Die Geisterpost

[224] Nach dem Abendessen pflegte die kleine Hausgenossenschaft noch auf ein Stündchen gesellig beieinanderzusitzen, und auch der alte, neunzigjährige Bediente war nicht ausgeschlossen. Dieser, ein veritabler polnischer Edelmann, ein Herr von Franzisec, hatte vorzeiten in seinem Vaterlande – das signum nobilitatis, den Säbel, an der Seite – an Reichstagen, Königswahlen und Revolutionen ganz wacker teilgenommen, obgleich er nie was anderes gewesen war als ein Bedienter. Jetzt ruhte er von Ehren wie von Diensten, saß abends in der Ecke, schnitt Späne und schlief regelmäßig dabei ein. Ich meinerseits machte Schwefelhölzer für die Küche oder zeichnete, Fräulein Fritze drehte ihre Tabatiere zwischen den Fingern, die beiden andern Damen spannen. Dabei sprach, fragte oder erzählte jedes, was ihm einfiel, aber das Beste wußte immer Fräulein Lore. Sie sprach wie ein Buch, und mit Lust hing mein Auge an ihrem alten reinlichen Gesicht, wenn sie so Wunderbares aus der Vergangenheit berichtete. Sie erzählte meist von ihren eigenen oder ihrer Eltern und Verwandten Erlebnissen, alte kuriose Hofgeschichten, und wie die Schweden ins Land gefallen oder Friedrich der Große Dresden bombardiert hatte. Leider sind die beiden folgenden Histörchen das einzige Zusammenhängende, was mir von alledem wenigstens der Substanz nach geblieben ist. Die Ausführung[224] ergänze ich je nach der Individualität der Gesprächsteilnehmer.

Die Rede war auf den berüchtigten Schrepfer gefallen, der seinerzeit in Dresden Aufsehen machte. Ich fragte, wer er eigentlich gewesen sei und was er getan habe, und Fräulein Lore ließ sich etwa folgendermaßen vernehmen:

»Schrepfer«, hub sie an, »war seines Zeichens ein erzschlauköpfiger Leutebetrüger und verstand sein Handwerk aus dem Grunde. Er wußte die Menschen so zu verblenden, daß sie das Unwahrscheinlichste für wahr hielten und mit ihm nach dem Stein der Weisen suchten. Dieser Stein – fügte Fräulein Lore zu meiner Belehrung hinzu – war aber eigentlich gar kein Stein; vielmehr wurde das Geheimnis einer gewissen Essenz oder Flüssigkeit nur so genannt, welche freilich schon des Nachsehens wert gewesen wäre, denn sie sollte alle Krankheiten heilen, alte Menschen verjüngen, Blei in Gold verwandeln und mit Geistern in Verbindung bringen.«

»Dummheiten waren's«, unterbrach Fräulein Fritze, »und es hätte mancher besser getan, davon zu bleiben, so hausten seine Töchter nicht auf Weinbergen, wären heute noch gute Partien, so alt sie sind, und das Wettermädel, die Male, säße auch auf einem breiteren Gestell.«

»Es hätte ja wohl manches besser sein können«, fuhr die Erzählerin fort, »wenn's anders gewesen wäre; aber wer konnte denn dafür? Im Fieber deliriert man, und man hatte damals eine Art von Wechselfieber. Man wollte Blei in Gold verwechseln, und es waren nicht die Dümmsten, die das wollten. Wenigstens waren es die Angesehensten und Reichsten, denn um die Armen, die es am nötigsten gebraucht hätten, bekümmerte Herr Schrepfer sich so wenig, als ob sie gar nicht auf der Welt gewesen wären. Aber mit Fürsten, Grafen und hohen Staatsbeamten fand er sich zusammen, verschloß sich mit ihnen in heimliche Goldküchen, vertröstete sie von einem Jahr aufs andere und prellte sie endlich gründlich.«

»Und merkten sie's denn gar nicht?« fragte ich.

»Ebensowenig«, fuhr die Alte fort, »als ich und du was gemerkt hätten. Er hatte sie zu sehr verblüfft, denn er machte Dinge, die kein Mensch begreifen konnte. So zum Beispiel lebte damals in Dresden[225] ein gewisser Herzog Karl von Kurland, ein Prinz aus dem sächsischen Hause, den die Russen von Mitau vertrieben hatten. Der residierte in dem schönen Palais am Wall, zwischen dem Gewandhause und dem Pirnaischen Tor, was jetzt die chirurgische Akademie ist. Dort versammelte sich bisweilen des Abends eine kleine Gesellschaft von Herren, die im Vertrauen des Herzogs standen, unter ihnen auch mein Vater. Es waren zwanglose kleine Soupers; man aß und trank und lachte und plauderte ohne Gene.«

»Unnützes Zeug nämlich«, ergänzte Fräulein Fritze, indem sie eine Prise nahm, »horrende Geschichten von Liebschaften und dergleichen. Merke dir's, junger Bengel! daß du dich nie mit Liebschaften breitmachst!«

Fräulein Lore streichelte mir das Haupt und sagte: »Das wird er ja wohl niemals tun!« Dann fuhr sie fort: »Die Unterhaltung jenes Abends brachte der Gesellschaft freilich keinen Nutzen. Herr Schrepfer, der damals anfing, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, war ebenfalls anwesend, und da er sich mit den kurländischen Verhältnissen nicht unbekannt zeigte, so beschränkte sich die Unterhaltung bald auf dortige Erinnerungen, denen sich der Herzog mit Vergnügen und in bester Laune hingab. Hundert Dukaten, rief er, indem er sein Glas auf den Tisch stieß, gäbe er darum, zu wissen, was jetzt eben die tolle Gräfin X mache.

