Dienstboten

[27] Es schien, als ob mein guter Vater damals durch doppelt angestrengten Fleiß die Unruhe zu beschwichtigen gesucht hätte, die ihm das Schicksal seines deutschen Vaterlandes machte, denn fast gleichzeitig mit jenem Familienbilde führte er noch mehrere große akademische Stücke aus, deren allgemeine Anerkennung ihn in die erste Reihe der Künstler seiner Zeit stellte. Als Richtmaß und Regulatoren für seinen Geschmack benutzte er die ungewöhnlich reichen Dresdner Sammlungen, in denen er seine Augen häufig stärkte, und wo er Natur brauchte, bediente er sich eines schönen jungen Mannes von den Gardegrenadieren, den ich ebenfalls zu meinen nächsten Freunden zählte. Er hieß Talkenberg, und weil er sich gescheit und anhänglich zeigte, wurde er, soweit sein Dienst es gestattete, auch zu andern Dingen verwendet und gab den Aufwärter in unserem Hause ab.

Mir gefiel dieser Mars sehr wohl wegen seines freundlichen Gesichtes, seiner scharlachroten Uniform und blank geputzten Waffen, so daß ich mich stets freute, wenn ich ihm zum Behufe des Spazierengehens anvertraut ward. Er nahm mich dann gesellig bei der Hand und, neben ihm hertrabend wie eine Bachstelze neben einem Reiher, war ich stolz auf meinen herrlichen Begleiter, der mir lustige Geschichten erzählte, mich Steine werfen lehrte und Sperlinge mit Salz beschleichen. Weniger schmeichelhaft war seine Neigung, sich auf die Finger zu spucken und Katzenwäsche mit mir anzustellen, wenn er mich an Händen oder Gesicht beschmutzt sah. Da ich dies aber Leno klagte, in die er sehr verliebt war, nahm sie ihn dergestalt ins Gebet, daß er in sich schlug und fortan von solchem Laster abstand.

Bald nach dieser mir erwiesenen Wohltat schied das gute Mädchen für Niemalswiedersehen aus unserem Hause. Meine Mutter hatte sie einst von ihrem Vater als Leibeigene zum Geburtsgeschenk erhalten, sie sorgfältig für ihren Stand erzogen und sie immer als zur Familie gehörig betrachtet, wie denn überhaupt in angestammter Leibeigenschaft ein Band zu liegen scheint, das leiblicher Verwandtschaft ähnelt. Es ging ihr wohl bei uns, und gesetzt, dies wäre nicht der Fall gewesen, so war sie in Sachsen immer in der Lage, sich loszuketten, denn sie stand hier unter dem Schutz eines Gesetzes, das von Sklaverei nichts wußte. Auch fehlte es ihr keineswegs an Freunden, die jeden Augenblick geneigt waren, Gut und Blut mit ihr zu teilen, da nicht allein Talkenberg ihr den Hof machte (was wenig sagen wollte), sondern auch ein paar achtbare Handwerker, die für unser Haus arbeiteten, keinen Anstand nahmen, wiederholt um sie zu werben.[28]

Wunderlicherweise aber schlug sie alles aus und hatte nur den einen und einzigsten Gedanken, nach Estland zurückzukehren, wo sie wieder Sklavin geworden wäre und nicht einmal mehr Angehörige hatte, denn sie war als elternlose Waise auf den Harmschen Hof gekommen. Leno war eben heimwehkrank geworden und drohte jener aller Vernunft spottenden Sehnsucht zu erliegen, die um so heftiger ist, je weniger Grund sie hat, indem sie vorzugsweise die Bewohner wilder und unfruchtbarer Gegenden anpackt. Nicht nur Schweizer, auch Finnen, Lappen, Kamtschadalen und Eskimos, das sind die Leute, die bei uns im Mittelpunkte der Zivilisation vor Heimweh sterben, während Deutsche in den rohsten Ländern prosperieren. So zeichnen sich auch die Esten durch eine krankhafte Abhängigkeit von den Einflüssen ihres abgelegenen Landes aus, das, etwa wie Dänemark für die Dänen, für sie die Welt ist oder das All und daher auch gar keinen Namen hat. Der Este nennt sein Land ganz einfach »Me«, d.h. überhaupt Land, hier das Land der Länder, so wie die Bibel auch keinen anderen Namen hat als das Buch, weil sie das Buch der Bücher ist.

