Ein Wunder

[238] Mein Vater war in Berlin von allen Klassen der Gesellschaft wiederum so ausgezeichnet und mit Aufträgen überhäuft worden, daß er voll Dank und Lobes war. Auch vom Bruder und über ihn lief gute Nachricht ein; er schien der Liebling seiner neuen Umgebung zu sein und war zufrieden. Die Mädchen waren unter Mariannens Zucht sehr wohl versorgt, und ich befand mich wohl in meiner Schule beim milden Anger.

Somit hätte alles gut sein mögen, wenn die Mutter nicht erkrankt wäre. Was ihr fehlte, weiß ich nicht, nur daß sie arge Schmerzen ausstand, wochenlang zu Bett lag und die Freunde zweifelhaft waren, ob es nicht[238] Pflicht sei, den Vater zurückzurufen. Der Arzt kam täglich dreimal, Marianne und die schwarze Tante pflegten, und wir Kinder schlichen auf den Fußspitzen einher wie Diebe.

Nun traf es sich, daß eines Abends die ganze Hausgenossenschaft, Pflegerinnen, Schwestern und Dienstmädchen, sich für den Augenblick sämtlich verlaufen hatte und ich allein im Nebenzimmer bei der Kranken war. Draußen war finstere Nacht, und Sturm und Regen rasselten dermaßen mit den Fenstern, daß ich es für angemessen hielt, mich zum Trost der kranken Mutter bisweilen in der offenen Tür ihres Zimmers zu zeigen. Sie sollte sehen, daß sie nicht verlassen sei.

Da wurde die Klingel heftig angezogen. Ich öffnete, und vor mir stand in Hut und Mantel mein lieber Professor Müller, derselbe, der mir einmal die Kreidezeichnung geschenkt hatte. Er war aber unheimlich verändert, sah widerwärtig aus und fragte mich barsch nach meiner Mutter. Daß sie krank sei, niemand sehen möge und weder sprechen könne noch dürfe, ließ er nicht gelten. Er wisse alles, sagte er, schob meine Wenigkeit beiseite und drang vorwärts. Der Arzt habe jeden Besuch verboten, rief ich; aber der Schauerliche war unaufhaltsam. Den Hut auf dem Kopfe, wie ein Quäker, erschien er plötzlich vor der Kranken, an deren Bette er in seinem Regenmantel ohne weitere Förmlichkeiten Platz nahm.

Da saß das Nachtgespenst so gerade wie ein Ladestock und sah mich sträflich an. »Geh hinaus«, sagte er, »ich habe mit deiner Mutter allein zu reden.« Ich zögerte, aber die Kranke winkte mich mit der Hand fort. So ging ich denn, und da ich die beiden ruhig miteinander sprechen hörte, setzte ich mich wieder an meine Arbeit.

Ob der Herr Professor nicht den Hut abnehmen wolle, da es so warm im Zimmer sei, hatte meine Mutter gefragt, der aber erwidert: der Hut werde fortan nur noch vor der Himmelskönigin gezogen. Diese habe ihn großer Offenbarungen gewürdigt. Sie sei ihm in der letztvergangenen Nacht erschienen und habe ihm ein Gebot gegeben. Demgemäß werde er mit zwölf reinen Jungfrauen in weißen Kleidern und mit Kränzen in den Haaren vor Sr. Majestät dem König erscheinen, um von Höchstdemselben die Konzessionierung einer eigens für Kupferstecher zu errichtenden Akademie zu verlangen. Die nötigen Gelder seien sofort von Freunden der guten Sache zu entnehmen, von uns zweitausend Taler – und darum sei er hier.

Meine Mutter war in übler Lage. Vor Wahnsinnigen hatte sie die größte Furcht und auf den ersten Blick erkannt, wie krank Müller sei. Wie sollte sie sich schützen, wenn er rasend wurde? Konnte die Himmelskönigin ihm nicht gebieten, sie oder mich zu opfern, das Haus in[239] Brand zu stecken und jedes erdenkliche Unheil anzurichten? Ihn nicht zu reizen, hatte sie mich weggewiesen und zeigte bewundernswerte Fassung.

Wegen des Geldes, sagte sie, solle schleunig an ihren Mann geschrieben werden; aber – fügte sie unvorsichtigerweise hinzu – woher er, Müller, es denn wisse, daß jene Maria kein Traumbild gewesen?

Da richtete der sich hoch auf, und seine Gestalt schien bei dem matten Schein der Kerze riesenhaft zu werden. »Woher ich's weiß?« sagte er. »Daher weiß ich's, weil die Jungfrau mich mit allen Kräften ausgerüstet hat, die nicht von Träumen kommen.« »Das ist was anderes!« erwiderte die Mutter, die nicht im geringsten zweifelte, daß diese Kräfte ausreichen würden, sie auf der Stelle zu erwürgen. Jener fuhr in feierlichem Tone fort: »Sie sind sehr krank, Madame! und Ihr Arzt ist so gescheit als andere; dennoch wird er Ihnen in Ewigkeit nicht helfen. Ich aber tue es auf der Stelle!«

Die Mutter war in Angstschweiß gebadet, als Müller jetzt, seinen Filzhut abziehend, ihr die Hand aufs Haupt legte und unter häufiger Nennung des Namens Maria lateinische Sätze murmelte. Darauf setzte er seinen Hut wieder auf und sagte: »Nun stehen Sie auf und wandeln Sie, Sie sind gesund!« – »Vollkommen!« bestätigte die Mutter. »So schreiben Sie Ihrem Manne, was Ihnen geschehen ist, und danken Sie es der Jungfrau.« Mit diesen Worten entfernte sich der Unheimliche ohne Gruß, wie er gekommen. Ich leuchtete ihm hinaus und eilte dann zu meiner Mutter zurück, die ich in Tränen fand.

»Der arme Müller!« sagte sie, »er hat den Verstand verloren!«

Inzwischen war so viel richtig, daß die Mutter in der Tat gesund war. Der Schreck, die Angst und die Spannung aller Seelenkräfte hätten ihr verderblich werden können, hatten sie aber in diesem Fall wahrscheinlich genesen lassen. Sie stand wirklich auf und wandelte, die rückkehrenden Hausgenossen fast erschreckend.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 238-240.
Lizenz:
Kategorien: