Der Komet von 1806

[26] Wenn ich nun im vorigen Kapitel meiner Altersgenossen und väterlichen Freunde gedacht habe, zu denen allen ich mit einiger Bewunderung aufschaute, so wird's nun Zeit, auch von einem jüngeren zu berichten, der seinerseits zu mir aufschaute; und nur deshalb habe ich bis dahin meinen lieben Bruder Gerhard ignoriert, weil ich mich seines Eintrittes in die Familie nicht entsinne. Er taucht vielmehr in meiner Erinnerung ganz ohne Anfang auf, war da, wie auch ich da war, und schien sich ganz von selbst zu verstehen wie ein kategorischer Imperativ.

Proportioniert wie Raffaelische Kindergestalten mit starken Gliedern und vollen roten Backen, war er etwa drittehalb Jahr jünger als ich, entwickelte sich aber bei weitem kräftiger und schneller. Als er zehn Monate alt war, entdeckte man zufällig, daß er laufen konnte, und zwar ohne alles vorhergegangene Studium. Ein Fremder, der ihn seiner Größe wegen für zweijährig hielt, setzte ihn, da er ihm auf dem Schoße beschwerlich ward, ohne weiteres auf die Füße, und die erschrockene Mutter, welche glaubte, daß er fallen würde, war nicht wenig erstaunt, den kleinen Stöpsel ganz selbständig fortpilgern zu sehen.

Die Geburt dieses Bruders war übrigens wie der Aufgang eines kriegbringenden Kometen gewesen. Im Mai des Jahres 1806 hatte er das Licht der Welt erblickt, und schon im Oktober desselben Jahres übten die kriegerischen Ereignisse der Zeit den ersten Stoß auf Dresden.

Es war ein schöner Herbsttag, als mein Vater nach seiner Windbüchse langte und mit mir in den Garten ging, um Sperlinge oder anderes vogelfreie Geflügel zu erlegen, was er des öftern tat. Er war ein großer Schütze, nicht weniger mit der Büchse als mit dem Pinsel, denn ob er gleich nur mit Kugeln schoß, fehlte er sein Vögelchen nur selten.

Heute aber wollte sich keines zeigen, daher beschlossen wurde, den Garten zu verlassen und aufs Feld zu gehen, wo man bisweilen Krähen antraf. Still und wild durchschlichen wir die kleine Pforte in der Mauer und spähten ringsumher. Krähen waren nicht da – aber etwas ganz anderes nahm die Aufmerksamkeit in Anspruch. Mein Vater horchte auf; dann streckte er sich nieder auf den Feldrain und schien, mit dem Ohr am Boden, diesem ein Geheimnis abzufragen. Ich machte natürlich alles nach und empfand mehr, als daß ich's hörte, ein Zittern des Bodens, ein seltsames dumpfes Dröhnen, das sich periodisch wiederholte.[26]

»Das sind Kanonen«, sagte der Vater, warf die Büchse auf den Rücken und ging mit mir zur Mutter.

Es war eine große, verhängnisvolle Schlacht, deren fernes Grollen wir vernommen hatten: die Schlacht von Jena. Bald kannte man das Resultat in Dresden, und der erschrockenen Bevölkerung ward Plünderung angesagt durch ein im Anmarsch begriffenes Korps von Bayern.

Da hielten meine Eltern sich in ihrer exponierten Wohnung nicht mehr sicher und beeilten sich, inmitten der Altstadt ein anderes Logis zu mieten, welches an der Kreuzkirche gelegen war. Ich war beim Vater, der im neuen Hause die von der Mutter fortwährend expedierten Sachen empfing und ordnete. Da man indessen bei dem allgemeinen Trubel wenig auf mich acht hatte, so konnte es geschehen, daß ich plötzlich fort war.

Mein Vater glaubte, ich sei nach Hause gelaufen, und als er mich dort nicht vorfand, beauftragte er die Packträger, mich zu suchen, durchrannte in seiner Besorgnis auch selbst die Stadt nach allen Richtungen. In der Tat mag seine Verlegenheit nicht ganz gering gewesen sein. Ich konnte Schaden nehmen, der Umzug geriet ins Stocken, und Hannibal stand vor den Toren. Wenn er daher gesonnen war, mich mit ein paar tüchtigen Ohrfeigen zu begrüßen, so war das wohl erklärlich. Als er mich aber endlich auf dem Neumarkt fand, und zwar laut singend und vor Entzücken über das Durcheinander von Vieh und Menschen in die Hände klatschend, fing er an zu lachen und hatte mir die Desertion verziehen.

Es war indes nichts weniger als ungünstig gewesen, daß unser Umzug sich durch diesen Zwischenfall verzögert hatte, da er überhaupt nun unnütz wurde. Der Kurfürst hatte sich mittlerweile beeilt, in Napoleons Bundesgenossenschaft einzutreten, und die erwartete bayerische Kavallerie zog friedlich ein.

Mir schenkte damals Onkel Leis eine als bayerischen Ulanen kostümierte Puppe, gar vollständig und schön mit der ganzen Armatur. Mein Vater aber erlaubte mir, diesen Balg zu töten als einen Franzosenfreund und lieh mir dazu seinen Stocksäbel, mit dem er auch zerhauen wurde. Unendlich viele Kleie strömte zu meiner Verwunderung aus den Wunden. Solche Begebenheit ist gefeiert worden auf einem lebensgroßen, mich und meinen unvordenklichen Bruder darstellenden Bilde, welches mein Vater in jener Zeit malte und ich noch besitze. Der Bruder ist sitzend auf einem Kissen abgebildet, ein ausgestopftes Lämmchen, das sein Entzücken war, an die Brust drückend. Ich dagegen stehe hinter ihm, entschlossen, den Bayern mit einem ungeheuren Säbel abzutun.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 26-27.
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