Roller und seine Gemeinde

[356] Man sollte meinen, daß ein Verkehr des Pastors mit seinen Pfarrkindern, wie der eben geschilderte, den Respekt gefährden müsse, und allerdings möchte das auch überall der Fall sein, wo einer es sich beikommen lassen wollte, dergleichen zu kopieren. Roller aber war ein König, dem trotz seiner vielfachen Auffälligkeiten niemand die Achtung zu versagen wagte, die er beanspruchte. Seinen Bauern war er zudem in allen Stücken überlegen, nicht bloß an Charakter, Geist und Bildung, sondern, was sie besonders respektierten: er hatte auch das Zeug, sie in ihrer Wirtschaft zu beraten, und zwar bis auf die kleinsten Handgriffe ihrer Arbeit. Wenn er durchs Dorf ging und bemerkte, daß einer etwas nicht ganz richtig angriff, etwa beim Schnitt des Weinstocks oder der Obstbäume, beim Setzen eines Zaunes, dem Decken eines Strohdachs und so weiter, so legte er auf der Stelle Hand an und zeigte, wie man's besser mache. Endlich wußten es die Leute, daß ihr Pastor auch in Gefahren stets voran war. Der erste bei der Spritze oder auf der Feuerleiter, hatte er schon mancherlei Unglück gemindert und verhindert und während des letzten Krieges mehr als einmal durch entschlossenes Dazwischentreten die Brutalität fremden Volkes im Zaum gehalten.

Als Theolog war Roller, soweit dies ohne Engherzigkeit zu denken ist, von entschieden orthodox-lutherischer Gesinnung und jeder modernen Neuerung in Lehre und Kultus abgeneigt. Er war stolz darauf, daß seine Kirche sich durch den Einfluß ihrer Patrone noch das alte Dresdner Gesangbuch mit den Originalliedern des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts erhalten hatte, und die Agende, deren er sich bediente, mochte ebenfalls noch aus Luthers Zeiten stammen, daher die Gottesdienste in Lausa noch die volle Würde uralt angeerbter kirchlicher Sitte hatten. Vor allem aber war Roller ein rechter Pastor, unverbrüchlich treu in seinem Amte, das er in Kirche, Schule und Haus mit hoher Lust verwaltete und dessen Ansehen er kräftig aufrechtzuerhalten wußte. Seine Gemeinde liebte er wie eine angetraute Braut, war hilfreich gegen jedermann ohne Ansehen der Person, niemals in Konflikten wegen mein und dein, und wer einen Freund brauchte, wußte, daß er im Pfarrhause zu finden sei.[356]

Einem solchen Manne wird es nie an Achtung fehlen, selbst nicht von seiten seiner Feinde, an denen auch unser Pastor selten Mangel hatte, weil er jedem ins Gesicht zu sagen pflegte, was er dachte, und dies war bisweilen nichts weniger als verbindlich. Er wußte seinen Widersachern aber stets zu imponieren, und so sehr sie ihn hinterrücks verlästerten, hätte sich doch keiner unterfangen, ihm Stirne gegen Stirne zu widerstehen; nicht einmal wagten sie es, seine Einladung abzulehnen, und indem sie mit ihm wie gute Kinder um gebackene Pflaumen spielten, wurden sie meist wieder versöhnt. Prinzipielle Feinde, das heißt solche die ihn des Evangeliums wegen haßten, hatte er in der Gemeinde schwerlich, außerdem aber in allen Klassen der Gebildeten und Rohen, und zwar je weiter ab, je reichlicher. Bekannt war er seiner isolierten Glaubensstellung wegen durchs ganze Land, gekannt nur wenig, und wo man ihn nicht kannte, hielt man ihn für einen Heuchler oder Schwärmer, wie jeden, dessen Gedankengänge nicht die der Menge sind. Aus diesen Gründen war ihm die geistliche Behörde nichts weniger als hold, aber da weder sein Leben noch seine Amtsführung bemerkliche Blößen boten, seine Predigt auf dem Grunde des zu Recht bestehenden Bekenntnisses fußte und keine Klagen aus der Gemeinde eingingen, so mußte man ihn schon unangefochten lassen. Ihm selber war es gleichgültig, was die Welt von ihm urteilte; ein jeder Beweis von Liebe aber seitens seiner Kirchkinder oder Freunde konnte ihn sehr hoch erfreuen.

Überaus lieblich war der Verkehr dieses anscheinend harten Mannes mit den Kindern, die ihm durchaus verständlich waren, und er ihnen. Ihre Art, zu denken und zu empfinden, stand der seinigen viel näher als die der meisten Erwachsenen. »Wenn ich ein Kind sehe«, sagte er, »so geht mir ein süßer Pfeil durchs Herz.« Er liebte alle Kinder, die häßlichen wie die schönen, und betrachtete sie mit einer gewissen Ehrfurcht, weil ihre Engel allezeit das Angesicht des himmlischen Vaters sehen. Daher trieb er auch keine Albernheit mit ihnen, neckte sie nicht und wurde gegen sie nie ärgerlich oder heftig, sondern hatte mit ihnen die Geduld und Nachsicht einer Mutter, wofür sie ihrerseits mit der zutraulichsten Zärtlichkeit an ihm hingen. Wenn er zur Feierabendzeit mit seinem hohen, aus einer gewaltigen Weinrebe geschnittenen Stabe durchs Dorf spazierte, um diesen oder jenen heimzusuchen, schossen die Kleinen aus Häusern und Gärten hervor, küßten ihm die Hände, liebkosten ihn und ließen sich von ihm liebkosen. Häufig begleitete ihn ein ganzes Völkchen weithin auf seinen Wegen, indem er sich so ruhig und vernünftig mit ihnen unterhielt wie mit Erwachsenen.

Es war daher ein Fest für alle Kinder, größere wie kleinere, wenn[357] der Herr Pastor mit der Dorfschule spazierenging. In Reih' und Glied ward ausgezogen, mit Fahnen und Gesang, nach irgendeinem schönen Punkt am Wasser, und während hier die Mädchen Holz zusammentrugen, Feuer machten und das vom Pfarrhaus gelieferte Brot in gleichmäßige Stücke schnitten, durchfischten die Knaben den Bach auf weite Distanzen hin mit Angeln, mit Hamen oder auch mit der bloßen Hand, wie es jeder konnte. Dann wurde der Fang, gewöhnlich ansehnliche Massen von kleinen Schmerlen, Weißfischchen und Gründlingen, in die bereitstehenden Töpfe mit siedendem Wasser geschüttet und mit Zwiebeln, Butter und Salz vollständig zu Brei gekocht. Die größeren Mädchen waren die Köchinnen, der Pastor selbst verteilte das fertige Gericht in der Art, daß jedes Kind eine tüchtige Brotschnitte mit einem Löffel voll daraufgekellter Fischlatwerge erhielt. Wie gut das schmeckte, ist nicht zu sagen.

Nach getaner Mahlzeit wurden von Roller selbst auf bekannte Melodien gedichtete Kinderlieder gesungen und zwischendurch erbauliche oder belustigende Geschichten erzählt, wie es gerade paßte. Man konnte kein heitereres Bild sehen als diese frischen Bauernkinder bunt durcheinander, im sonnigen Heidekraut um ihren stämmigen Pastor gelagert, die kleinsten ihm zur Seite, sich zärtlich an ihn schmiegend, und alle an seinem Munde hängend oder andächtig die Augen niederschlagend, wenn sie sangen.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 356-358.
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