war arglos genug, dies alles auf die Rechnung meines geschäftigen Treibens zu schieben und mir allein die Schuld beizumessen, gestand ihr auch übrigens gern zu, was sie gern hörte, daß Männer so nicht lieben können. Doch schrieb ich ihr täglich [und unterhielt einen eignen Burschen, der bei sonstiger Ungelenkigkeit der beste Briefträger von der Welt war,] und unterrichtete sie von dem Fortgange meines Baues, woran sie gar zu wenig Anteil nahm, obgleich ich selbst ihr sorgfältig verschwiegen hatte, mit welcher großen Anstrengung meiner sämtlichen Kräfte ich meinem lieben Vater dies saure Opfer brachte.

An einem Sonntag ging ich mit Adele allein im Garten auf und ab, die mir ihr gepreßtes Herz ausschüttete. Als ich ihr tröstlich zugesprochen hatte, kam das Gespräch auf Jeanette. Ich gestand, daß ich Jeanetten nicht mehr so fände wie sonst; meine Neigung zu ihr vermehre sich, und die ihrige schiene abgenommen zu haben. Adele sagte, sie halte mich für stark genug, Erfahrungen zu bestehn, die ihren Mann forderten, aber sie sähe mit tiefer Betrübnis die Zeit kommen, da sie eines so gefälligen Freundes, als ich sei, werde entbehren müssen. Ich suchte sie aufzuheitern, indem ich sagte, sie könne ja die Reise mitmachen nach Italien und werde hoffentlich bei ihrer Schwester und mir nicht schlechter aufgehoben sein als in dem Hause ihrer Eltern. – »Ach, mein Freund«, rief sie aus, »glauben Sie denn noch, daß[154] Jeanette mit Ihnen wird nach Italien gehn?« – »Ins Feuer geht Jeanette mit mir!« antwortete ich, »und wehe dem, der mich etwas anderes will glauben machen!« – Sie fuhr vor Schreck zusammen und schwieg erst. Dann fing sie wieder an, von ihrer unglücklichen Liebe zu reden, bis wir zurück zur Gesellschaft kamen.

Beim Zuhausegehen fehlte es mir nicht an Muße, Adelens Rede zu überlegen; ich erschrak davor. Sollte dir, dachte ich, dies Unglück widerfahren? Soll es um deinetwillen keine treue Seele mehr in der Welt geben? Es wäre entsetzlich! – Indessen faßte ich hier auf der Stelle einen festen Entschluß. Du hast, sagte ich mir, zwei Dinge vor dir: den Bau des Hauses und den Unterricht bei Fasch. Wirst du in diesen Dingen gestört, so bist du nicht mehr ganz, und alles geht nicht mehr vonstatten, und du kommst endlich um deine Reise nach Italien. So beschloß ich, auf meinem Wege fortzugehn und mich nichts anfechten zu lassen, bis mein Bau fertig sei; dann werde sich alles lösen.

In meiner Musik war ich unterdessen ernsthaft fortgeschritten, und Fasch fing an, mir aus freien Stücken seine Zufriedenheit zu bezeugen. Anfänglich hatte er mich machen lassen, wozu ich Lust hatte; jetzt aber trieben wir die ordentliche Schule, welches mir anjetzt umso lieber ward, je leichter mir die Arbeit abging. Eine Zeit lang hatte ich vierstimmige Choräle geschrieben, dann sahe ich mich im fünfstimmigen Satz um; dann gingen wir zu den Kontrapunkten über, von diesen zum Kanon, der mir gewaltige Freude machte, weil ich diese Tierchen auf meinen einsamen, sandigen Spaziergängen nach Potsdam ausheckte und darin ganz gewandt wurde. Zuletzt hatten wir uns an den dreistimmigen Satz gemacht,[155] den ich aber nicht wie das gewöhnliche Trio für Instrumente, sondern mit lauter Singstimmen auf Textworte üben mußte, welches denn schon eine der schwersten Arbeiten war. Von hier war ich auf die sogenannten Charakterstücke und französischen Tänze übergegangen, und damit sollte, was man eigentlich die Schule nennt, beschlossen und die Fuge angefangen werden, welches ich mir denn vorbehielt, bis ich etwas mehr in Ruhe sein möchte. –

Meine Kreuzgewölbe und Rauchfänge waren endlich vollendet, und am 1. Dezember des Jahres 1783 ward ich auf meinen angefertigten Meisteraufgaben zum Meister gesprochen und aufgenommen. Ein kostbares Gastmahl krönte diese Feierlichkeit, und nun hätte ich können der vergnügteste Mensch unter der Sonne sein. Mein Vater wartete nur darauf, mir das Handwerk mit seiner bedeutenden Kundschaft zu übergeben, die das ganze Jahr vollauf Reparaturarbeiten gab, ohne die neuen dazukommenden Bauten. Jedoch war mir nie so übel zu Mute gewesen als eben jetzo. Ich war unzufrieden, ich trauerte, ohne recht zu wissen, warum, wozu noch folgender Vorfall kam:

Ich besaß einen braun getigerten schönen Hühnerhund, den mir Jeanette geschenkt hatte, und war sehr an dieses Tier gewöhnt, das mir gleichwohl vielen Verdruß verursachte, weil meine Mutter es nicht leiden konnte; denn es zerfraß meine Wäsche und Kleidungsstücke, wenn solche auf dem Stuhle lagen, und vor kurzem hatte es einen von Jeanettens Briefen, welcher vom Tische gefallen war (es war der erste ihrer Briefe), gänzlich aufgefressen. Dieser Hund ward krank und zehrte so ab, daß ich mich[156] genötigt sah, mit ihm zum Scharfrichter Brand zu gehn, der als ein geschickter Tierarzt bekannt war.

Der Mann gab mir Arzeneien und Verhaltungsregeln, welche ich aufs genaueste befolgte, und täglich ging ich mit meinem Hunde zu ihm, wodurch mich der alte Mann liebgewann und mir vieles von seinen Taten und Faten erzählte, mich auch gelegentlich mit seinem ganzen richterlichen Apparat bekannt machte. Mein Hund ward bald so schwach, nicht mehr mit mir gehen zu können, weshalb ich ihn zum Scharfrichter tragen mußte, der mir endlich sagte, er sehe wohl, wie sehr ich den Hund liebte, aber er könne mir wenig Hoffnung zur Besserung geben. Übrigens solle ich vorsichtig sein und ihm den Hund dort lassen, weil sein Übel ansteckend sei für andere Hunde sowohl als auch für Pferde; er wolle sein Möglichstes tun, um den Hund herzustellen. Dies schlug ich ihm rund ab und erklärte, daß ich den Hund wieder mitnehmen müsse. Endlich sagte er sehr gelassen und mitleidsvoll, er dürfe den Hund nicht wieder in die Stadt lassen. Der Hund habe den Rotz, und dies könne eine Seuche über die Stadt bringen, wofür er verantwortlich sei. Übrigens könne er mich versichern, daß der Hund morgen nicht mehr lebe.

Ich war untröstlich über dieser Nachricht, meinen Augen entstürzten bittre Tränen, und der alte, gute Mann setzte sich zu mir und weinte mit mir über meinen Hund, welcher auch am andern Tage starb. Ich würde diesen Umstand nicht berühren, wenn ich den bittern Schmerz vergessen könnte, welchen mir der Tod dieses Hundes gab. –

Jeanettens Betragen gegen mich wurde immer gemessener; ich erhielt seltener Briefe, und diese waren von[157] trauriger Kälte. Eines Nachmittags ging ich zu ihr und fand sie allein. Ich forderte eine feste Erklärung, was dieses ihr Betragen bedeuten solle. Ob sie sich für beleidigt halte, und was sie verlange, das ich für sie tun könne. Sie fing eine lange Erzählung an, von der ich nichts verstand. Endlich fragte ich sie, ob sie einen andern liebe. Sie könne versichert sein, er solle mir dafür büßen. Ich hatte, indem ich dies sagte, einen sehr großen eisernen Nagel, der auf dem Fenster lag, in die Hand genommen; und indem sie sagte, ihr seien die Augen aufgegangen, sie könne es nicht über ihr Herz bringen, mich unglücklich zu machen; ich sei ein braver Mensch, sie müsse sich schämen, sie sei meiner nicht würdig, – schlug ich den Nagel mit solcher Kraft in das Fensterbrett, daß die Spitze unten durchgefahren war und ich ihn mußte stecken lassen. Sie war davon aufs höchste erschreckt, weinte laut und rief nach ihrer Schwester. »Schlange!« rief ich aus, »ich will Dich und Deine ganze Sippschaft zertreten; aber erst will ich wissen, von wem mir diese Schmach kommt!« – Und so ging ich fort.

Am andern Tage erhielt ich von Adele einen Brief, worin sie mich aufs rührendste bat, ihre gute Schwester nicht zu kränken; sie sei allerdings darinne zu tadeln, mich nicht eher mit dem wahren Verhältnisse ihres Hauses bekannt gemacht zu haben; sie habe jedoch Verschwiegenheit gelobt, welche sie halten müsse, und dergleichen mehr.

Verschwiegenheit gegen mich (schrieb ich ihr zurück), in einer Sache gegen mich, seit Jahr und Tag, sei ein strafbares Vergehn. Um ihre[n]twillen hätte ich mir's in ihrem Hause gefallen lassen, nicht aber um des nüchternen, albernen Künstlergeziefers, was sie um sich her zu versammeln wisse. Sie solle die Kerls mit der Fliegenklatsche[158] verjagen und Strümpfe stricken, als Farben und Zeit an erbärmliche Gesichter wegwerfen, die nichts vom Menschen hätten als die Zeichen seiner Erniedrigung. Der ganze Brief war voll Wut und Galle, welche sich schon seit zwei Monaten angesammelt hatte. Denn die Herren Maler, Kupferstecher und schönen Geister, welche ich dort fand, waren geneigt, ihre Bilderkunst allein für Kunst gelten zu lassen, worin sie sich untereinander treulich beistanden, welches mir großen Verdruß machte; schon deswegen, weil sie mich schlechtweg für einen Dilettanten nahmen, der sich die Beschlüsse der Künstler von Profession müßte gefallen lassen. Daher hatte mich auch ein solcher Haß gegen allen Dilettantismus ergriffen, daß ich überall dagegen offen zu Felde lag und behauptete, daß er der Kunst und allen andern gesellschaftlichen Getrieben gleich gefährlich sei, Künstlermanier in die Sitten überspiele und das Jämmerliche, Halbe und Zahme ertragen lehre. Was der Schüler pfusche, toleriere der Meister, und was diesem denn unter Umständen gut genug wäre, solle der ganzen Welt allemal recht sein. –

Als meine Leidenschaft ausgewütet hatte, ging mein Herz in Traurigkeit über. Es war Winter, feucht und schneeigt. Meine Mutter bemerkte meine immer mehr zunehmende Trübsinnigkeit nur zu bald, und da diese kein Ende nahm, stellte mich mein Vater darüber ernsthaft zur Rede. Er habe gehofft, sagte er, daß zwei Jahre solcher Sorge und Quälerei mir eine heitere Zukunft bereiten werden, und nun, da ich mich verdienter Ehren zu erfreuen habe, ließe ich mich von meiner angebornen Mannheit entfernen, indem ich mich einem kindischen Schmerze über den Tod eines schlechten Hundes überließ.[159] Er schlug mir vor, eine Reise zu meiner Schwester zu machen, die im Magdeburgischen wohnte, und hoffte, dies würde mich erheitern.

