Erkrankung

[15] Mit schwerem Herzen schied ich von meinen Bergen und dem freien Leben. Ich wurde zunächst noch für ein halbes Jahr auf eine Bürgerschule, in die Städtische Waisenhausschule, geschickt, und dann ein weiteres halbes Jahr von einem Freunde meines Vaters mit dessen Sohn und einigen englischen[15] Pensionären in den Anfangsgründen des Lateins unterrichtet. Der Ehrgeiz des Lehrers brachte uns soweit, daß ich mit neun Jahren in die Oberquarta des Gymnasiums und in demselben Jahre noch in die Untertertia aufgenommen werden konnte.

Diesen falschen Ehrgeiz meines Lehrers sollte ich schwer büßen. In der neuen Klasse, in die ich als Zweiter eingetreten war, fiel ich plötzlich ab, wurde lasch, um nach einiger Zeit völlig zusammenzubrechen. Ein Kopfleiden, Flimmermigräne, befiel mich in heftigster Weise; ein ganz intensives Farbenflimmern wurde in Farbenkraft und Bewegung so heftig, daß ich nach wenigen Minuten in Krämpfen zusammenbrach. Diese Krämpfe wiederholten sich im Laufe von einem oder zwei Monaten mehrere Male und brachten mich in einen Zustand, der mein Verbleiben auf der Schule unmöglich machte.

Mein Vater war in Verzweiflung. Den Ärzten war die Erscheinung völlig neu. Der Hausarzt meiner Großmutter, der erste Chirurg der Stadt, erklärte sie für die Folge eines Gewächses im Gehirn und verlangte Trepanierung. Dem widersetzte sich mein Vater, der dies – damals sicher mit Recht! – für reinen Mord erklärte und einen anderen Arzt zu Rate zog. Dieser glaubte, die Erscheinungen kämen aus dem Magen, verlangte völlige Ausspannung für Monate oder Jahre und verordnete das damals eben bekannt gewordene Chinin. Die jahrelange Benutzung dieses Mittels hat meine Verdauung für immer verdorben. Etwa zwölf Jahre später, bei einem heftigen Wiederauftauchen des Übels, sind dann durch die mir verordnete langjährige ununterbrochene Benutzung von Brom in stärkeren Dosen meine Herztätigkeit und mein Gedächtnis in empfindlicher Weise geschwächt worden. Fast vierzig Jahre später habe ich noch einmal an Körper und Geist traurige Beweise der Rückständigkeit unserer inneren Medizin erfahren müssen, bei der Behandlung eines plötzlich auftretenden schweren Venenleidens, einer Behandlung, die mich für mehr als ein Jahrzehnt zu einem halben Krüppel gemacht hat.

Der Grund zu diesen Krankheiten soll Gicht sein, mit der ich erblich belastet bin. Schon als Junge hatte ich gelegentlich[16] gichtische Anschwellungen an den Fingern, welche die Ärzte damals für Nachwirkungen vom Frost in den Händen erklärten. Alle diese Krankheiten und Kuren hatten dann noch nervöses Asthma zur Folge. So habe ich vom frühesten Alter an niemals die Empfindung voller Gesundheit gehabt, bei allem Tun waren mir Fesseln angelegt, am meisten gerade in dem Alter, in dem der Mensch sonst sorglos ins Leben stürmt, als ob es nie ein Ende nehmen könne.

Manche Freude ist mir auf die Weise entgangen, mancher Genuß verkümmert worden. Von Jugend an bin ich dadurch mehr auf das innere Leben hingewiesen. Diese harten Prüfungen, die stete Gefahr und die Angst davor, mußten auch meinen Charakter beeinflussen, um so mehr, als später der Kampf um meinen Beruf gleichfalls in derselben Richtung wirkte. Meine heitere Natur, mein lebensfroher Optimismus wurden schwer auf die Probe gestellt. Die Blödigkeit, die ich von dem Leben unter den Bauernkindern mitbrachte, wurde dadurch noch verstärkt. Erst im späteren Leben habe ich sie in dem Beruf, zu dem ich mich durcharbeitete, allmählich überwunden. Geblieben ist mir jedoch eine starke nervöse Reizbarkeit, eine Hast und Unruhe, die mich selten zum Genuß des Augenblicks kommen ließ und stets zu neuer Arbeit antrieb. Aber dieser schwere Kampf ums Dasein hat mir auch den Willen zur Durchführung meiner Pläne gegeben.

Zu dieser Entwicklung meines Wesens hat auch der Umstand beigetragen, daß ich immer neben mir ältere Verwandte oder Freunde hatte, die ruhiger, verständiger, liebenswürdiger waren, und die mir daher stets als Vorbild vorgehalten wurden. Wer in ähnlicher Lage gewesen ist, weiß, wie wenig dies nützt, wie man dadurch verbittert wird und sich über diese »Musterknaben« ärgert, sie mögen noch so vortrefflich sein. Im Hause meiner Großmutter, einer trefflichen, klugen Frau von größter Anspruchslosigkeit und Aufopferung, war mein Genosse, wie schon erwähnt, mein Vetter Wilhelm Rimpau, der Sohn eines Bruders meiner Mutter, der die ältere Schwester meines Vaters geheiratet hatte. Er war mehrere Jahre älter[17] als ich, war stark und gesund, von ruhigem, gleichmäßig freundlichem Wesen, von zuverlässigem, praktischem Sinn. Er war der Liebling meines Großvaters gewesen, der ihn in seinen letzten Jahren täglich um sich hatte. Neben ihm konnte ich im Hause nicht aufkommen, so wenig mich die Großmutter ihre Vorliebe und der Vetter seine Überlegenheit fühlen ließen. Aber von meinem Vater wurde er mir stets als unerreichtes Vorbild vorgehalten, und so nahe ich ihm und seiner Familie stets blieb, mit der ich später noch enger verbunden wurde, so habe ich dadurch ein gewisses Gefühl der Befangenheit, selbst der unbewußten Unterordnung und vielleicht auch der Eifersucht, nie ganz verloren.

Ich war elf Jahre, als ich zu meinen Eltern nach Harzburg zurückkam. Der Anlaß war zwar ein trauriger, aber nach Knabenart jauchzte ich vor Freude, wieder in der lieben Heimat zu sein. Was kümmert sich ein Kind um Krankheit, wenn nicht gerade ein schwerer Anfall es an das Lager fesselt.

Für meine Gesundheit ließ ich meine Mutter sorgen, die seit meiner Erkrankung mit doppelter Liebe an mir, ihrem »Brillanten«, hing. Sie war eine treffliche Frau, klein, fein und zart, klug, aber ohne Schlagfertigkeit, fleißig, so daß sie in der Schule stets in allem die Erste gewesen war, und doch ohne das Talent, ihr Wissen an den Mann zu bringen. Ihre Pflichttreue und Aufopferung ließ sie nur an andere, niemals an sich denken. In ihrer Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit ordnete sie sich allen unter. In ihren Bemühungen für andere war sie stets voll Angst und Sorge bei den alltäglichen Dingen, aber in wirklicher Not, in schweren Sorgen verlieh ihr das Gottvertrauen eine Kraft und eine Sicherheit, wie sie wenigen Männern gegeben ist, und wie sie auch mein Vater nicht besaß. Ich erinnere mich aus jener schweren Zeit mehr als einmal, wie meine Mutter, wenn ich aus schwerer Ohnmacht langsam zu mir kam, allein um mich besorgt war und dabei noch meinem Vater, der völlig außer Fassung war, zuzureden suchte. In ihrer Pflege war ich gut aufgehoben, suchte sie sie doch schüch tern, wie ihre zärtliche Liebe, fast zu verbergen,[18] trieb mich hinaus in die freie Natur, in die ich mich sehnte, und in der ich nach dem Willen des Arztes den ganzen Tag zubringen sollte. Es war eine schöne Zeit, dieses Jahr, in dem ich ohne allen Unterricht mich in meinen lieben Bergen austoben und allen alten Neigungen dort nachgehen durfte!

Diese Zeit der Ausspannung, das Leben in der frischen Bergluft, brachte mir bald Heilung oder drängte doch wenigstens mein Leiden fast ein volles Jahrzehnt ganz zurück. So durfte ich allmählich wieder in den gewohnten Gang zurückkehren. Ich bekam einen Hauslehrer, der zugleich meine älteste Schwester, die nicht viel mehr als ein Jahr jünger war als ich, mit unterrichtete; einen braven, strenggläubigen Mann, aber ohne eigentliche Lehrbegabung und durch seine heftige Art gerade damals für meine erregten Nerven und meinen Charakter schwerlich von günstigem Einfluß.

Quelle:
Bode, Wilhelm von: Mein Leben. 2 Bde, 1. Band. Berlin 1930, S. 15-19.
Lizenz:
Kategorien: