Die Rückkehr des Königs

[199] In Sachsen hatte sich während der Zeit unserer Abwesenheit sehr viel verändert. Die Zustände waren besser und schlechter geworden. Zwar waren es harte Drangsale gewesen, denen das geängstete Land im Jahre dreizehn fast erlag; aber jetzt, da es, freier aufatmend, sich den Schweiß vom Angesicht wischte, erblickte es vornehmlich nur das Unrecht, das seine Befreier ihm anzutun gedachten.

Gerade jetzt, da endlich die fremden Dränger ausgetrieben waren, die übrigen deutschen Stämme, den Frieden und das wiederkehrende Recht begrüßend, in jugendlicher Freiheit erstanden und allerlei geraubter Besitz zurückging in die Hände der rechtmäßig Besitzenden, sah das arme Sachsen sich mit seinem Könige von solcher Gerechtigkeit ausgeschlossen. Der edle König saß im fremden Lande als Gefangener, büßend für die Sünden, die wesentlich nicht er, sondern die begangen hatten, die ihn gefangenhielten. Nicht seine Schuld war es gewesen, daß die Eifersucht deutscher Großmächte die Hoheit des Reiches unter die Hand eines Fremden beugte, und nicht er hatte, wie so manche andere, partikulären Vorteils halber mit der Gunst des Auslandes gebuhlt. Er war ganz ehrenhaft mit den Waffen in der Hand unterlegen und hatte sich dem Feinde erst dann verbündet, als er sich von seinen Riesenarmen umklammert fand. Und endlich – was konnte er dafür, daß er der letzte war, den der Übermächtige aus jener tödlichen Umarmung entließ?

Ebensowenig konnte man dem Lande einen Vorwurf machen. Das Volk war immer deutsch gesinnt, nichts weniger als verblendet durch die Vorteile, welche die französische Allianz gewährte. Es hatte die Befreiungsheere mit offenen Armen empfangen, ihnen jeden Vorschub geleistet, und selbst die Armee hatte bei Leipzig den schmerzlichsten Beweis geführt, daß sie nur deutsch sein wollte.

Wenn also Sachsen dennoch als Feindesland behandelt wurde, so blieb[199] kaum etwas anderes zu denken übrig, als daß Europa einzig und allein gegen Sachsen Krieg geführt, denn daß dies gegen Frankreich nicht geschehen, hatten die Mächte nicht allein erklärt, sondern die Natur des Friedensschlusses hatte es auch bewiesen. Frankreich war als befreundete Macht mit der zartesten Schonung behandelt worden; aber Sachsen sollte mit seinem Herzblut zahlen. So urteilte man damals in Dresden, wahrscheinlich auch heute noch, und ob mit Recht oder Unrecht, mögen diejenigen entscheiden, die sich die Geschichte jener Tage genauer angesehen haben als der Schreiber dieses.

Wir fanden vorerst ein russisches Gouvernement im Lande. Aber obschon dieses die gesprengte Brücke aus Landesmitteln restaurierte, auch von der Brühlschen Terrasse herab auf den Schloßplatz eine schwerfällige Treppe niederführte, so war die Stimmung, wie gesagt, doch sehr verbittert und verbitterte sich noch mehr, als im November an die Stelle der russischen eine preußische Verwaltung trat. Gleichzeitig begannen auch die Sitzungen des Wiener Kongresses. Von dort sollte die Entscheidung kommen, und welche es auch sein mochte, so ahnte man es doch in Sachsen, daß der schwarzweiße Storch den grünen Elbfrosch auf eine oder die andere Art verspeisen würde.

