Preußisches

[137] Berlin, die Altmark der Provinz Sachsen, sowie die Mark Brandenburg sind die Seele des Königreichs Preußen. Die Siegessäule, vergoldet und mit Mitrailleusen aus dem eroberten Frankreich gespickt, ragt hinaus im Tiergarten. Die Viktoria auf dem Brandenburger Tor ist nebst dem Großen Kurfürsten auf der langen Brücke das vollendetste Kunstwerk, das die Reichshauptstadt besitzt.

Vor dem großen Weltkriege wimmelte Berlin voller geschäftiger Leute und Militärs. Berühmt war von jeher der rege Eifer und der energische Fleiß, womit jeder Kaufmann, Künstler und Handwerker seinen Geschäften oblag. Als wenn der Korporalstock König Friedrich Wilhelms des Ersten auf dem Rücken der Untertanen noch unablässig herumfuchtelte. König Friedrich Wilhelm der Erste ist der personifizierte Regent des Königreiches, noch vielmehr als sein Sohn Friedrich der Große. Wie einen rocher de bronce hat er stabiliert bis heute als Erster des Staates. Das Soldatenwesen dieses Sparta-Volkes ist bis auf ihn zurückzuführen. Mut und Tapferkeit und Siegesbewußtsein impfte er bis in den letzten Gemeinen ein und der Unteroffizierstand und der Offizierstand sind für einige Zeiten bewunderungswürdig und mustergültig geblieben. Der adlige Leutnant und der bürgerliche Feldwebel sind die vollendetsten Beispiele für Gleichheit und Brüderlichkeit und sogar für »Freiheit«, weil die eiserne strenge Disziplin und das Zusammenschweißen miteinander auf Tod und Leben eine gewissermaßen freiwillig übernommene geworden[137] ist. So haben die Namen von Lüderitz oder Pannewitz dieselbe Bedeutung wie der Vizewachtmeister Gottlieb Friedrich Wilhelm Schulze. Und für spätere Geschlechter werden sie im Bewußtsein der Vergangenheit fortleben wie die Herren Ulrich von Hutten oder Götz v. Berlichingen.


1. November 1918

Die Sachen entspinnen sich immer verworrener. Man glaubt bestimmt, daß Waffenstillstand und Friede angeboten werden; anstatt dessen verspitzt es sich auf den Zusammenbruch nach Österreich. Der Deutsche Kaiser dankt nicht ab.

Man murmelt stark von einem Sonderfrieden Bayerns.

Alles wird hin sein.

Preußen steht dann allein.

Die Zukunft ist schwarz, schrecklich. Vor lauter Feinden ist kein Ausblick. Und doch fühle ich mich noch als Preuße und erhoffe von diesem Staate noch die einzige, wenn auch noch so kleine Rettung. Selbst der Kaiser – so schwer er sich versündigt hat, soll bleiben und vielleicht hilft etwas die Kraft des Militärs – wenn es nicht auch schon untergraben ist.

Von Helgoland über Hamburg in einer Senkrechten nach Magdeburg – Leipzig – München ist der Strich, welcher links und rechts die Grenzen teilt. Polen nimmt noch Danzig und treibt so den Keil, und das Land des Marquis de Brandenbourg ist fertig.

Doch was nützen alle Prophezeihungen.


3. November 1918

Ohne daß man nur das Geringste tun kann, werden die Verhältnisse immer verzweifelter. Wird Deutschland von der Landkarte gestrichen?[138] Die Feinde Frankreich und England möchten es. Niemand ist da, der das frühere europäische Gleichgewicht balancieren könnte. So bleibt nur die Hoffnung, daß die klügsten der Feinde den gierigsten Einhalt gebieten. Das sind: England und Amerika.

Sonst ist alles hin!

Und doch ist Deutschland kein Staat, welcher dem Untergang geweiht ist. Die Kraft, mit welcher er sich in fünfjährigem Kriege der Unmasse der Feinde erwehrt hat, wird stets bewunderungswürdig bleiben. Selbst jetzt noch könnten wir gegen die ursprünglichen Feinde wohl bestehen. Ob dieser Heroismus in der Geschichte gewürdigt werden wird?

Ein Faktum kommt endlich zum Vorschein. Türkei und Bulgarien sind zu Kreuz gekrochen und Deutschland ist dem Feinde offen. Natürlich wird es ein Gewaltfrieden ersten Ranges. Deutschland ist hin, aber eine neue Welt entsteht jetzt, zu wessen Gunsten ist wieder eine andere Sache. England hat glänzend gewonnen. Wie es uns gehen wird, müssen wir abwarten. Alles scheint besser als Rätsel der Zukunft lösen. Das Werk Bismarcks und der Hohenzollern hat aufgehört zu leben – Tot?

Mit Stolz tot? Eine Welt von Feinden hat uns endlich besiegt! – – –


5. November 1918

»Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinsinkt,

Priamos selbst, und das Volk des lanzenkundigen Königs.«


* * *[139]

Quelle:
Corinth, Lovis: Selbstbiographie. Leipzig: Hirzel, 1926., S. 137-140.
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