Nun war mein Vater zwar nur für kurze Zeit nach Deutschland gekommen, und obgleich sein Aufenthalt sich unerwartet verlängert hatte, war doch die Idee, demnächst zurückzukehren, nichts weniger als aufgegeben. Die Eltern lebten in Dresden gewissermaßen auf reisendem Fuße, und von der Rückreise war stets die Rede. Ja, mein Vater hatte sogar schon seinen strohgelben Wagen durch den auf der Seegasse wohnenden – als Astronom wie als Wagenbauer gleichberühmten – Sattlermeister Eule vergrößern und in eine viersitzige Karosse umwandeln lassen, um für die anwachsende Familie Raum zu schaffen. Da nötigte ihn der Krieg in Preußen, die projektierte Reise wieder aufs Ungewisse hinauszuschieben.

Leno, mit dem Bohrwurm ihres Heimwehs am Herzen, hatte eben wie wir anderen den neuen, jetzt dotterfarbigen Wagen in Augenschein genommen und geprüft. Sie hatte sich auf den Bock geschwungen und mit dem ganzen Gesicht geleuchtet, als blicke sie schon ins Land der Länder. Aber als meine Mutter ihr nun ankündigen mußte, daß so bald nichts aus der Reise werden könne, war sie in ihrem Gemüt und Wesen wie zerbrochen und machte ernstlich Sorge. Der armen Mutter selbst mochte es kaum weniger schmerzlich sein, ihren liebsten Wünschen zu entsagen; aber sie schickte sich in die Notwendigkeit und fand für ihre Leno einen Ausweg.

Meine Eltern verkehrten damals häufig mit einer livländischen Familie von Löwenstern, die ein Landhaus in Brießnitz bewohnte. Wenn wir bei ihnen waren, gab es immer allerlei Lustbarkeiten, kleine Elbfahrten,[29] Illumination des Gartens, Feuerwerk und dergleichen Dinge, die ganz meinen Beifall hatten. Meiner nahmen sich dann besonders die Töchter des Hauses an, schöne junge Mädchen, die mich mit Süßigkeiten stopften und mit mir spielten. Mit ihnen entsinne ich mich eines Abends ein seltenes Phänomen gesehen zu haben. Es war schon dunkel, als wir vor der Terrasse des Hauses, tief unter uns auf den Elbwiesen, kleine herumschlüpfende Lichter bemerkten, sechs Flämmchen, die bisweilen paarweise, dann wieder auseinanderfahrend, lustig umherschweiften, und zwar mit einer Schnelligkeit wie laufende Menschen. Das seien Irrlichter, sagten die Mädchen, die sähen sie hier öfter. Sie erklärten mir auch die Sache, so gut sie konnten, und sprachen von »fixer Luft«, über welchen Ausdruck ich sehr lachen mußte; doch begriff ich schon, daß fixe Luft etwas Apartes sein müsse. Wenn wir uns nicht täuschten, sind dies die ersten und letzten Irrlichter gewesen, die mir in meinem Leben vorgekommen sind.

Löwensterns nun sahen sich genötigt, trotz Krieg und Kriegsgeschrei nach Wolmarshoff, ihrem Stammsitz in Livland, zurückzugehen, und da Frau von Löwenstern zufälligerweise in Verlegenheit um eine Jungfer war, so lag es nah', ihr Leno anzubieten. Meine Mutter wollte diese jedoch nur als freies Mädchen in fremde Hände geben und überraschte sie daher bei ihrem Abzug mit einem in aller Form Rechtens ausgestellten Freibrief.

Daß es Fälle gibt, wo die Erfüllung unserer heißesten Wünsche uns doch aufs schmerzlichste berührt, hätt' ich hier lernen können, denn das arme Mädchen weinte bitterlich, als es unser Haus verließ, und ich und meine Mutter weinten auch. Talkenberg aber begleitete sie, ihre Effekten tragend, zu ihrer neuen Herrschaft. Hier nahm er Gelegenheit, sie bis zu ihrer Abreise noch ab und zu zu sehen, dann aber ging er hin, betrank sich und schmetterte ingrimmig, wie er war, dem Posten an der Hauptwache eine faule Birne ins Gesicht, wofür er zu meinem Leidwesen Stockprügel und Arrest erhielt. Leno fand übrigens ihr Glück in ihrer Heimat. Sie blieb nur kurze Zeit bei Löwensterns und heiratete dann einen wohlhabenden deutschen Bürgersmann in dem Städtchen Wolmar, mit dem sie ein zufriedenes Leben führte.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 27-30.
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