Musikalische Leistungen

[297] Marie hatte eine überaus herrliche Sopranstimme und sang mit größtem Beifall, namentlich ihres Vaters, der häusliche Musik sehr liebte; doch war es ihr beschwerlich, sich selber zu begleiten, ein Hindernis, an dem die Freude öfters scheiterte. Ich meinerseits hatte schon seit ein paar Jahren Klavierstunden gehabt, die auch in Bernburg weitergingen, nicht weil ich besondere Freude an der Musik gehabt hätte, am wenigsten an derjenigen, die ich selber machte, sondern weil die Eltern es so haben wollten. Jetzt kam ich auf den Gedanken, diese Stunden zur Einübung der Begleitungen für Mariens Gesänge auszubeuten, und das gab neuen Eifer. Mit einer solchen Sängerin zusammenzuwirken, war herzerhebend, schmeichelhaft und auch sehr dankbar, denn der Ätti hörte seine Tochter nun um so öfter singen. Marie sang mit Lust für ihren Vater, mit größerer Lust spielte ich für sie, und so kamen wir alle drei auf unsere Rechnung.

Je besser aber unsere Hauskonzerte jetzt von Tage zu Tage klangen und gelangen, je mehr auch wuchs mein Interesse für die Musik an sich, und es entstand zuzeiten ein immer wärmeres Verlangen nach selbständigerer Leistung. Nur das Klavier schien mir dazu nicht recht geschaffen. Wohl war es insoweit gar nicht übel, als es mich in zweckmäßigere Berührung mit Marien brachte, als jener ingeniöse Einfall mit dem Popanz dies vermocht hatte, außerdem aber, und für sich selber, langweilte mich der herzlos hämmernde Ton desselben um so mehr, als[297] sich der Klang damaliger Instrumente zu den heutigen noch obendrein wie Kindertrommeln zu Kesselpauken verhielt. Welch eine andere Lust und welch himmlisches Vergnügen, dachte ich, müßte es sein, wenn diese Tasten sängen, etwa wie Mariens Stimme, oder wenn es auch nur wie Violinensaiten wäre. Mein Klavierlehrer, ein Herr Schmelzer, welcher Organist an der Ägidienkirche war, warf mir vor, daß ich zu wenig übe. »Ja!« seufzte ich, »wenn das Ding nur besser klänge, aber dieses Klimper-Klamper ennuyiert einen auf die Länge.« Da schlug der gute Mensch mir auf der Stelle Orgelstunden vor.

Wer war glücklicher als ich, als wir zuerst das Orgelchor erstiegen und Schmelzer mich vor allen Dingen in die Eingeweide des Rieseninstrumentes führte, mir dessen Mechanismus zu erklären. Da standen die Pfeifen wie Regimenter aufmarschiert, eiserne und hölzerne, dickleibige und schlanke, fingerlange Zwerge und haushohe Giganten in dichtgedrängten Reihen neben-, über- und untereinander – eine gewaltige Heerschar; und wenn sie alle auf einmal ihre Stimmen erheben wollten, sagte Schmelzer, so würden die Kirchenfenster platzen wie beim Kanonendonner.

Im Kommando dieser braven Schreier sollte ich nun geübt werden und widmete mich dem neuen Studium mit allem Eifer. Zwar verursachte mir die ungewohnte Handhabung oder vielmehr Fußhabung des Pedales anfänglich einige Wadenkrämpfe, die jedoch überwunden wurden, und schon nach Wochen munterte mich mein Lehrer auf, demnächst beim Ausgange des Gottesdienstes den Ausfeger zu spielen, indem er bemerkte, daß nur derjenige den rechten Vollgenuß an einer Kunst habe, der sich getraue, sie auch öffentlich auszuüben. Ein leichtes Stückchen ward zu diesem Zwecke bis zum Überdrusse eingeschult, so daß ich's mit geschlossenen Augen spielen und der Öffentlichkeit mit Zuversicht entgegensehen konnte.

Als die Zeit sich aber erfüllt hatte, als der Ätti amen sagte und der Schlußvers gesungen war, da war's anders. Eine widerwärtige Unsicherheit fuhr mir in die Eingeweide, und mühsam kroch ich auf die Orgelbank. Nun war auch der Segen gesprochen, der Ätti schwieg und – gleichermaßen schwieg die Orgel. Da stieß mich Schmelzer an: »So treten Sie doch los!« und los trat ich. Ob es die rechten Tritte waren, und ob das Manual recht einfiel? – ich muß das ungesagt sein lassen; aber die Kirche leerte sich im Umsehen.

Während des Mittagessens äußerte der Ätti sein Befremden über jenen Exodus der Orgel. Schmelzer, sagte er, wähle zu gelehrte Musik, und solche Dissonanzen seien fast unerträglich. Da errötete ich aufs lieblichste und gestand, ich sei's gewesen. »Nun«, erwiderte der Ätti,[298] »beruhige dich, mein Jüngelchen! Kein Meister wird geboren, und immerhin hast du die Gemeinde schnell genug hinausgebracht.« Auch ließ ich mich durch dies Debüt von meiner Orgel nicht verscheuchen und rettete meine Ehre wenigstens insoweit, als ich in der Folge zu mehrerer Zufriedenheit des Ätti spielte.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 297-299.
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