Rußland, dreimal größer als ganz Europa, mochte immer noch zu eng sein, um sich an sich selber genügen zu lassen. Es verlangte nach Lohn zu seiner Befreiung. Aber zu großmütig, diesen von Frankreich zu nehmen, gegen das es ja keinen Krieg geführt hatte, schien es ihm angemessener, sich, wie beim Tilsiter Frieden, an seinem Bundesgenossen zu erholen; es beanspruchte Warschau, und Preußen mochte sich dafür an Sachsen schadlos halten, das zufälligerweise niemandem gehörte. Die Sache war einfach genug, und man schien nur noch zu streiten, was besser sei: alles zu nehmen oder bloß das meiste. Darum stritt man auch in Dresden, und es waren gewiß nicht die schlechtesten Patrioten, die das völlige Aufgehen des Landes in Preußen einer Zerstückelung vorzogen. Dieser Ansicht war auch mein Vater. Er fürchtete Verkümmerung für den zurückbleibenden Rest eines geteilten Landes und ward dafür von anderen hart getadelt, die ihrem geliebten Könige, damals vielleicht dem edelsten und gewissenhaftesten Monarchen der Welt, lieber jenen Rest als nichts erhalten wollten, sowie einem Teil der Bevölkerung wenigstens den altberühmten Namen.

Die letztere Partei trug eiserne Ringe mit des Königs Bildnis, Kokarden an den Hüten, verachtete die Andersdenkenden und haßte Preußen wie den Tod – dasselbe Preußen, das vor kurzem noch als Vorkämpfer deutscher Freiheit so bewundert, so ehrenwert und groß gewesen, nun aber seinen Lohn dahinzunehmen schien. Ob es nun die[200] Ringe taten, die Kokarden und der Haß, kurz, diese sächsische Partei behielt den Sieg, und Sachsen ward geteilt. Der größere und fruchtbarste Teil des alten Kurlandes ward abgerissen, und die altangestammte Treue der Untertanen umgeschworen. Was aber übrigblieb, empfing und ehrte den endlich im Juni zurückkehrenden König wie einen vom Tode auferstandenen Vater.

An diesem herzlichen Empfange beteiligte sich ein jeder nach Maßgabe seiner Begeisterung, seiner Mittel und seines Geschmackes. Einheimische und Fremde wetteiferten miteinander, dem gekränkten Könige ihre Teilnahme zu beweisen. Allen zuvor an Sinnigkeit und persönlicher Dahingabe aber tat es der obberegte Fürst Putjatin.

Der König kam von Böhmen her und hatte unweit Pirna das dem Fürsten gehörige Landgut Zschachwitz zu passieren. Hier angelangt, fand er sich durch singende Schulkinder aufgehalten, und zwar unmittelbar unter einer Ehrenpforte, in deren Wölbung eine kolossale Blumenkrone schwebte. Darin wiegte sich wie in einer Schaukel höchstselbst der alte Fürst und begrüßte den erschrockenen Monarchen von oben herab mit einer französischen Jubelrede, ihn reichlich mit Rosen bestreuend. Aus Furcht vor dem Blumenhagel soll der König gar nicht aufgeblickt und nichts erwidert haben. Erst beim Weiterfahren äußerte er gegen den neben ihm sitzenden Kavalier, der Prinz Putjatin scheine ihm etwas mentekapt zu sein.

Ich war damals ein Junge von zwölf Jahren, nahm aber lebhaften Anteil an den Dingen, die ich täglich verhandeln hörte. Bei dem Enthusiasmus, den ich von meinen Reisen für alles Deutsche zurückgebracht hatte, ärgerte und irrte mich sowohl das Verhalten Preußens gegen Sachsen als auch die brudermörderische Stimmung Sachsens gegen Preußen. Recht eigentlich Partei zu nehmen vermochte ich daher nur gegen die, freilich erst durch Provokation wachgerufenen undeutschen Sympathien, die sich hin und wieder, und namentlich nach Napoleons Rückkehr von Elba, selbst unter Schulkindern zeigten. Von neuen Siegen des erkannten Erbfeindes Besserung zu erwarten, schien zu empörend und diente sächsischer Landsmannschaft nicht gerade zur Empfehlung. Wer aber undeutsch war, der war zu solcher Unnatur erst durch das Unrecht angestiftet, das Deutsche Deutschen angetan, und solches Unrecht ist von alten Zeiten her der alleinige Grund der großen Demütigungen gewesen, die unser teures Vaterland vom Auslande zu erdulden hatte.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 199-201.
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