Der Herzog mochte das freilich nur so hingesagt haben, denn wer hätte ihm Auskunft geben sollen? Aber um so mehr war man erstaunt, als Herr Schrepfer sich erbot, die gewünschte Nachricht zu schaffen. Er wollte augenblicklich, sagte er, einen Brief nach Mitau befördern, nur müsse der Herzog zurückdatieren, damit die Sache dort nicht auffiele, und mit der Antwort dreißig Minuten Geduld haben.

Unmöglich! rief mein Vater; der beste Renner könne in dreißig Minuten keine drei Meilen machen, geschweige denn dreihundert, und die Antwort wolle auch geschrieben sein.

Die dreißig Minuten, sagte Schrepfer, seien nur die Antwort, sein Bote brauche gar keine Zeit. ›Schreiben Ew. Durchlaucht!‹ fügte er hinzu, ›ich setze hundert Dukaten gegen die ihrigen.‹

Da schickte der Herzog nach Papier und Feder, schrieb, siegelte, adressierte, und Schrepfer reichte den Brief mit unverständlichem Gemurmel zur Türe hinaus. Der Herzog aber sagte leise zu meinem Vater: ›Behalte Er die Augen offen, daß der Kerl uns keinen Streich spielt!‹[226] Nun wußte niemand, ob es Zufall war oder was sonst, aber indem der Brief verschwand, erhob sich draußen ein Orkan. Der Sturm schlug wie mit Fäusten gegen die Fenster, polterte im Kamin und riß Ziegel von den Dächern; es war ein schrecklicher Aufruhr in der Natur. ›Ein schlimmes Wetterchen‹, bemerkte Herr Schrepfer, indem er sich die Hände rieb und die Unterhaltung in früherer Weise fortzuführen suchte. Den anderen Herren war die Sache unheimlich. Gespannt, was werden würde, zogen sie ihre Uhren aus den Taschen, und das Gespräch ward schleppend; bald schwieg man gänzlich. Das Unwetter draußen hatte sich gelegt, und auch im Zimmer war es so still geworden wie in einer Uhrmacherwerkstatt. Es war nichts zu hören als das Ticken der Taschenuhren, deren jeder die seinige vor sich liegen hatte, um den Gang des Minutenzeigers zu verfolgen.

›Nur noch drei Minuten‹, sagte der Herzog endlich. ›Er wird sich dazuhalten müssen, Monsieur Schrepfer!‹ In demselben Augenblicke fuhren alle Köpfe auf, und aller Augen starrten nach dem hohen Fenster des Gemaches, an welchem man ein scharfes Pochen vernahm, wie von dem Schnabel eines großen Vogels. Schrepfer eilte hin, schob den Vorhang zurück, öffnete und langte einen Brief herein, den er dem Herzog überreichte.

Der Herzog unterzog das Kuvert genauer Prüfung. Es mochte ihm auffallen, daß das Siegel schwarz und die Aufschrift von fremder Hand sei. Ob das Schreiben auch nichts Unangenehmes enthalten werde, fragte er. Schrepfer erwiderte, Se. Durchlaucht könnte es ja ungelesen in den Kamin werfen, würde aber natürlich die Wette damit verloren geben. Da brach der Herzog das Siegel auf und entfaltete den Brief. Aber seine Züge verfinsterten sich, er fuhr sich ein paarmal mit der Hand über die Stirn, warf sich zurück in seinen Lehnstuhl und sagte: wenn das etwa ein Spaß sein solle, so finde er ihn nicht sonderlich ergötzlich. Darauf reichte er das Blatt an meinen Vater, es vorzulesen.

Das Schreiben war von einem Bruder der Gräfin und enthielt nur einige Zeilen mit der Anzeige, daß letztere vor einigen Stunden gestorben sei. Bei der dringenden Eile des Kuriers, der sogleich wieder abreisen wolle und auf Antwort bestehe, sei ein Mehreres nicht möglich. Nach einigen Wochen bestätigte sich die Nachricht.«

»Und diese Fabel lehrt«, fügte Fräulein Fritze hinzu, »daß der Gottseibeiuns dem Monsieur Schrepfer seinerzeit den Hals umgedreht hat, im Rosental bei Leipzig.«

Die Pflegetochter Male bemerkte jetzt, sie könne so etwas nicht glauben. Der Schrepfer habe sich ganz natürlich erschossen, und ebenso sei[227] auch die Briefgeschichte, selbst wenn sie ganz so vorgefallen, wie erzählt worden, natürlich zu erklären. Der Herzog und Schrepfer würden wohl unter einer Decke gespielt haben, um die Gesellschaft anzuführen.

»Ei du verwetterter kleiner Gelbschnabel«, erwiderte Fräulein Fritze, »wie klug du bist! Und woher sollten sie wissen, daß das kurländische Mensch vor zwei Stunden abgefahren war?« – »Nun, die konnte ja eine erdichtete Person sein und der Herzog die Bestätigung der Nachricht späterhin nur vorgeben.«

»Im Rosental bei Leipzig«, schloß Fräulein Fritze und schüttelte nachdenklich mit dem Kopfe.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 224-228.
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