Ich trat meine Reise an und fuhr über Potsdam, um mich einige Tage daselbst aufzuhalten. Grete machte mir den Wagen auf. »Sie müssen«, sagte sie, »bei uns absteigen und bleiben. Der Hauptmann (Stamford) ist verreiset und kein Mensch dort im Hause.« – Marie sagte das nämliche, und die Mutter, welche mich sehr wohl leiden konnte, betrug sich, als wenn es bereits abgemacht sei, daß ich im Hause schlafen sollte. Man hatte mir ein Bett in die sehr freundliche Gartenstube gesetzt, welche einen Ofen und einen Kamin hatte. Wir waren sehr aufgeweckt und munter; gegen Abend fanden sich noch einige Freunde ein. Marie sang einige Arien, und man ging auseinander.

Mein Schlafzimmer fand ich aufs beste erwärmt, und Grete hatte mir Kaminfeuer bereitet. Sie war unermüdlich zutätig und heiter, und wenn sie kam und von mir ging, hörte ich sie Stellen aus Mariens Arien ganz schrecklich nachquieken.

Ich hatte mich halb entkleidet vor das angenehme Kamin gesetzt und in tiefe Gedanken an die letzten Begebenheiten versenkt. Erklärbar war mir Jeanettens Betragen durchaus nicht; ich mochte hin- und herdenken, soviel ich wollte. Es blieb mir daher immer der erste Gedanke stehn, sie habe bloß in Ermangelung eines Bessern ihr einstweiliges Spiel mit mir treiben wollen, und mein größter Ärger war jetzt, die Gelegenheiten nicht benutzt zu haben, wo ich sie zur Meinigen hätte machen können, und die mir jetzt ganz absichtlich schienen. Drüber war ich auf dem Stuhle eingeschlummert, als[160] die Tür pfiff und mich wieder erweckte. Grete trat herein und hatte sich auf eine so lächerlich bunte Art reizend gemacht, daß mir augenblicklich mein Traum einfiel, den ich auf dem harten Feldlager des Potsdamer Weges vorigen Sommer geträumt hatte. Sie fing sogleich an zu reden und sagte, sie sei voller Scham über diesen nächtlichen Besuch, den sie jedoch gewagt habe, um mir ein sehr wichtiges Geheimnis zu entdecken, was ich aber um alles in der Welt keinem Menschen wieder sagen solle.

Der erste Eindruck dieser Erscheinung hatte mich wirklich erschreckt und noch mehr verstimmt; ich sagte ihr daher, daß ihr Geheimnis nirgend übler aufgehoben sein könne als bei mir; ich sei entfernt von aller Neugierde, ihr Geheimnis zu wissen. – »Das wollte ich nur hören«, sagte sie. »Nur die Neugierigen plaudern aus und verraten; das weiß ich von mir selber. Wissen Sie demnach: Marie ist nicht mehr frei; Marie ist versprochen mit dem Hauptmanne. Wenn Sie also Absichten haben auf sie, so kommen Sie zu spät. Doch trösten Sie sich! Es gibt der guten Mädchen mehr in der Welt.« –

»Mensch!« rief ich, »bist Du toll, dem [fremden Manne, dem] Gaste Deines Hauses Deine Herrschaft zu verraten? Du verdienst den Scheiterhaufen, Hexe, und wenn Du nicht gleich gehst, stoß' ich Dich in den Kamin und brenne Dich zu Rattenpulver!« –

»Jesus Maria! Wie Sie einen erschrecken können«, rief sie aus; », was soll ich denn verraten?« – »Was ich längst weiß!« antwortete ich. – »Und was die ganze Stadt weiß«, setzte sie hinzu, »nur die Mutter nicht. Ich wollte Ihnen auch nur sagen, daß Sie es dieser nicht sagen sollten.« – »Du hast mir nichts zu sagen, und ich nichts von Dir zu hören! Hebe Dich weg von[161] mir!« – »Ei, wer wird denn so mit einem Mädchen reden? Ich werde Ihnen kein Leids tun, aber ich bitte Sie um Gotteswillen, hören Sie mich an, stoßen Sie mich nicht von sich! Ich bin wahrhaftig ein treues Mädchen, und Sie sollen niemals Ursache haben, wieder auf mich zu schelten!« – »Nun, was soll ich also erfahren? Mach' fort!« – »Ja, wenn Sie mich nicht so erschreckt hätten! Nun weiß ich nicht, wie ich anfangen soll!« –

Das eigentliche Geheimnis bestand nun darinne, daß Grete mir heute nach Mitternacht ihre entschiedene Neigung zu mir förmlich zusagte, als wenn ich schon einmal darum angehalten und sie sich nun entschlossen hätte. Ihre Mutter war eben gestorben, von dieser hatte sie dreihundert Thaler geerbt. Dieses Geld legte sie mir hiermit zu Füßen wie ihre unholde Person, und nun wäre die Sache abgemacht.

Ich war wirklich in die äußerste Verwirrung geraten. Die ganze Geschichte hatte so meinen tiefsten Widerwillen erregt, ja ich fühlte mich so herabgesetzt durch die unerwartete Tollheit des Mädchens, daß ich vor Scham und Ärger auch nicht einmal Nein sagen wollte. Sie sprach noch eine ganze Weile, und endlich ging sie ruhig von mir, indem sie sagte, ich solle es mir reiflich überlegen, denn mit Marien könne doch nichts werden. –

»Jeanette! Jeanette!« rief ich aus. »Wie martert mich deine Untreue siebenfach!« Eine Sache, die ich ihr als einen Spaß würde haben erzählen können, wütete jetzt wie Gift und Stahl in meinen Eingeweiden. Ich sah mich für einen verlornen Menschen an. Eine Grete durfte mir das bieten, weil eine untreue Geliebte mich verließ, für die ich mein Leben zehnfach hingegeben hätte.[162]

Ich konnte nicht einschlafen. Meine Scham über diese völlig unnatürliche Begebenheit wuchs mit jedem Augenblicke. Wo ich mich hier sehn ließ, glaubte ich, würde man mir's abmerken, daß ich ein Verlassener, Verratener wäre, der sich von allen alles müsse gefallen lassen. Ich beschloß daher, keinem Menschen davon zu sagen und andern Tags von Potsdam abzureisen.

Als ich morgens beim Frühstück erschien, sagte mir Marie, des Hauptmanns Kammerdiener sei gekommen und habe seinen Herrn angemeldet, der gegen das Abendessen zurück sein werde. »Sie haben«, setzte sie hinzu, »einen allerliebsten Wagen. Lassen Sie uns dem Hauptmann entgegenfahren!« – Mir war dieser Vorschlag nicht unwillkommen, weil ich gleich weiterfahren wollte. Die Mutter protestierte zwar gegen die Unschicklichkeit der Sache, doch Marie wußte es zu drehen, daß ihr Wunsch erfüllt wurde, und nach Tische fuhren wir ab.

Wir waren dem Hauptmann gegen zwei Meilen entgegengefahren; er kam nicht. Wir kehrten daher zurück, um die Mutter nicht zu ängstigen, weil es schon dunkelte.

Auf dem Rückwege sagte Marie: »Sie kommen mir heute so feierlich vor! Sagen Sie mir, was ist Ihnen? Nicht wahr, es ist Ihnen unangenehm, mit mir zurückkehren zu müssen?« – Ich ergriff ihre Hand und beteuerte, daß ich in keines lebendigen Menschen Gesellschaft lieber sei als in der ihrigen, wo mir noch immer wohl gewesen wäre. Sie solle sich daher keine Sorge machen, denn Zeit hätte ich jetzt für ein ganzes Menschenleben übrig. Geringeres könne ich ihr nicht opfern. – »Das ist ja ganz entsetzlich!« sagte sie, »Sie sprechen ja wie ein Titanensohn! Wer wird solche frechen Blasphemien über seine Zunge bringen! Sagen Sie mir«, fuhr sie fort, – »doch[163] Sie werden mich für sehr unbescheiden halten! Aber ich halte mich verbunden, Sie um etwas zu fragen, das Ihr Wohl betrifft, Sie mögen es nehmen, wie Sie können.« – Ich versetzte schnell: »Fragen Sie, was Sie wollen, nur nichts aus Berlin!« – »Sagen Sie mir demnach: Haben Sie Grete versprochen, sie zur Frau zu nehmen?« – »Gott des Himmels und der Erden!« schrie ich laut, »sind auch Sie von der verdammten Tollheit angesteckt! Wie kommen Sie zu der Frage, die mir die Eingeweide umdreht?« –

Marie lachte auf, daß es wie eine Trompete schmetterte und konnte gar nicht aufhören; sie arbeitete mit den Füßen, schlug mit dem Kopfe auf und nieder und gebärdete sich wie unsinnig. – »Haben Sie denn«, fragte sie, »Greten beschenkt?« – »O ja«, sagt' ich.– »Haben Sie ihr ein kostbar gesticktes Umschlagetuch gegeben?« – »Ja!« – »Ein sehr artiges Halsband?« – »Ja!« – »Haben Sie ihr nicht einen Brief voll Liebesversicherungen geschrieben?« – »Nimmermehr!« – »Und doch, der Brief ist von Ihrer Hand, die ich kenne. Ich habe den Brief und kann Ihnen solchen zeigen! Nein!« rief sie wieder tobend aus, »es ist köstlich, es ist einzig; es ist der erste Roman des Jahrhunderts!« –

Ich war außer mir vor Schreck, denn nun mußte ich Marien einen Teil meines Verhältnisses mit Jeanetten erzählen. Die Sache aber verhielt sich so: Den Tag nachher, als ich Meister worden war, hatte ich das Tuch und das Halsband für Jeanetten gekauft und einen Brief dazu geschrieben, der ihr diese Stücke zueignen sollte. Der Brief lag zusammengefaltet und unversiegelt da, ohne Aufschrift, weil ich ihn selber hatte abgeben wollen. Inzwischen fiel die Szene bei Jeanetten vor, bei welcher[164] ich den Nagel eingeschlagen hatte. Am folgenden Tage kam Grete und brachte mir von Marien aus Potsdam eine Schachtel, worin eine herrliche Baummelone enthalten war, und einen versiegelten Brief, worin nichts als die lieben Worte standen: »Guten Morgen!« Der freundliche Gruß und der Anblick der schönen Frucht wirkten so balsamisch auf mein erzürntes Herz, daß ich Marien dafür einige dankbare Worte schrieb und versiegelt auf den Tisch legte. Ich wußte in diesem Augenblicke des Wohlwollens nicht, wie ich der angenehmen Botin genug Liebes erweisen sollte. Mein Herz war mit der Welt ausgesöhnt. So fielen mir Jeanettens Geschenke in die Augen; indem ich nun das Tuch, worin das Halsband geschlagen war, an Greten schenkte, sagte ich: »Das ist für Ihre Mühe, und da liegt auch der Brief auf dem Tische!« – Grete nahm, was ich ihr gab, und küßte mir die Hand, doch statt des Briefes an Marien, den ich dieser nachher mit der Post nachschickte, eignete sie sich den unversiegelten Brief an Jeanetten zu, der allerdings zu dem eben verschenkten Pakete gehörte und den die erfreute Kreatur an sich selbst gerichtet glaubte, denn an Marien konnte er nicht sein, – und so war die sonderbare Geschichte entstanden. Nun wollte ich auch Gretens nächtlichen Besuch erzählen, sie hatte es aber schon selber getan und mich dabei als einen wahren Teufel geschildert, worüber Marie in voller Lebenslust lachte und nicht satt werden konnte.

Als wir nach Potsdam zurücke kamen, fanden wir den Hauptmann schon. Er war einen andern Weg gekommen, und Marie konnte sich nicht enthalten, nach Tische, da die Mutter nach gewohnter Art eingeschlafen war, dem Hauptmanne die verfluchte Geschichte zu erzählen, welche[165] mir jedoch jetzt leichter war zu hören, da Marie es übernahm, Greten über die Sache zu beseitigen, welche jedoch gewaltige Sprünge machte, ihren Brief im Stiche zu lassen. –

Nach einigen Tagen reiste ich zu meiner Schwester [nach Calbe an der Saale], die sich sehr freuete, mich nach acht Jahren wiederzusehn. Ich hatte von meinem Vater einen Urlaub auf drei Monate bekommen. Als ich aber einige Wochen hier war, die freilich gänzlich der Musik gewidmet wurden, fühlte ich die Einförmigkeit des Lebens an einem kleinen Orte im Winter unter einer Sippschaft von lauter Kaufleuten und Friesmachern nur zu sehr. Denn mein Schwager und meine Schwester, deren Gast ich doch war, die sich daher Mühe gaben, mich zu unterhalten und keine Kosten sparten, mir meinen Aufenthalt angenehm zu machen, sahe ich nicht außer der Mahlzeit. Die ganze übrige Zeit war ich einsam und arbeitsam auf meiner Stube oder bei dem Stadtpfeifer, der ein geschickter Violoncellist war und außerordentlich gut Trompete blies.

Ich komponierte hier einige Sinfonien, Klaviersonaten und ein Violinkonzert. Es ward ein Konzert in dem Hause eines reichen Kaufmanns veranstaltet, wo diese Sachen mit Beifall gespielt wurden und mich als einen Komponisten erkennen ließen. Es waren zu diesem Konzert alle Honoratioren der Stadt eingeladen. Die Tochter des Bürgermeisters sang eine reizende Arie, zu der ich das obligate Fagott auf der Bratsche spielte, die soviel Beifall erhielt, daß sie wiederholt wurde. Nach dem Konzert war ein großes Gastmahl, und nun wurde auch getanzt. Ich tanzte mit meiner Sängerin, und meine Schwester hielt uns für ein treffliches Paar. Das Mädchen war[166] ein blühendes, blauäugiges, zärtliches Wesen von neunzehn Jahren, an Gestalt und Wuchs etwa das Gegenstück zu Alinen; ihre Stimme war rein und angenehm, doch ohne metallischen Klang.

Bis jetzt hatte ich können den ganzen Vormittag ruhig meinen Studien weihen. Von nun an war ich fast keine Stunde allein, und meine Schwester war bemüht, zwischen mir und der Tochter des Bürgermeisters, wo sie auch schon hingehorcht hatte, eine Heirat zu stiften. Ich weiß nicht, was mich abhielt, meiner Schwester eine feste Antwort zu geben, und die Sache ging wirklich weiter, als ich wollte. Wo ich mit dem freundlichen Wesen zusammenkam, wurde die Sache als abgemacht angesehn, und das gute Mädchen selber war sehr vertraut und liebevoll gegen mich, sprach davon, wie gern sie einst Berlin sehn werde, welches jedoch alles meiner Unbefangenheit entging, und meine Schwester sowohl als andere Weiber freueten sich schon auf eine tüchtige Hochzeit, indem sie mir täglich dergleichen Reden zu hören gaben. Endlich kam der Stadtpfeifer zu mir, den man für meinen vertrautesten Freund hielt. Er war abgeschickt, und nun kam die Sache ins Klare, indem ich demselben meine Unschuld darlegte und geradezu sagte, ich sei nicht mehr frei. Von dem Tage an veränderte sich die Luft ganz und gar, und wie der Sommer auf den Frühling, so folgten nun kühle Tage auf warme; selbst in meiner Schwester Hause war es nicht mehr wie vorher. Man war sonst in die Kirche gegangen, um mein Orgelspiel zu hören; der Organist selber gehörte zu meinen Bewundrern; wo ich hinkam, hatte man mein Phantasieren auf dem Fortepiano mit Bewundrung meines Genies bemerkt; man hatte mir Gedichte gegeben, die ich komponiert[167] hatte; alles das war für den kleinen Ort etwas Besonderes, und daher hatte man sich denn auch meine dreiste Sprache überall gefallen lassen, ja man hörte mich mit Aufmerksamkeit an.

Alles das war mit einem Male vorbei. Dagegen fing man an, jeder nach seiner Art, auszulegen und zu deuten, was ich hier oder dort gesagt oder getan hatte.

Bei einem fröhlichen Mahle in dem Hause eines Kaufmanns war der Vater des Schwiegersohns nicht eingeladen worden, weil er falliert hatte. Ich bat um die Erlaubnis, ihn zu holen, weil ich sonst auch nicht bleiben würde. Jedermann hatte dies menschlich und edel gefunden, doch jetzt sprach man über ein so kühnes Betragen.

Der Kunstpfeifer war einst über Land gegangen, um auf einer Bauernhochzeit aufzuwarten. Ich war eben bei der Frau, als ein Bauer eines andern Dorfes erschien und Tanzmusik forderte. Die Frau sagte, ihr Mann sei schon auf einer Hochzeit, sie könne daher keine Musik schaffen, worüber der Bauer ganz untröstlich war und zuletzt sagte: er müsse Musik schaffen, und wenn solche fünfzig Thaler für eine Nacht kosten sollte. Ich entschloß mich, nahm einen Burschen, der im Hause war, und noch einen Bekannten mit, der Violine spielte. Es war nur noch eine schlechte Geige, eine alte Baßgeige und eine Trompete im Hause. Ich nahm meine italienische Violine, setzte mich mit meinen Genossen auf des Bauers Wagen, und wir spielten die ganze Nacht, ohne auszuruhn. Andern Tags baten die Bauern aufs freundlichste, wir möchten diesen Tag noch dableiben und ferner Musik machen; es geschah. Nachmittags kam der Stadtpfeifer mit allen seinen Leuten dazu, und nun[168] waren die Bauern ganz ausgelassen. Wir spielten noch eine Nacht, und der Kunstpfeifer erhielt von den Bauern, was er forderte, da sie uns dann noch die Wagen mit Fleisch, Kuchen und Früchten bepackten und uns so unter lautem Jubel nach der Stadt sandten.

Diese Geschichte war anfangs als ein Zug von Liberalität von Hause zu Hause erzählt und vergrößert worden; jetzt sprach man mit Wegwerfung von dem Geniewesen, welches auf keinen grünen Zweig komme, sich gemein mache, und dergleichen.

Der Kunstpfeifer wohnte auf dem Turme der Stadtkirche einundzwanzig Treppen hoch, wo ich fast täglich war. Sein Lehrbursche war verpflichtet, alle Stunden vom Turme herab in ein kleines Horn zu stoßen. Einst spielte ich mit dem Stadtpfeifer und diesem Burschen ein Trio von Graun. Ich hatte viele Takte zu pausieren, und die Glocke schlug, indem der Bursche spielte. Unterdessen sprang ich hinaus und stieß in der Geschwindigkeit wohl zwanzigmal hintereinander ins Horn. Der Kunstpfeifer kam gleich hergeschrien: »Mein Gott, was machen Sie! Wo ist denn das Feuer?« – Genug, die ganze Stadt lief zusammen, und alles kam auf den Turm, um das Feuer zu sehn.

Auch diese Geschichte wurde jetzt aufgewärmt und als eine unerlaubte Äfferei der ganzen Stadt wiedergekäut.

Obwohl nun ich merkte, daß ich von meiner Liebe zu Jeanetten keinesweges geheilt war, und innig trauerte, wenn ich mir vorstellte, daß wir jetzt schon auf unserer Reise nach Italien müßten begriffen sein, so machte ich doch ernstliche Anstalten, mich dieser ärgerlichen Leidenschaft zu entziehn, denn Jeanette hatte mir meine[169] Briefe zurückgeschickt und die ihrigen dagegen verlangt. Ich entschloß mich daher, nicht wieder nach Berlin zurück, und jetzt allein gerade nach Florenz zu gehn. Zuerst setzte ich einen Brief an meinen Vater auf, der folgendermaßen lautete:

»Ewig geliebter Vater!

Ich weiß nicht, wie ich Ihnen alle [Wohltat und] Vatertreue genug danken soll, die Sie mir seit meiner Kindheit bewiesen haben; dadurch aber haben Sie mein Herz so überschwenglich mit Vertrauen und Liebe gegen sich erfüllt, daß ich nun noch eine, noch die letzte Bitte wage.

