In Ballenstedt

[149] Ungefährdet hatten wir das Ziel unserer Reise erreicht und waren im Barduaschen Hause aufs beste aufgenommen. Man hatte uns die ganze obere Etage eingeräumt, einfache, helle und geräumige Zimmer, wie[149] die Mutter sie liebte, mit freier Aussicht nach allen Seiten. Gegen Morgen sah man über Gärten weit in das Land hinaus bis auf die fernen Türme Bernburgs, Nach Abend baute sich das nahegelegene Ballenstedter Schloß hoch und stattlich auf seinem grünen Wallberge auf, und gegen Mittag begrenzten die waldigen Berge des Tiergartens unmittelbar den kleinen, wohlgepflegten Küchengarten des Hauses. Da endlich mein arbeitsamer Vater gleichfalls nach Norden freies Licht zum Malen fand, so entsprach diese Wohnung allen Bedürfnissen und Wünschen aufs allerbeste, und man richtete sich gar behaglich darin ein.

In der unteren Etage hausten unsere Gastfreunde, bei denen wir auch speisten. Der Hausvater Bardua, schon ziemlich hoch in Jahren, war herzoglicher Kammerdiener. Er war ein würdiger, freundlicher und bescheidener Mann, von seinem Fürsten und von jedermann geschätzt. Wir Kinder wurden schnell mit ihm vertraut und nannten ihn Großvater. Da ihn indessen sein Beruf fast unausgesetzt an die Person des Fürsten knüpfte und er wenig zu Hause war, hatte die Sorge für die Familie von jeher vorzugsweise in den Händen seiner klugen Frau gelegen. Diese war in ihrer Art sehr ausgezeichnet. Lebhaft und tatkräftig, hatte sie sich in jüngeren Jahren tüchtig gerührt, und alles, was sie unternommen hatte, war gelungen. Sie hatte den Wohlstand des Hauses geschaffen und ihn durch die Erziehung ihrer sehr begabten Kinder auch für die Zukunft gesichert. Ihr ältester Sohn war bereits in Koswig bei einer Landesbehörde angestellt, der jüngere besuchte noch das Bernburger Gymnasium. Wir fanden somit nur die beiden Töchter vor, die wackere Malerin Karoline und ihre jüngere Schwester Minchen, ein sehr geistvolles, wohlaussehendes Mädchen von etwa fünfzehn Jahren, das sich mit uns Kindern gern zu schaffen machte.

Außer dem obberegten Hausgärtchen besaßen Barduas noch einen großen Obstgarten – von der Bienenzucht, die früher dort betrieben worden, der »Bienengarten« genannt –, welcher als Enklave des herzoglichen Tiergartens mitten im Walde lag. Dieser Garten war seines herrlichen Obstes wegen berühmt, und namentlich war er reich an Pflaumen aller Arten und Gestalten. Hierher brachte Minchen uns vor allen Dingen, und während sie, mit der kleinen Schwester spielend, Puppengärten baute, fraßen wir Knaben uns tief in die Reineclaudenbüsche ein. Auch die gelben Pflaumen mit rotgesprenkelten Bäckchen, die großen Eierpflaumen und Muskatellerbirnen schmeckten uns recht sehr. Es ist unglaublich, welche Massen Obstes Kinder vertragen können; wir hatten das früher selbst nicht so gewußt und hielten Göttermahle, die unvergeßlich blieben.

Waren wir satt, so schwand das Interesse an dem Garten, er wurde uns[150] zu eng trotz seiner Größe. Wir zogen dann die nächste Umgebung vor, ein bergiges, mit Niederholz bestandenes Terrain, weite Blicke von den Höhen und in den Niederungen trauliche Verstecke – was konnte es zum Spielen Besseres geben! Mein Bruder und ich gefielen uns so in dieser Wildnis, daß wie beschlossen, uns hier ansässig zu machen. Wir bauten an der Blanke des Bienengartens ein Ding von Steinen, das wir, gelehrt, wie wir waren, »Arx nemorosa«, die Hainburg, nannten. Behufs des Burgfriedens wurden Gesetze erfunden, als deren wesentlichstes ein unverbrüchliches Schweigen galt, nicht nur, damit jeder denken konnte, was er wollte, sondern auch, um Vögel und andere Tiere nicht zu verscheuchen.

Als wir fertig waren, bezogen wir das Schloß, das freilich nur aus Grundmauern bestand; aber wir dachten uns das übrige hinzu. Dort lagen wir regungslos in tiefster Stille, blickten in das grüne Laubdach der überhängenden Birkenzweige, horchten dem Flüstern des Waldes, dem Hämmern des Spechtes und freuten uns des zarten Goldgitters, das die Sonne auf den rasigen Boden malte, wie der bunten Schmetterlinge, die darüber hinirrten. Wer uns so gesehen, hätte uns für tot halten mögen, und vielleicht tat auch dies die schlanke, weiße Hirschkuh, die eines Morgens ganz in unserer nächsten Nähe aus dem Dickicht trat, wenn sie uns überhaupt bemerkte.

Aber im Augenblick waren wir lebendig und sprangen auf das Tier ein, wie die Pardel. Das stutzte, schreckte kurz auf, wandte sich auf den Hinterläufen, und fort ging die Jagd durch dick und dünn. Hatte das Wild seinen Vorsprung, so blieb es stehen und sah sich neugierig um. Dann duckten wir uns ins Heidekraut und suchten es auf allen vieren zu beschleichen, bis es aufs neue flüchtig ward.

Der Großvater Bardua hatte gesagt, daß man mit der Hand gefangene Hirsche behalten dürfe; nur müsse man sie beim Wedel fassen, dann seien sie gleich verloren. Solche Hoffnung gaben wir bald daran, aber wir hatten von unserer Jagd doch den Vorteil, das schöne Tier recht lange in Sicht zu behalten, und dieses vergnügte sich vielleicht nicht minder, mit uns zu spielen, bis ihm endlich die Sache nicht mehr anstand und es auf Nimmerwiedersehen abging.

Der Hirsch war fort und wußte wahrscheinlich, wo er war; wir wußten weder dies, noch wo wir selbst waren. Wir stießen indessen bald auf einen Jagdweg, und siehe da! ein leichtes Fuhrwerk flog daher, auf weichem Rasenteppich geräuschlos hinrollend. Man hörte kaum den Tritt der großen Rappen, nur hin und wieder das Anschlagen des Lederzeuges mit seinen silbernen Schnallen. Im Wagen saß ein stattlicher Herr im grünen Uniformsüberrocke und neben ihm ein Livreejäger, der die[151] Kugelbüchse hielt. Hintenauf war die Beute gebunden, ein schöner Damhirsch.

Wir traten zur Seite und grüßten ehrerbietig, denn darin waren wir einig, daß wir den Landesherrn gesehen hatten, von dem im Barduaschen Hause fortwährend die Rede war. Als wir bei Tisch viel Redens davon machten, wurde unsere Vermutung bestätigt, zugleich verwarnte man uns aber, von unseren Jagden als von polizeiwidrigen Freveln abzustehen. Den Herzog sollten wir bald deutlicher zu sehen kriegen.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 149-152.
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