Vorfahren und Familie

[5] Ich bin von Geburt Niedersachse, Braunschweiger, von so reiner, gutbürgerlicher Herkunft, wie sich wenige andere rühmen oder wenigstens es nachweisen können. Meine Vorfahren väterlicherseits waren meist Gelehrte oder Beamte. Im Anfange des 16. Jahrhunderts war Ludolf Bode als Bürgervorsteher einer der geachtetsten Männer der Stadt. Dreihundert Jahre später hat mein Großvater, Wilhelm Bode, als Stadtdirektor (Bürgermeister) in Braunschweig durch fast dreißig Jahre der Stadt aus dem traurigen Zustand, in den sie durch die Napoleonische Zeit und die darauf folgende Mißwirtschaft des Herzogs Karl geraten war, wieder zu einer gesunden Entwicklung verholfen und namentlich auch den wissenschaftlichen und Kunst-Anstalten persönlich große Dienste erwiesen. Durch Heirat war er und waren seine Voreltern verbunden mit einer Reihe von Familien, deren Namen unter den Gelehrten Deutschlands im sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert guten Klang haben. Für den, welcher nachträglich das Horoskop zu stellen liebt oder den Deszendenztheorien nachhängt, wird es nicht ohne Interesse sein, wenn ich über diese meine Vorfahren ein paar Worte hier einschalte, bei denen ich selbst in dankbarer Erinnerung an das, was ich ihnen schulde, gern länger verweilen würde.

Meine Großmutter war die Tochter des letzten Kurators der Universität Helmstedt, Conrad Henke, Abts von Königslutter und Michaelstein. Henke, den Goethe früher vergeblich an die Universität Jena zu ziehen suchte, hatte das Unglück, daß zur Zeit seines Rektorats die Universität im Jahre 1809 von Napoleon aufgehoben wurde. Überzeugt von der Bedeutung der Musenstadt machte er sich auf den Weg nach Paris, um Napoleon persönlich zum Widerrufe zu bestimmen. Dieser empfing ihn, ließ sich aber auf eine Diskussion über die armselige[5] kleine Universität gar nicht weiter ein. Da Henke in seiner Amtstracht war, fiel Napoleon das große goldene Kreuz auf, welches er als Abt von Michaelstein und Königslutter trug. »Est-ce une prébende?« fragte er ihn. Als Henke antwortete, das sei nur ein Ehrenamt, antwortete Napoleon: »L'honneur? ça ne vaut pas grande chose!« Nach langem Kampfe, in dem Henke bei dem Kultusminister des Königreichs Westfalen, Johannes von Müller, warme Unterstützung fand, wurde die Aufhebung der Universität doch schließlich dekretiert. Der Kummer über das Mißlingen seiner Hoffnung brach dem braven Manne das Herz; er starb kurz darauf. Hatte er doch, bei aller Einfachheit und Strenge gegen sich selbst, ein hohes Bewußtsein seiner Stellung und der Wissenschaft überhaupt.

Ein Ausspruch Henkes, der in der Familie bis auf uns Urenkel überliefert ist, bietet einen sprechenden Beweis dafür, und zugleich auch für den Stolz des Professoren- und Beamtentums und die untergeordnete Stellung des Landadels jener Zeit. Als der Kurator einst gegen Mittag aus der Universität zurückkam, empfing ihn seine Frau mit der Mitteilung, daß zwei ihr verwandte adlige Gutsbesitzer aus der Nähe einen Besuch bei ihr gemacht hätten und von ihr zum Mittagessen eingeladen seien. »Das paßt sehr schön«, war seine Antwort, »da esse ich mit Professor Beireis im Erbprinzen. Du kannst doch nicht verlangen, daß ich mit Bauern an einem Tische sitze!«

Diese Gattin Henkes stammte selbst von vornehmen Gelehrten ab: sie war eine Carpzow, aus der Familie, die den Kriminalisten Benedikt Carpzow hervorgebracht hatte, der hoffentlich andere Vorzüge besaß als den mythischen Ruhm, zwanzigtausend Hexen zum Tode verurteilt zu haben! Diese Enkelin hatte nichts von der harten Bigotterie ihres Vorfahren, welche eine der vielen schlimmen Nachwirkungen des dreißigjährigen Krieges war. Sie war eine einfache, gegen sich asketisch strenge Frau. Nie saß sie auf einem Sofa, und selbst als sie, eine Achtzigjährige, von einem plötzlichen starken Schwindel überrascht wurde, konnte man sie nicht bereden, sich zu legen.[6] Sie starb sitzend auf einem Stuhle. Dabei hatte sie aber die volle weltmännische Bildung ihrer Zeit.

Als Goethe auf seiner ersten Harzreise durch Helmstedt kam, wohnte er bei Henkes, die mehrere stattliche alte Häuser auf der Hauptstraße besaßen. Noch bewahren wir ein Albumblatt von seiner fast damenhaft zierlichen Handschrift als Zeichen der Dankbarkeit für die genossene Gastfreundschaft:


Vieles gibt uns die Zeit und nimmt's auch; aber der Bessern Holde Neigung sie sei ewig dir froher Besitz.

19. August 1805.


Durch Carpzows sind wir mit anderen alten Gelehrtenfamilien Sachsens und Niedersachsens verwandt, namentlich mit Conrings und Cranachs; eine Urenkelin des Malers Lukas Cranach war mit einem Carpzow verheiratet. Es ist dies meines Wissens das einzige Künstlerblut, das in meinen Adern fließt. Ob es nach mehr als dreihundert Jahren der Verdünnung noch kräftig genug war, um die Freude an der Kunst in mir zu erregen?

Meine Mutter, Emilie Rimpau, stammte aus einer alten Kaufmannsfamilie, die im Anfang des 18. Jahrhunderts aus Koppenbrügge nach Braunschweig eingewandert war. Die Familie hat sich seither drei Ge nerationen hindurch einen Namen gemacht durch ihre praktischen und wissenschaftlichen Erfolge in der Landwirtschaft. Ein älterer Bruder meiner Mutter, Wilhelm Rimpau (Langenstein), Freund und Mitarbeiter Liebigs, hat durch seine Kulturen und Züchtungsversuche ebenso sehr wie durch seine Arbeiten für den Kreis Halberstadt, dessen Landrat er lange war, und für Preußen überhaupt als eifrigstes und bedeutendstes Mitglied der Bonitierungskommission eine erfolgreiche Tätigkeit entwickelt. Der jüngste Bruder Hermann Rimpau (Cunrau) gab durch die Anlegung von Moorkulturen die Anregung zu einem ganz neuen, für die Kultivierung großer wüster Strecken in Preußen außerordentlich segensreichen Zweige der Landwirtschaft. Wilhelms gleichnamiger, zu früh verstorbener Sohn, mein Vetter und[7] Schwager, hat sich namentlich durch seine Getreideveredelung, die ihn in Beziehung zu Darwin brachte, bekannt gemacht und zwei andere Schwäger, Ferdinand Heine und Otto Beseler, sind in ähnlicher Richtung mit Erfolg tätig gewesen. Die jüngere Generation, meine Neffen, folgt würdig diesen Vorbildern.

Quelle:
Bode, Wilhelm von: Mein Leben. 2 Bde, 1. Band. Berlin 1930, S. 5-8.
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