Ich habe schon längst ein heißes Verlangen gehabt, die Welt zu sehen, besonders Italien; ich würde Sie eher gebeten haben, mir eine Reise zu erlauben, wenn nicht Ihre Anordnungen meinen Wünschen immer voran gewesen wären. Jetzt habe ich diesen Anordnungen genügt; ich bin geworden, wozu Sie mich haben machen wollen, und ich glaube fest, Sie verzeihen mir, wenn ich von hier sogleich weitergehe und mich einige Jahre in der weitern Welt umsehe, wie andere Menschen sind und andere Sitten. Dazu aber bedarf ich Ihres Beistandes so sehr als jemals. Auf das Handwerk kann ich als Meister nicht wohl reisen; mit den Gesellen zu arbeiten, könnte mir in Berlin übel ausgelegt werden. Daher bitte ich Sie kindlich und herzlich, lassen Sie sich noch diese Kosten nicht gereuen, mich auf meiner Reise zu unterhalten.

Meine Mutter wird weinen, das weiß ich, aber meine Aufführung in fremden Landen und mein Wiedersehn nach der Entfernung wird sie trösten und[170] meine eingebrachten Kenntnisse und Erfahrungen werden ihre letzten Tage mit Freude bestreuen.

Sie können mir diese Bitte nicht versagen, das weiß ich, und daher gehe ich von hier sogleich über Dresden und Prag nach Wien, von da aus ich Ihnen ganz gewiß sogleich meine Ankunft melden werde, weil ich mich hier eine Zeitlang aufzuhalten gedenke.«

Dieser Brief war noch nicht geendigt, als mir mein Vater von Berlin schrieb, es tue ihm herzlich leid, mich in meiner angenehmen Ruhe zu stören, die er vor allen mir am liebsten gönne, aber er müsse mich bitten, auf das schleunigste nach Berlin zu kommen, weil meine Mutter tödlich krank worden sei. Die Aussichten zu den Geschäften des künftigen Sommers ließen sich zugleich so vorteilhaft an, daß er meine Hilfe brauche.

Zugleich sicherte er mir die Hälfte seines Verdienstes als meinen rechtmäßigen Anteil an allen seinen Geschäften zu, aber er bäte nochmals, daß ich sogleich kommen möchte.

Als ich zurück nach Berlin kam, fand ich meine Mutter noch in Gefahr, aber es schien, als wenn der Anblick ihres einzigen Sohnes den Tod vom Leben schied, denn ihre Besserung nahm schnell zu. Sie drückte mich aufs zärtlichste an ihr Herz, so oft sie mich sahe, und bat inständigst, sie und meinen Vater nicht wieder zu verlassen. Zuletzt erklärte sich denn die ganze Sache: Ich war unvorsichtig genug gewesen, dem Kunstpfeifer etwas von dem Vorhaben meiner Reise zu offenbaren, und dieser hatte es meiner Schwester gesagt.

Meine Mutter hatte einen Traum gehabt: Sie stand am Ufer eines Sees bei Potsdam, der Schwielow genannt. Hier sahe sie auf einem leichten Fischerkahn mich[171] unter Wind und Wellen umhertreiben und zuletzt untersinken. Den Morgen darauf erhielt sie einen Brief von meiner Schwester, der ihr das Geheimnis meiner Reise verriet; sie war schon unpäßlich gewesen und fiel nun in die schwere Krankheit.

Ich sah wohl ein, daß mein Vater nicht allein fertig werden konnte. Er war über sechzig Jahre alt und hatte sich eine Menge Arbeit auf den Hals geladen, indem er auf meinen Beistand gerechnet hatte. Er habe, sagte er, mir treulich beigestanden und hoffe, ich werde ihn jetzt nicht stecken lassen.

So war meine Reise nun für diesmal wieder unterbrochen, doch nicht aufgegeben, und da ich hoffte, diesen Sommer viel Geld zu verdienen, so war mein Plan, nachher desto sorgloser in Absicht des Ökonomischen sein zu können. Meine Gewohnheit, früh bei der Hand zu sein, leistete mir ihre guten Dienste. Des Morgens war die Reihe an mir; ich richtete ein, ordnete an, nahm die weitesten Gänge auf mich, und mein Vater bekam jugendliches Feuer. Meine Mutter besorgte mit gewohnter Geschäftigkeit, was im Hause nötig war; gab heraus, schrieb auf, und so gingen die Sachen ihren guten Gang, doch je mehr wir arbeiteten, je tiefer fielen wir in die Arbeit hinein; war eine Arbeit fertig, so waren unterdessen zwei oder drei neue vorhanden, und es war nicht herauszukommen. Und darüber kam das Jahr 1785 heran. Meine Mutter wurde hier vom Schlage getroffen, und dieser Schlag traf das ganze Haus, besonders aber meinen lieben Vater, der sich an eine häusliche Bequemlichkeit gewöhnt hatte, die allein von meiner Mutter ausging.

Die Krankheit meiner Mutter zog sich in die Länge, und meines Vaters Lebhaftigkeit nahm mehr und mehr[172] ab. Die Arbeit ward ihm lästig, das Haus voll Traurigkeit, und sein frisches, reines Gesicht bekam eine kränkelnde, gelbliche Farbe. – Im Jahre 1786 starb Friedrich der Große. Auch dieser Todesfall ergriff ihn sichtbarlich. Mein Vater hatte den König persönlich gekannt. Schon als Gesell hatte er in Sanssouci an den Terrassen und Treibhäusern gearbeitet, und der König hatte sich, öfter mit ihm unterhalten.

Einst fragte ihn der König, was er für ein Landsmann sei. – »Ein Sachse!« war die Antwort. – Der König fragte weiter, was er von seinen Landsleuten halte. Er sah den König an und sagte: »Halten sie viel auf uns, so wollen wir auch auf sie halten.« – Diese Antwort schien dem Könige zu gefallen, welcher nun alle Tage zur Arbeit kam und sich dies und jenes erklären ließ. –

Ich komponierte eine Trauermusik auf den Tod dieses Königes und führte solche in der Garnisonkirche zum Besten der Frankfurter Leopoldsschule auf. Die Musik war nicht ohne Sensation und mußte noch einmal in einem Konzertsaale aufgeführt werden. Mein Vater saß neben dem Professor Engel, der mit ihm über diese Musik sprach, und nachher mußte ich meinem Vater die Haltung derselben selber erklären.

Der Anfang derselben bestand in einer lugubren Intrade aus g-moll im 3/2-Takte. Das volle Orchester mit gedämpften Instrumenten äußerte sich in tiefen, langsamen Schlägen, zwischen welchen eine Oboe und eine Flöte in gezognen Klagetönen miteinander konzertieren. Nachd er Ouvertüre redete die Stimme eines Fremden den Chor an: woher das Klaggetön eines Volkes, das, durch seinen König an Glückund Freude gewöhnt, sonst nur Lieder der Wonne und des Wohlseins habe hören lassen?[173]

Der Chor antwortet nun: eben dieser Held, der Große Friedrich, sei nicht mehr. Die Einzelnen aus dem Chore unterhalten sich nun ferner über seine Taten und seine lange, beglückende Regierung, und zuletzt heißt es, der Olymp habe den Helden aufgenommen und sein Andenken unter die Sterne gesetzt. Den Beschluß endlich macht die Anrufung an den Gotterhobnen, seine Nachfolger und sein Volk nicht mit seiner Weisheit zu verlassen.

»Mein Sohn!«, sprach mein Vater zu mir, »es würde mich jetzt gereuen, Dich nicht Deiner Neigung zur Musik ganz überlassen zu haben, wenn sie sich früher gezeigt, wenn ich sie früher gewußt hätte. Meine Absicht mit Dir war keine geringere, als einen bedeutenden und womöglich den vermögendsten Mann aus Dir zu machen; dazu wollte ich, dazu konnte ich Dir helfen, wenn Gott dazu seinen Segen und Dir das Talent verliehen hätte. Alle Tonkünstler, die ich kenne, haben mir abgeraten, Dich zu einem Tonkünstler zu erziehn, und wenn ich ihre armseligen Umstände betrachtete, so bestärkte sich die Meinung in mir, daß ein Handwerksmann überall besser daran ist als ein Musikus, der alle Augenblicke um Brot seufzt, wenn nur der Tod eines großen Herrn, ein Krieg oder sonst eine Staatsveränderung einfällt.

Ich habe zum ersten Mal erfahren, was eine Musik wirken kann; ich gestehe es, Deine Musik hat mich bewegen müssen, da ich doppelten Anteil daran nehme, insofern es Deine Arbeit ist und den großen König beklagt, den dies armselige Land lange genug zu beweinen haben wird.

Ich kann sagen: ich freue mich, daß ich alt bin und gesehn habe, was ich sahe, denn seinesgleichen werde ich[174] nicht wiedersehn. Ich bin nicht in diesem Lande geboren und erzogen; mein Auge war gewöhnt an gesegnete Ernten, an Nahrung und Betrieb der Land-und Städtebewohner; aber was eine kluge, geschäftige Regierung kann, habe ich auf diesem dürren Boden [gesehn], in einem von Natur magern, durch einen langen Krieg entvölkerten Lande gesehn.

Das kleine Geschlecht hat den Helden geschmäht, weil es ihm den Kaffee teuer bezahlen mußte; es wird ihn einst loben, wenn es Brot und Salz wird teuer bezahlen müssen. Dieser Kaffee, wie jedes unnatürliche Streben nach unheimischen Bedürfnissen, wird die Fugen der Welt auseinanderreißen, und man wird nicht klüger sein, als man war. Ich kann nicht mit Worten sagen, wie mich der Tod des alten Königes ans Herz geht; ich werde ihm bald nachfolgen und finde Trost in dem Gedanken, ihn vor mir zu wissen. Deine Mutter wird wahrscheinlich vor mir dahingehn, das wird mir den Rest geben; ich fürchte mich, allein zu bleiben, darum bitte ich Dich, verlaß mich nicht in meinem Alter!« –

Ich gestand ihm meine Neigung, nach Italien zu gehn, und die heimlichen Anstalten, welche ich von Zeit zu Zeit dazu getroffen hatte; aber ich versprach ihm, solange er lebe, keinem Gedanken an eine Entfernung von ihm mehr Raum zu geben. Dies erheiterte und ermunterte ihn aufs höchste. Es war nach der Mittagsmahlzeit, und wir saßen noch am Tische; er ließ noch Wein bringen, und wir tranken zusammen und stießen an auf die Genesung meiner Mutter und ewige Liebe und Treue. Endlich mußte ich ihm noch das Lied »Nun danket alle Gott« auf dem Flügel spielen, wozu er mit heller Stimme sang, indem seine Augen von Tränen glänzten.–[175]

Unser trefflicher Arzt, der Geheime Rat Selle kündigte uns endlich an, daß das Hauptübel meiner Mutter sich hebe, und er hoffe, das gute Kleeblatt werde noch eine Weile beieinander bleiben können.

