Eine Beschwörung

[228] Am nächsten Abend kam die Rede auf denselben Gegenstand zurück, und Fräulein Lore erzählte noch die folgende Geschichte:

»Unser seliger Vater legte, wie viele Herren, einigen Wert aufs Essen, welches deshalb stets mit größter Sorgfalt bereitet werden mußte. Auch hatte er meist so guten Appetit, daß er die Zeit nicht erwarten konnte, und es war vorgekommen, daß wir ihn mit der Serviette im Knopfloch auf seinem Platze am gedeckten Tische vorfanden, noch ehe angerichtet war. Es befremdete und erschreckte uns daher nicht wenig, als er eines Tages auf seinem Zimmer blieb und nichts als Brot und Wasser zu sich nehmen wollte. Krank sei er gar nicht, sagte er, aber er habe seine Gründe.«

»Und«, warf Fräulein Fritze ein, »wir anderen möchten für ihn mit schlingen!«

»Diese enthaltsame Lebensweise setzte er ohne Barmherzigkeit drei ganze Tage fort. Am dritten Abend aber, in sehr später Stunde, ließ er plötzlich anspannen und fuhr ins kurländische Palais. Was dort vorgegangen, hat er uns erst viele Jahre später erzählt. Die Sache war folgende:

Herr Schrepfer hatte nach und nach das schönste Zutrauen gewonnen, namentlich durch die sonderbare Geschichte mit dem Briefe; die Herren waren sämtlich seine Schüler geworden, und er durfte fortan bei den kleinen Soupers des Herzogs nicht fehlen. Hier wußte er durch trügerische Reden wie durch die Zeichen und Wunder, die er ab und zu zum besten gab, die Köpfe dermaßen zu verwirren, daß man am Ende keine Einsicht für zu tief hielt, die er nicht hätte haben, und kein Ding für zu schwierig, daß er's nicht hätte tun sollen. So konnte es denn[228] geschehen, daß eines Abends ein sehr frevelhaftes Verlangen laut ward. Schrepfer sollte gewisse längst verstorbene Personen zitieren und erscheinen lassen. Anfänglich widerstand der Hexenmeister. Er bat die Herren, zu bedenken, daß sie selbst noch zu wenig in die Tiefen der Wissenschaft eingedrungen und daß es nicht ohne Gefahr sei, Kräfte zu entfesseln, deren Herr zu werden man die Mittel noch nicht habe. Aber man ließ dem spröden Zögerer keine Ruhe, und endlich gab er denn auch nach, jedoch nur unter der Bedingung, daß sämtliche Teilhaber sich eidlich verpflichteten, drei Tage lang zu fasten und während der Beschwörung mäuschenstill zu schweigen.

Am vorbestimmten Tage gegen Mitternacht fand sich also die kleine, durch Fasten etwas heruntergekommene Gesellschaft im Palais zusammen, und dem Beschwörer Schrepfer ward das Verzeichnis derer übergeben, die noch fehlten, nämlich der jenseitigen, von ihm besonders einzuladenden Gäste. Es waren lauter hohe Namen, meist aus dem Kurhause; außerdem aber noch der Doktor Luther. Herr Schrepfer schien bedenklich, nicht wegen der fürstlichen Personen, sondern Luthers wegen; der sei wohl besser wegzulassen, meinte er. Dies verlangte auch mein Vater, der ein guter Protestant war; aber alle Widerrede war vergebens, und Luthers Name blieb auf ausdrückliches Verlangen des Herzogs.

Man durchschritt nun eine lange Reihe dunkler Zimmer, der Nekromant voran mit einer Blendlaterne, bis man die Türe des großen Speisesaals – jetzt das anatomische Theater – erreichte. Hier machte Herr Schrepfer halt, wandte sich gegen die Nachfolgenden und legte den Finger an die Lippen. Dann öffnete er. Man trat schweigend ein, und die Herren nahmen auf bereitstehenden Sesseln Platz. Das Licht der Laterne warf seinen unsicheren Schein durch den Raum, dessen Grenzen man kaum erkannte; dann erlosch es, und die Gesellschaft befand sich in absoluter Finsternis.«

»Und zwar nach Leib und Seele!« unterbrach Fräulein Fritze. »Solcher Spuk ist große Schande für die Leute, die auf zwei Beinen gehen!«

Die Erzählerin fuhr fort: »So wartete man einige Minuten, bis es von der Kreuzkirche zwölf schlug. Mit dem letzten Schlage begann die Beschwörung, anfangs nur leise murmelnd, dann immer deutlicher und lauter und leidenschaftlicher. Da! – es mag ein Schreck gewesen sein – da hörte man ein lautes Krachen im Getäfel des Parketts, als berste es auseinander, und von unten stieg weißlicher Dampf auf.

Jetzt rief Herr Schrepfer, von dem unser Vater glaubte, daß er rasend oder toll geworden sei, die bezeichneten Personen mit so lauter Stimme, daß es ein Gebrüll war, und allerlei Gestalten zeigten sich im Nebel;[229] aber ihr Anblick war nichts weniger als erfreulich. Fast alle erschienen sie in kläglichem Aufzug und in kläglicher Gebärde. Man hätte ihnen die prächtigen Herren nicht angesehen, die sie waren. In Ketten oder nackt und von Flammen umzuckt, fuhren sie rasch wieder zur Tiefe, aus der sie aufgestiegen. Eine Ausnahme machte Friedrich der Weise, der, von einem milden blauen Licht umflossen, in der Höhe verschwand.

Mein Vater hatte gewissenhaft gefastet und geschwiegen und alles getan, was verlangt worden war, doch war er von Anfang an nicht ohne Mißtrauen gewesen. Der Umstand indessen, daß der Glaube des gegenwärtigen Fürsten so wenig geschont ward, begann seine Zweifel zu zerstreuen. Es war nun bloß noch Doktor Luther übrig, und von der Art, wie der erscheinen würde, ob auch in nackter Jammergestalt oder in würdiger Weise, wollte er seine Meinung abhängig machen.

›Du! weiland Doktor Martinus Lutherus!‹ brüllte Schrepfer, ›wo du auch seist, in der Finsternis oder im Lichte, oder zwischen beiden, ich rufe dich! Erscheine!‹ Aber der Nebel verdunkelte sich, und es zeigte sich nichts. Noch einmal rief Schrepfer, doch mit unsicherer Stimme, wie einer, den das Fieber schüttelt – und der Nebel versank.

›Er soll aber doch kommen!‹ so gebot jetzt eine scharfe Stimme unter den Zuschauern. Da geschah ein fürchterlicher Schlag, als wenn das Haus zusammenbräche, und die Anwesenden prallten erschrocken aus der Türe und verstoben nach allen Seiten, wo sie Wege fanden. Später erklärte Schrepfer, es müsse ihn wundernehmen, daß man so davongekommen.«

»Er hat ihn aber nachher doch geholt«, sagte Fräulein Fritze, »im Rosental bei Leipzig.«

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 228-230.
Lizenz:
Kategorien: