73 [68] Brief an Wassily Kandinsky

Sindelsdorf, 4.2.1912


L.K. ... Ihre Anschauungen über die Brückeleute kann ich mit bestem Willen nicht teilen; ich weiß nicht, ob Sie angesichts ihrer Bilder, die ich in Berlin gesehen habe, anders urteilen werden, – ich zweifle fast, da sie sich sehr vom Instinkt leiten lassen, der Ihnen von Anfang an widerraten hat. Ich traue meinem Instinkt weniger, und mehr meinen 2 Augen, ohne die ich mich in dieser verzwickten Welt nie zurechtfinden würde. Schade, daß Sie das größte Porträt, das ich zur Bl. Reiterausstellung nach Köln geschickt habe, nicht kennen. Es klingt so stark, wie ein männlicher Tritt. Mit Impressionismus haben diese Bilder sehr sehr wenig zu tun, mit dem modernen Leben und der Großstadt sehr viel, sie sind äußerlich häßlich, vor allem Kirchner und Heckel. Aber voll tiefem Sinn und Realismus, so empfinde ich sie. Pechstein ist äußerlich viel schöner, die Konstruktion ist erkennbarer, in seinen schwachen Sachen liegt sie zu sehr auf der Hand; aber seine starken Sachen klingen unbegreiflich wie Glocken; man weiß nicht, woher und wohin, aber sie sind da; wir kommen als Künstler über den Begriff der Qualität nicht fort, sie entscheidet letzten Endes über die Entwicklung, die die Kunst nimmt. Mit impressionistischem Epigonentum haben wir nichts zu tun, – die ›Brücke‹ aber auch nicht; ich kann es wenigstens nicht fühlen, wie z.B. bei Nolde und Nauen, die sehr, allzusehr dazu gehören und die ich nie zur Reproduktion vorschlagen würde; die zwei können eventuell sogar schaden durch ihre ›Qualität‹, die unbestreitbar ist. Bleiben wir bei 3 kleinen Reproduktionen auf meine Verantwortung; wir können uns ja noch darüber bereden am Freitag. Unser Zwist ist also nur, daß ich in den Bildern dieser Leute das κύριε ελέισον spüre und sie es leugnen; die valeurs verführen mich nicht, sie bleiben[68] für mich allerdings die conditio sine qua non. Der Schnee ist wunderbar, wie kann man überhaupt angesichts dieses ungeheuren Weiß, das um einen ist, über Kunst debattieren. Ich komme mir wirklich blöd vor. Der reine Schnee deckt alles zu, das Weiß ist die Farbe des Schweigens. Also Freitag auf Wiedersehn

Ihr F.M.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 68-69.
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