In der Stadt wurden die größten Anstalten zur Huldigung des neuen Königes getroffen. Alles war voll Freude und Wonne, und man sahe der neuen Regierung mit Hoffnungen und Aussichten, jedes nach seiner Art, entgegen.

Friedrich der Große war in den letzten Jahren als verdrießlich, mißtrauisch und, wie einige wollten, geizig angesehn. Viele waren unzufrieden; die alten, geprüften Einrichtungen schienen das Leben und die Bewegung verloren zu haben. Man verlangte die Dinge nach einem gewissen neuen Geist der Zeit zugeschnitten, und alles dies wurde nun von der neuen Regierung erwartet.

Auch Stamford, einer der geschicktesten Ingenieure des Königs, gehörte zu den Unzufriedenen. Er hatte ein geringes Gehalt, welches ihn an seiner Verbindung mit Marien verhinderte, und da er nicht mehr hoffte, hier befördert zu werden, hatte er kurz vor dem Tode des Königes seinen Abschied genommen und war in holländische Dienste gegangen, wo er in kurzer Zeit General ward.

[Mein Vater fand einen Beruf darinne, mich als einen jungen Bürger zur Huldigung anzuführen, welches sich indessen nicht tun ließ, da er als Bürgerkapitän paradieren mußte.]

Die Huldigung des neuen Königes war bestellt. Marie war mit ihrer Mutter von Potsdam gekommen, um der Huldigung beizuwohnen, und beide aßen den Abend vor der Huldigung bei meinen Eltern.[176]

Es waren auf dem Schloßplatze Tribünen und Logen für Zuschauer aufgeschlagen. Eine solche Loge hatte ich bereits für mich und Marien nebst der Mutter gemietet. Da es den Anschein hatte, daß man sich am morgenden Tage bei guter Zeit würde einfinden müssen, um durch das Gedränge zu kommen, so beschloß ich, diese Nacht in Mariens Hause zuzubringen, welche in der G egend des Schlosses ihre Wohnung hatte.

Man mußte des Morgens um fünf Uhr bei der Hand sein. Die Friseurs waren so beschäftigt, daß Marie sich entschlossen hatte, angekleidet zu bleiben, um der Sorge für ihren Kopfputz überhoben zu sein.

Die Betten der Mutter und Tochter standen in einem Zimmer. Die Mutter und Grete legten sich nieder. Da kein Sofa vorhanden war, bereitete Marie aus ihrem Bette ein Sofa; die Decke wurde gegen die Wand gelegt. Hier ließen wir uns nebeneinander nieder und lasen wechselsweis Shakespeares »Kaufmann von Venedig« vor. Die Mutter wollte nicht schlafen und hörte anfänglich aufmerksam zu. Die Nacht war kühl. Nach und nach ward die Decke herumgezogen. Man wurde müde; erst lehnte man sich auf die Seite, dann legte man sich bequemer, und die bestimmte Stunde ward glücklich von uns allen verschlafen. Nach sieben Uhr erwachte die Mutter zuerst, sprang aus dem Bett und erhob ein furchtbares Spektakel, da sie uns nebeneinander ordentlich im Bette liegen und schlafen sah. Grete erschien auch und rieb sich die Augen, aber die Mutter war in Verzweiflung und sprach von entsetzlichen Dingen, die unter ihren Augen geschehn sei[e]n. Marie lachte, was sie konnte, als sie zu sich gekommen war; doch die Mutter war nicht zu beruhigen. Sie nannte ihre Tochter ein[177] Mensch, ein Nickel, und je mehr sie lästerte, je toller lachte Marie.

Indessen war es die höchste Zeit, nach unserer Loge zu gehn, welches anfangs die Mutter gar nicht zugeben wollte und endlich auch selber nicht mitging, sondern immerfort schimpfte, bis wir zur Türe hinaus waren. Sie schickte auch die Grete nach, doch diese ward zurückegewiesen, und sie zerstreuete sich unter der Menge.

Eichners waren diesen Mittag zu meinen Eltern gebeten. Nach der Huldigung führte ich Marie zu uns und dann nahm ich einen Wagen, um die Mutter zu holen, welche erst gar nicht von der Stelle wollte. Als ich ihr aber auf Ehre und Pflicht versicherte, wie alles zugegangen sei, beruhigte sie sich und fuhr mit mir, indem sie sagte, dieses Mal wolle sie mir einstweilen glauben, aber sie würde von nun an besser auf der Hut sein.

Marie konnte sich nicht enthalten, die ganze Geschichte bei Tische meinem Vater zu erzählen, der darüber sehr lachte; nur meine Mutter wollte nicht lachen und nahm die Partei von Mariens Mutter ernsthaft. Übrigens kam mir selber die Sache sonderbar genug vor, eine ganze Nacht neben dem liebenswürdigsten weiblichen Geschöpfe im Bette zu liegen. Auch Grete konnte sich der Anmerkung nicht enthalten, was der Hauptmann dazu würde gesagt haben, und erhielt dafür von Marien eine derbe Ohrfeige.

Einige Tage darauf wollte meine Mutter von mir wissen, ob ich gesonnen sei, Marien zu heiraten. Da ich sie aber versicherte, daß das Mädchen mit dem Hauptmanne so gut als verlobt sei, war ihre Neugierde befriedigt, und sie nahm nun Gelegenheit, mich zu erinnern, daß ich jetzt auf eine anständige Heirat zu denken habe.[178]

Meinem Vater gefiel Marie sehr. Ihr frisches, lebendiges Wesen und die reine deutsche Luft, mit der ihr alles aus dem Herzen ging, hatte ihn ganz gewonnen. Zu einer Heirat hatte ich indessen jetzt weniger Luft wie jemals, ob ich gleich das Reisen vor der Hand ganz aufgegeben hatte.

Als ich das nächste Mal nach Potsdam kam, sagte mir Marie, sie sei diesen Abend zu Hofpredigers gebeten und habe den Auftrag, mich mitzubringen. Ich fand daselbst eine zahlreiche Gesellschaft, die sich jedoch fast durchaus mit dem Kartenspiel belustigte. Die einzige Tochter Lucie und noch einige junge Leute unterhielten sich redend. Lucie war ein angenehmes Mädchen, klein und schwach von Person, und hatte etwas Hängendes, Schwärmerisches in Wesen und Stimme. Als wir zu Hause gingen, fragte mich Marie, wie mir dies Haus gefalle. Ich wußte selber nicht, was ich gleich antworten sollte und sagte daher: »sehr gut!« – »Nun, so kann ich Ihnen die Versicherung geben«, sagte sie, »daß auch Sie recht sehr gefallen haben.« –

Marie wußte es einzurichten, daß ich alle Tage mit dem guten Mädchen zusammen war, und da ich endlich gar nicht merkte, was sie im Schilde führte, trat sie mit deutlichen Worten heraus, daß ich diese Lucie, der ich ganz wohl gefalle, zur Frau nehmen solle.

Einer von unsern Bekannten, ein Hauptmann vom Geniekorps, von dem ich wußte, daß er viel um das Mädchen gewesen war und seit Jahr und Tag mit ihr geliebelt hatte, war seit einiger Zeit seltener geworden und jetzt im Begriff, eine reiche adelige Witwe zu heiraten, und nun war Lucie freilich wieder zu haben. Ich war einer sehr heitern Stimmung, als Marie dieses[179] vortrug, und sagte darauf, ich wolle mich bedenken und ihr Antwort sagen. Nach einiger Zeit fragte Marie, was ich denn in Absicht auf Lucien beschlossen hätte. Ich antwortete ganz treuherzig, sie werde wohl einsehn, daß ich für Lucien kein Mann sei; aber einer unserer Bekannten sei eine ebenso heimliche, zärtliche Natur als sie, und ich hielte es für möglich, daß diese beiden Leute ganz glücklich miteinander leben könnten. Marie lachte, was sie konnte, doch mein Vorschlag erfüllte sich. Die beiden Leute sahen und gefielen einander, und in kurzem waren sie ehelich verbunden.

Es war im Dezember des Jahres 1786, als ich eines Tages zu Mariens Mutter gerufen ward. Ich fand sie allein, in Tränen und von heftiger Leidenschaft bewegt. Sie sagte mir, es sei gestern ein Brief aus Amsterdam von Stamford angekommen, worin dieser um die Hand ihrer Tochter anhielte; ehe sie dies jemals zugeben werde, wolle sie sie lieber sterben sehen. Sie fuhr hier fort, sich in Beleidigungen über den Mann zu ergießen, die ich allerdings anhören mußte, wenn ich Stamford nützlich sein wollte. Ich fragte nach Marien, und was diese dazu sage. Sie habe sie, war die Antwort, ausgeschickt; auch sie stecke in dem Komplott, sowie Grete, Lucie und wer sonst noch.

Ich verhehlte ihr nicht, daß ich um die Sache wisse und darin nichts Unrechtes fände. Stamford kenne Marien seit ihrem achten Jahre, und sein Einfluß auf ihre Erziehung sei so unverkennbar, daß ich glaube, wenn Marie selbst zu seinen Wünschen stimme, so lasse sich nichts Gerechtes dagegen einwenden, es müßte denn der Unterschied der Religionen sein, den sie, wie ich wohl denken könne, dabei für wichtig halte.[180]

»Was reden Sie da für Dinge!« sagte sie. »Ich bin eine gute katholische Christin, und meine Tochter habe ich auch dazu erzogen. Können Sie aber wohl sagen, ich hätte Sie weniger gern gesehn, weil ich weiß, welch ein eingefleischter Protestant Sie sind? War nicht mein verstorbener Mann auch ein Protestant, ehe ich ihn heiratete? Und ob er sich gleich um meinetwillen katholisch machte, so habe ich ihn geliebt, ehe er es tat. Nein, das ist es nicht! Aber er gefällt mir sonst nicht, und jetzt haß' ich ihn um so mehr, da er uns jahrelang betrogen hat.« –

»Was ist denn aber«, sagte ich, »hier zu betrügen? Er liebt Ihre Tochter wie ein Ehrenmann; er ist jetzt General und verlangt sie jetzt zu seiner Gattin. Ich wüßte nichts Ehrenvolleres in der Welt, als die Frau und Mutter eines trefflichen Generals zu sein.« – »Hören Sie«, sprach sie, »Sie sind kein General und kein Katholik; Sie lieben meine Tochter, das weiß ich. Halten Sie um sie an! Hier ist meine Hand, Sie sollen sie haben mit der Bedingung, wenn sie wollen die Kinder katholisch erziehn lassen.« –

Ich hatte einen unmäßigen Schreck über diesen Antrag und konnte in diesem Augenblick keine Antwort finden; ja, ich geriet so in Verwirrung, daß ich zitterte und mich setzen mußte.

»Sehen Sie wohl«, sagte sie, »daß ich den rechten Fleck getroffen habe? Sie lieben sie, und Ihnen kann ich sie gönnen; Sie sind ein blühender, junger Mann, und er ein abgelebter, vierzigjähriger Wüstling. Was soll aus einem Menschen werden, der von der Hypochondrie halb aufgefressen ist und seit zwei Jahren die Kaempfsche Kur brauchen muß, um nur nicht unausstehlich zu sein?« – Ich suchte eine schickliche Gelegenheit, mich zu entfernen,[181] um nur an die Luft zu kommen, denn ich wäre des Todes gewesen, wenn jetzt Marie hereingetreten wäre. So empfahl ich mich.

Meine Füße trugen mich zum Tore hinaus, und ich ging in stummem Brüten eine große Strecke in den Wald hinein. Mein erster Gedanke war Stamford, den ich seit drei Jahren sehr lieb gewonnen hatte. Sollte er aber, überlegte ich mir, Marien wohl glücklich machen? Er konnte ein Mann gegen vierzig sein und in jüngern Jahren viel gelebt haben; er war oft kränklich und in hohem Grade hypochondrisch. Marie konnte halb so alt sein; wie lange sollte diese Freude währen? Marie selbst hatte mir niemals eigentlich verliebt in ihn geschienen, und es traten Momente vor meine Erinnerung, aus denen ich mich für begünstigt halten konnte. Wenn ich mit Stamford stritt, hatte sie mir oft Recht zuerkannt; wenn sie mit ihm stritt, forderte sie mich auf, ihre Behauptungen zu bestätigen. Marie hatte von Natur eine ungemein sanfte Touche, das Fortepiano zu behandeln, welches sie wirklich schön spielte, und Stamford behauptete einst, er wolle mit den bloßen Ohren ihr Spiel von jedem andern und auch [von] dem meinigen zu unterscheiden wissen; die Mutter war seiner Meinung. Dies war natürlich: ich hatte von Jugend auf Klaviere, Flügel und Orgeln unter den Fingern gehabt, und schon von Natur war meine Art kräftiger, ja herber. Mir kam indessen die Luft an, eine Probe zu wagen, und Marie stimmte mit großer Luft ein. Aber es sollte eine Wette gelten: die Verlierer sollten ein Souper geben, und die Gewinner die Gäste bitten. Stamford und die Mutter stellten sich hinter einen Schirm. Ich spielte zuerst eine von Mariens Sonaten nach der Art, wie sie zu spielen[182] pflegte, und nun setzte sich Marie ans Instrument und spielte eine meiner Kompositionen so nach meiner Art, mit allen Zeichen meines Wesens, daß Stamford und die Mutter die Wette verloren und ein Souper gaben, wobei Marie und ich liebe Gäste baten und uns allen ein sehr vergnügter Abend ward.

Bei Tische kam einst das Gespräch aufs Fechten. Ich sagte, daß ich in frühern Jahren gern gefochten hätte, und Stamford schlug vor, nach Tische es mit mir zu versuchen. Grete mußte fort und Rapiere holen. Die Mutter war unpaß und lag im Bette. Nach der Mahlzeit kamen die Rapiere. Wir zogen die Röcke aus, gingen auf den Hausflur, und Marie, die mitging, sagte, wer sich am besten hielte, den werde sie nach Rittersitte beschenken.

Nach einigen Gängen stieß Stamford gegen den Schild meines Rapiers; der Knopf sprang ab, und da ich vergessen hatte, meine weiten Hemdärmel zu binden, fuhr die Spitze in meinen rechten Arm und hatte etwas gefleischt, daß das Blut sichtbar wurde.

Marie trat sogleich dazwischen und sagte, sie sehe Blut. Sie streifte mir den Arm auf, nahm etwas Balsam aus einem sammetnen Besteck, und mit leichtfertigen Zeremonien wusch und verband sie die Wunde; dann holte sie eine Nähnadel mit roter Seide und umnähte den Riß in meinem Hemdärmel.

Stamford, dem die Komödie zu lang währte, schien übelzunehmen und ging aus dem Hause. Als er zum Abendessen wiederkam, hatte sich Marie krank gemacht und ins Bett gelegt, weshalb wir allein essen mußten. Da wir miteinander zu Hause gingen, klagte er mir seinen Verdruß und nannte ihr Betragen wunderlich; sie aber[183] ließ nichts weiter merken, und am andern Tage beschenkte sie ihn mit einem artigen Etui und mich mit einer seidnen Brieftasche.

Solcher Erinnerungen fanden sich in meinem Gedächtnisse eben mehrere an, und ich gestehe, daß sich in mir die Neigung regte, Marien zu besitzen. Durch den Antrag der Mutter fand ich mich aufs höchste geschmeichelt, und so träumte ich mich nach Hause.

Ich fand hier eine Karte, welche mich beim Professor Engel zum Abendessen einlud. Als ich zu Engel kam, trat er zu mir und sagte, er werde gegen meine Meinung sein, ich solle mich tüchtig wehren. Eichners fand ich hier allein, und es währete nicht lange, so kam das Gespräch auf die Heirat. Marie war still und sprach kein Wort. Die Mutter tobte und lästerte in einem fort. Engel gab so zu, als ob er ihrer Meinung sei. Dies gab jener Mut, und da Marie immerfort schwieg, hielte ich es für Zeit, Stamfords Recht zu vertreten, indem ich meine Argumente gegen Engel richtete. Wir wurden beide im Ernst eifrig gegeneinander, man trank dazwischen verhältnismäßig Wein, es ward spät in der Nacht, und außer Marien waren wir alle so illuminiert, daß uns das Aufstehen sauer ward. Marie saß wie ein Friedensengel zwischen uns; ihre natürliche Heiterkeit, ihr leichtes Blut und dann und wann ein Blick des Mitleids auf ihre Mutter und deren Vorsprecher erhöheten ihre Liebenswürdigkeit so sehr, daß ich in diesem Augenblicke meines Herzens Blut für sie hätte fließen sehn.

Am andern Morgen wollte ich zu ihr gehn. Sie trat eben aus ihrer Haustür, um eine Freundin zu besuchen. Ich ging mit ihr. »Nun«, sagte sie, »wie ich vernehme, hat gestern früh meine Mutter Auktion über mich gehalten.[184] Wieviel haben Sie denn geboten? So erfahre ich einmal, was ich wert bin!« – Ich erzählte ihr den gestrigen Antrag ihrer Mutter, worüber sie ganz erstaunt war, denn so wußte sie es noch nicht. – »Ich habe«, versetzte sie, »niemals mehr auf die Männer gehalten, als sie mir gefallen haben, aber gestern abend habe ich gesehn, wie gut das Andenken eines Mannes unter Männern aufgehoben ist. Streitet Ihr auch untereinander über mich so viel als Ihr Lust habt; am Ende werde ich tun, was ich für recht achte. Wenn ich Stamford nie geliebt, ja wenn ich ihn nicht gekannt hätte, so hätte er mir gestern wert werden müssen! Und wozu sind denn Sie nun entschlossen, da Sie mich im Sacke haben? Was wollen Sie meiner Mutter antworten, wenn Sie es noch nicht getan haben?« – »Ihre Mutter«, sagte ich spaßhaft, »wird so gut sein, mir den Antrag noch einmal bei kälterm Blute zu machen. Dann werde ich zuschlagen und die ganze Welt auslachen, das verständigste, liebenswürdigste Mädchen in meine Arme zu schließen.« –

Im Jahre 1787 starb mein Vater fast plötzlich, denn am neuen Jahrstage ging er noch in die Kirche und am 25. desselbigen Monats war er tot.

Ich hielt mich gefaßt genug, den großen Verlust zu ertragen, und wollte eine Musik auf seinen Tod machen, doch ich sahe bald die Unmöglichkeit des Unternehmens ein. Eigentlich hatte ich erst zuletzt die Liebe meines Vaters recht innig gefühlt, indem ich mir sein Leben neben meine Jugend zurücke rief. Der Schmerz der Seele lag in der Tiefe auf einem Punkt, und was ich niederschrieb, erschien dagegen nach außen kalt, ja unmelodisch. So wie ich zu der Musik auf den Tod des Königes meine Totalempfindung nur in musikalische Formen zerlegen[185] durfte, so war hier alles unzerteilbar und der äußerlichen Darstellung entgegen.

Meine beiden ältern Schwestern waren längst verheiratet, und so war ich nun mit meiner kranken Mutter ganz allein. Das schöne Verhältnis war zerrissen, die alte Ordnung fehlte, und meine Tätigkeit war ohne Ruhe, indem ich täglich nun auch den Tod meiner Mutter erwarten mußte. Daß das Metier durch seinen Tod leiden würde, sah ich sogleich ein. Es war eine Luft, mit ihm zu arbeiten, weil ihm alles so leicht von der Hand ging. Er wußte genau, wie das fertige Haus jedesmal aussehn müsse, und zeichnete mit freier Hand die besten Grundrisse. Bei seiner gründlichen Kenntnis des städtischen Lokalwesens taxierte er die Kosten so genau, daß er sich nur um weniges betrog. Als ich den Anschlag zu meiner Meisterzeichnung machte, welche letztere er eben gesehn hatte, sagte ich ihm eines Tages, indem wir uns zum Mittagsessen niedersetzten, daß das Maurerarbeitslohn hart an vierzigtausend Thaler betrage; er sagte darauf nichts und war beim Essen immer in tiefen Gedanken. Endlich stand er auf und rief aus: »Das ist ganz unmöglich! Das Arbeitslohn muß gegen fünfzigtausend Thaler betragen! Du hast Dich sicherlich verrechnet.« – Ich rechnete die Hauptartikel einzeln noch einmal und fand sie richtig; aber im Summieren hatte ich's versehn, und die ganze Summe betrug wirklich siebenundvierzigtausendneunhundertundfünfunddreißig Thaler.

Ungeachtet seiner großen und heitern Tätigkeit war er beim Handwerke nicht reich worden: er bauete mit Luft und hielt seine Leute sehr gut. Wenn er auf die Arbeit kam und zufrieden sein konnte, beschenkte er die Leute reichlich.[186]

Er war gewohnt, die Schablonen der äußern Zierraten aus freier Hand aufzuzeichnen. Bei einem größern herrschaftlichen Hause, das er baute, wollte er dies nicht wagen und zeichnete ein ionisches Hauptgesims nach Maß und Modul auf. Das Gesims war gemauert und gezogen, als er auf den Bau kam; es mißfiel ihm jedoch so sehr, daß er sogleich die Schablone aus freier Hand verbesserte und befahl, das fertige Gesims herabzubrechen und nach der neuen Schablone zu mauern. Die sämtlichen Leute baten ihn, dies nicht zu tun, denn die Arbeit war sauber gemacht; doch er ließ sich nicht erweichen. Als er aber wiederkam und das neue Gesims sahe, war er außer sich vor Freuden und beschenkte die Leute auf das reichlichste über ihre schöne Arbeit. –

Am 6. April 1787 trat Grete wie eine Verzweifelnde in mein Zimmer, und mit dem Geschrei unerträglicher Schmerzen erschreckte sie mich mit der Nachricht von Mariens Tode. »Sie ist ermordet!« rief sie aus. »Man hat sie umgebracht! Ich habe es vorher gesagt! Man hat nicht hören wollen! Auch Sie sind schuld an ihrem Tode!« – Alle Wunden meines Herzens öffneten sich hier zumal. Ich war ganz verlassen und brauchte viele Wochen, mich wieder anzufinden. Niemand konnte oder wollte mir etwas Zuverlässiges über Mariens Tod sagen, weil viele sich dadurch gekränkt fanden, und Grete, die sich wie eine Mänade gebärdete und sich das Fleisch mit den Nägeln zerriß, sobald ich sie fragte, wußte nicht alles.

Stamford hatte einen kostbaren Ring aus Dem Haag geschickt. Über diesen Ring war eine unwürdige Szene zwischen Mutter und Tochter vorgegangen. Marie litt eben an einer weiblichen Unpäßlichkeit und ward gefährlich[187] krank. Man wandte sich zu spät an einen jungen Arzt, und am neunten Tage verlor ich meine süße Freundin, nach deren Abscheiden Grete sogleich heimlich von Potsdam weggelaufen war, um mich mit der Nachricht ihres Todes zu erschrecken.

Ich brauche nicht zu wiederholen, welch ein himmlisches Bild des angenehmsten Frühlings diese Maria war; aber sie war auch eine sehr ausgezeichnete Sängerin.

In der Königlichen Opera seria, wo sie die zweiten Rollen der Graunschen, Hasseschen und Agricolaschen Kompositionen singen mußte, war sie nicht an ihrer Stelle, wie sie sich denn überhaupt wenige Mühe gab, pathetisch zu erscheinen. Die Werke dieser Komponisten wurden dazumal nur noch in Berlin gehört. In Italien und Oberdeutschland waren neuere Meister aufgetreten. Der König besuchte die Oper nicht mehr in Person und schien sie bloß der alten Ordnung wegen beizubehalten. Ich habe schon gesagt, mit welchem Widerwillen der König gegen deutsche Theatersubjekte eingenommen war, welcher sich jedoch seit der Erscheinung der Mademoiselle Schmeling (nachherigen Madame Mara), welche im Jahre 1771 angenommen ward, gemildert hatte. Da es in Italien selbst an bedeutenden Sängerinnen zu fehlen schien, so war der König, wenn er die Oper nicht wollte aussterben lassen, genötiget, noch die Mademoiselle Koch (nachher Madame Verona) und dann auch diese Eichner passieren zu lassen.

Maria war in Mannheim von einem bejahrten italienischen Kastraten aus guter Schule unterrichtet worden. Ihre Stimme war vom ungestrichnen f durch drei Oktaven rein, gleich und in großen Schwierigkeiten geübt. Sie sang die chromatische Tonleiter hintereinander[188] auf und ab in ziemlicher Geschwindigkeit. Die sogenannte Catena di trilli hatte sie so in ihrer Gewalt, daß in einem nicht zu kleinen Raume die Töne wie Nachtigallengesang schmetterten. Das Granito ihrer Passagen war erweckend, ich möchte sagen: rührend zugleich, und in der Messa di voce war sie eine Meisterin. Der berühmte Violinist Giornowicchi hörte mit dem innigsten Vergnügen seine Violinkonzerte von ihr singen und behauptete, vieles von ihr angenommen zu haben. Auf einem kleinen englischen Fortepiano von Buntebart spielte sie so schön, als man es nur hören kann, und wenn sie an Fertigkeit in Schwierigkeiten übertroffen wurde, so war dies doch an Anmut und Gleichheit des Vortrages nicht möglich.

Die ausgesuchten Freuden, welche ich in dem Umgange mit dieser angenehmsten Maria genossen habe, bewegen mich, ihrer mit Dank und Liebe zu gedenken; sie war ein Engel in Menschengestalt. –

Meine Mutter drang darauf, mich noch bei ihrem Leben zu verheiraten. Da sie selbst nicht von der Stelle konnte und sehn mußte, daß alles im Hause verkehrt einherging, konnte ich ihren Wunsch nicht tadeln, ob ich gleich nicht den geringsten Trieb fühlte, neue Bekanntschaften zu machen.

Ich warf mich wieder mit Eifer in die Musik. Die Einsamkeit langer Abende und früher Morgenstunden regte in meiner angegriffnen Seele musikalische Ideen auf, die jedoch selten zur Reise kamen, weil durch die Sorge um meine kranke Mutter und den Betrieb der Geschäfte die schönsten Stunden unterbrochen wurden.

Ich bemühete mich um ein gutes Gedicht zu einer ernsthaften Oper, – es war keines zu finden, – und[189] begnügte mich unterdessen, gefällige Szenen aus den Opern und Oratorien des Metastasio in Musik zu setzen. Doch hatte ich nun nicht einmal jemanden, der diese Stücke sang.

Hier erinnerte ich mich eines Mädchens, deren Brüder ich im Gymnasio gekannt hatte. Der eine Bruder, welcher mit mir in einer Klasse saß, hatte mich öfter mitgenommen in das Haus seiner Eltern, und ich hatte bald bemerkt, daß die jüngste Schwester namens Julie einen sehr angenehmen Sopran sang. Auch bei Jeanetten hatte ich sie nachmals singen hören und das ganz besonders Natürliche und die Wahrheit ihres Vortrages bewundert.

Ihr Vater, ein sehr geschätzter Geheimer Finanzrat Friedrichs des Großen, war gestorben; die Mutter lebte von einer kleinen Pension, und Julie war jetzt bei ihrer Schwester, der Witwe des Generalchirurgus Voitus, der neben Selle auch unser Arzt gewesen und sieben Tage nach meines Vaters Tode gestorben war. Diese Julie nun war es, welche mir für meine Szenen geschickt schien. Ich fand bald Gelegenheit, näher an sie zu gelangen, indem ich ihre Schwester besuchte, welcher ich das Honorar für die Kur meines Vaters brachte.

Mit Julien ward ich bald einig. Ich ging von Zeit zu Zeit zu ihr, und da es ihr nicht an Intelligenz fehlte, sich in den Ideengang jedes Komponisten gleichsam zu verweben, weil sie von schöner Gemütsart war, so war sie mir die liebste, der ich meine Intentionen über Ausdruck und Art mitteilen mochte, dagegen ich denn von ihr den ruhigen, tiefen Sinn lernte, der weder deckt noch schreckt, indem er rührt und bildet. –

Um diese Zeit bauete ich in meiner Straße ein Haus[190] für eine junge Kaufmannswitwe, deren Mann namens Flöricke eben gestorben war. Sie hatte drei angenehme Kinder. Das jüngste war ein dreijähriger Sohn von unendlicher Schönheit und Anmut der Gliedmaßen.

An dem Tage, da der Grundstein zum Hause gelegt wurde, gab die Witwe eine Abendmahlzeit, wozu ich eingeladen war. Das natürliche, angenehme Wesen der jungen Frau gefiel mir um so mehr, da die Gemeinheit der übrigen Gesellschaft, welche gleichwohl aus guten Leuten bestand, mir desto langweiliger war. Ich ließ mich daher auch nicht weiter im Hause sehn, als wenn es mein Geschäft erforderte.

Das Pfingstfest war gekommen, und meine Witwe lud mich ein, mit ihr zu ihren Eltern zu reisen und diese Tage dort zuzubringen, welches ich gern tat.

Ehe wir von hier abfuhren, bemerkte ich erst, daß drei von der Abendgesellschaft am Grundsteinfeste mit aufsteigen wollten, und war darüber ganz verdrießlich. Ein ältlicher langer, hagrer Uhrgehäusemacher war der erträglichste, weil er wenig sprach und fast beständig schlief. Sonst war dieser gute Mann die eigenste Figur, welche ich gesehn habe: sein langer Körper sah aus wie ein Bündel senkrecht aufgestellter Latten; kaum eine Ecke, eine Muskel stand hervor. Dabei hatte er ein kreideweißes Gesicht, trug eine Perücke von der nämlichen Farbe, einen gelbgrünen Rock, lederne Beinkleider und schwarze wollne Strümpfe. Der andere Reisegefährte war ein junger Baukondukteur und plauderte unaufhaltsam fades Gewäsch, und selbst wenn er schwieg, war ich in Sorge, weil er beständig den Mund offen hielt. Die dritte Person war eine Kusine, welche das Gespräch auf zärtliche Lektüre zu lenken sich bemühte.[191]

Wir fuhren bei trockenem Wetter ab, doch nach einer halben Stunde kam ein dichter, anhaltender Regen, der uns auf dem offnen Wagen bis auf die Haut durchnäßte. Die Frauenzimmer hatten Schirme, von denen das Wasser stromweise in meine Stiefel und Beinkleider troff. Ich war fast toll vor Verdruß, soviel Ungemach zugleich erdulden zu müssen, ohne ausweichen zu können. Endlich waren fünf Meilen zurückgelegt, und wir waren an dem Orte unserer Bestimmung.

Der Vater meiner Witwe war ein Königlicher Förster. Er und seine Frau entsprachen vollkommen dem Bilde, was nachher Iffland so wahr und lebendig von seiner Jägerfamilie gegeben hat.

Wir wurden sehr freundlich und herzlich aufgenommen, und da ich in allen Zimmern Kamine gesehn hatte, war meine erste Bitte, mir ein solches Kaminzimmer für mich allein zuzugestehn, welches mir meine Witwe sogleich bei ihrer Mutter auswirkte; wodurch ich denn zufrieden und aufgeweckt wurde, denn nun konnte ich doch ausweichen.

Beim Abendessen war man sehr munter. Der alte Förster hatte sich zu uns an den Tisch gesetzt, obgleich er abends nicht aß, und hörte lange genug das Geschwätz des Kondukteurs an. »Es ist billig«, sagte er zu ihm, »daß Sie einmal in Ruhe zum Essen kommen. Unterdessen mögen die andern reden, die bis daher geschwiegen haben.« – Und nun fragte er allerlei über den Fortgang des Hausbaues seiner Tochter, worüber ich ihn denn befriedigte.

Nach dem fruchtbaren Regen war ein herrlicher Morgen aufgegangen, und da mir es in der Gesellschaft nicht gefallen konnte, machte ich mich an die artigen drei[192] Kinder meiner Witwe, die vor dem Hause im Grase spielten, und trieb mit diesen allerlei Possen, wodurch denn die Mutter herbeigelockt wurde.

Ich kannte eigentlich diese Frau noch gar nicht, weil ich sie zu wenig gesehn hatte. Sie hatte das angenehmste ^ußere: ein wirklich schönes, geistreiches Gesicht, eine reine, leichte Sprache, gefällige Haltung und Bewegung der Gliedmaßen und ruhige Weiblichkeit. Von der allgemeinen Bildung der höhern Stände mochte wenig in sie eingedrungen sein; weder hoch noch gemein, noch scharf noch matt, schienen alle ihre Fakultäten ein einziges ruhiges Element zu sein. Ich war bald mit ihr in angenehmen Gesprächen begriffen. Sie hörte aufmerksam und antwortete so natürlich und sicher, daß ich ihr bald sagen mußte, mit ihr würde ich lieber eine Reise um die Welt machen als mit den andern, so lange ich lebte, eine Spazierfahrt von fünf Meilen. Sie sagte darauf, der lange Mann sei ein alter, gefälliger Freund ihres Vaters, der alle Sommer einige Mal seinen Besuch abstatte und die Hausuhren herstelle; der Kondukteur sei eigentlich die Ursache dieser Reise; er habe den Vater um die Erlaubnis gebeten, das Pfingstfest hier zu verleben, deshalb seien die Pferde geschickt worden. Die Kusine sei ein gutes Mädchen, das ihr in der Krankheit und nach dem Tode des Mannes treu beigestanden habe. Seitdem komme sie oft, nähme vorlieb mit dem, was sie fände, und lasse sich überhaupt vieles gefallen.

Die Kinder hatten sich bald so an mich gewöhnt, daß sie mir überall nachliefen, und da ich auch am liebsten mit ihnen im Freien war, so konnte ich eben nicht über Langeweile klagen. Inzwischen hatte ich einen Boten nach Berlin gesandt, der meine eigenen Pferde mit einer[193] Chaise herbestellte; meine Witwe hatte darinne einen Platz angenommen, und die Kinder freuten sich sehr, mit dem großen Vetter zu fahren. Desto bequemer fuhren nun die andern auf ihrem offenen Wagen, denn nun konnte sich der Kondukteur mit der Kusine recht ausplaudern und der Lattenmann sich satt schlafen, ohne daß es mich verdrießen durfte. Der Förster empfahl mir seine liebste Tochter auf Rat und Tat, und so schieden wir auseinander. Der andere Wagen fuhr voran, und ich mit meiner Witwe anfänglich so sacht hinterdrein, daß wir uns nicht einander hinderlich zu sein brauchten.

Von meiner Witwe erfuhr ich nun, daß beide Herren ein paar Freier waren und ohne gegenseitiges Wissen beim Vater um sie angehalten hatten. Der Vater aber habe jedem gesagt, daß er über seine Tochter nicht mehr disponieren könne, da solche selber Kinder habe, und er erwarte höchstens, daß sie bei einem so wichtigen Schritte ihren Vater zu Rate ziehe. »Was meinen Sie nun«, fuhr sie fort, »welchen von den beiden Herren soll ich akzeptieren? Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, deshalb ist mir der Kondukteur offenbar zu jung, und der andere könnte mein Großvater sein; dem also bin ich zu jung. Sie sind ein kluger Mann, Sie haben meinem Vater versprochen, mich mit Rat und Tat zu unterstützen; beides brauch' ich jetzt; und nicht wahr, Sie werden Wort halten?« –

Die Sache war allerdings sonderbar genug: zwei Freier hielten um die Braut an, und diese um die nämliche Zeit fuhr mit einem dritten davon. Ich leugne nicht, daß sich meine ganze Schelmerei hier regte. Der Alte hatte verheiratete unzufriedene Kinder, und der Kondukteur war ein unbrauchbarer Mensch; beide waren[194] arm, und an eine Freude für dies gute Weib war nicht zu denken. Ich sagte daher der Witwe, für diesmal könne sie meines Rates enthoben sein, da aus ihrer Frage vollkommen hervorginge, für welchen sie sich entschieden habe. – »Was habe ich gesagt?« fuhr sie schnell auf; »ich bin für keinen entschieden. Ich wünsche nicht mehr zu heiraten!« –

Über dies Thema, das Stoff genug zur Unterhaltung enthielt, waren wir schnell genug in Berlin angelangt. Die andern waren schon vorher angekommen und hatten sich sehr unzufrieden über mich bezeigt und gesagt, der herrschaftliche Wagen werde bald nachkommen, die Leute sollten nur gut aufpassen; und so waren sie in vollem Unmute jeder seinen Weg gegangen.

Meine Mutter fand ich sehr krank und fast sprachlos; sie erkannte mich kaum und erwartete den Tod. Nach einigen Tagen erholte sie sich jedoch wieder.

Meiner Witwe Haus ward nun gerichtet, und ein Abendschmaus krönte auch diese Feierlichkeit, welcher die nämlichen Gäste beiwohnten. Unterdessen war allerlei vorgefallen: der Kondukteur hatte seit Pfingsten täglich seinen Morgenbesuch abgestattet und sich mit einem Frühstücke bewirten lassen; gegen Abend kam der lange Mann, rauchte seine Pfeife Tabak, aß und schlief nachher, bis er zu Hause ging; die Kusine, indem sie sich des Hauswesens annahm, war oft wochenlang dort, und oft nahmen alle drei das Mittagsmahl dort ein, sodaß das gute Weib täglich drei ungebetene Gäste zu ernähren hatte, die höchstens sich selber die Zeit vertrieben. Ich hatte mich wenig gezeigt, weil ich den Jammer nicht sehn konnte und zum Lachen gar zu wenig aufgelegt war. Unterdessen hatten alle drei Zeit genug, eine Mine[195] gegen mich anzulegen, die mir wenigstens Schaden bringen sollte: An dem Bau war ihnen alles nicht recht, und jeder mäkelte nach seiner Art; besonders war alles zu kostbar, zu stark und zu hoch. Außer dem Vorderhause sollte noch ein Seitengebäude, eine Remise und ein Pferdestall gebaut werden. Der Kondukteur hatte dazu Risse und Anschläge gemacht, die unter meinen Preisen und gegen meine Einsicht waren, und unter der Hand mit Zuziehung des Vormundes der Kinder bereits einen andern im Sinne, der dies bauen sollte. An einem Sonntage kam der erste Diener meiner Witwe zu mir, welches ein junger, wohlgebildeter Mann war, mich hiervon zu unterrichten. Erst sagte er mir allerlei Schmeichelhaftes über die Anlage des Hauses, von der er behauptete, sie sei die beste für einen Kaufmann; er habe sich schon ausgedacht, wie alles stehn und eingerichtet werden solle, doch müßte er die schöne, gute Frau bedauern, indem ihre täglichen Gäste einen guten Teil dessen verzehrten, was verdient würde. Die Kusine hole aus dem Laden, was sie brauche, und schicke es zu ihrer Mutter, und die andern beiden Herren brächten noch Gäste mit, und alle Tage ginge mehr drauf. Ich riet ihm, dieses seiner Prinzipalin zu sagen; es sei dies eigentlich sein Amt, und sie würde [es] ihm gewißlich Dank wissen. Er sagte, sie wisse es; sie habe auch schon mit ihm aus freien Stücken davon gesprochen; doch sei sie nicht dreist genug, dem Leben ein Ende zu machen, und wenn dies nicht geschähe, könne nichts Gutes erfolgen. Das Ende seines Vortrages bestand nun noch in der Bitte, sein Vorsprecher zu sein, weil er die schöne Witwe zu heiraten gedenke, wo denn schon alles anders werden solle.

Meine Mutter hatte jetzt einige heitere Tage, welche[196] ich benutzte und die Witwe bat, sie zu besuchen. Meine Mutter hatte ihre Freude an dem sanften Wesen der jungen Frau und sagte mir, solch' eine Schwiegertochter möchte sie wohl um sich haben, und wenn nur diese nicht drei Kinder hätte, so sei das Rechte für sie und für mich gefunden.

Meine Witwe hatte jetzt Gelegenheit, ihren Freiern auszuweichen, indem sie abends meine Mutter besuchte, die in ihr eine balsamische Gesellschaft fand. Wo diese junge Frau ihre Hand hinlegte, heilte alles; was sie angriff, ging vonstatten, und was sie anfing, war so gut als fertig, und ohne Geräusch.

Einen Abend hatte der lange Lattenmann seinen Besuch wiederholt, und da er die Witwe nicht zu Hause fand, entschloß er sich, sie zu erwarten. Nach zehn Uhr brachte ich sie bis an ihr Haus und ging zurück. Hier eröffnete er ihr sein Vorhaben, sie glücklich zu machen; bei ihrem Vater habe er schon um sie angehalten und sei seiner Genehmigung gewiß. Sie schlug ihm sein Begehren rund ab und setzte hinzu, so gern sie ihn übrigens sehn würde, so habe sie doch als Witwe und als eine Kaufmannsfrau die Nachrede der Nachbarschaft zufürchten. Hierüber nun ward er höchlich entrüstet, nannte meinen Namen und mich einen stolzen, hoffärtigen Mann, der doch auch nicht aller Weisheit Herr sei, das könne man an dem Bau sehen; ich werde aber schon meinen Lohn erhalten. Der Kondukteur wolle die andern Gebäude um ein Bedeutendes wohlfeiler bauen lassen.[197]

Quelle:
Zelter, Carl Friedrich: Carl Friedrich Zelters Darstellungen seines Lebens. Weimar 1931, S. 7-198.
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