246 [203] Brief an Wassily Kandinsky

Hagéville, 24.10.1914


Lieber Kandinsky, ich hab das traurige Gefühl, daß dieser Krieg wie eine große Flut zwischen uns beiden strömt, die uns trennt; der eine sieht den andern kaum am fernen Ufer. Alles Rufen ist vergeblich, – vielleicht auch das Schreiben. In solcher Zeit wird jeder, er mag wollen oder nicht, in seine Nation zurückgerissen. Ich kämpfe in[203] mir sehr dagegen an; das gute Europäertum liegt meinem Herzen näher als das Deutschtum; was Sie jetzt fühlen, weiß ich nicht. Ich selbst lebe in diesem Kriege. Ich sehe in ihm sogar den heilsamen, wenn auch grausamen Durchgang zu unsern Zielen; er wird die Menschen nicht zurückwerfen, sondern Europa reinigen, ›bereit‹ machen. Nach den ersten 4 Wochen unsäglicher Strapazen, die ich in den Vogesen durchzumachen hatte, nach allen Schrecknissen und Schreckbildern des Krieges bin ich seit Anfang Oktober in große Ruhe gekommen. Erst erkrankte ich an der Ruhr und lag 16 Tage im Lazarett in Schlettstedt still wie ein Knabe, dann reiste ich wieder meiner Truppe nach, die jetzt zwischen Metz und Toul steht, ohne Gefecht. Unsre ganze Division ist von den Vogesenkämpfen so dezimiert und auch durch Krankheit erschöpft, daß man ihr jetzt Ruhe gönnt und sie vorderhand überhaupt nicht wieder in's Gefecht läßt. So liegen wir in einem armseligen stillen Dörfchen Hagéville, führen friedlich unsre armen Pferde zur Tränke, rauchen und kochen, spielen Schach und schlafen, soviel wir können; ich hab mir ein stilles Zimmerchen gesichert, in dem ich tagsüber arbeite, wie wenn ich in Ried wäre, – allerdings nicht male, – aber nachdenke und an einer langen Sache schreibe, – das schreibe, das ich immer in Ried schreiben wollte und nicht konnte; der Krieg hat mir meine Gedanken gelöst. Ich bin nur leider von meiner Krankheit noch müde und arbeite langsam, mit Lücken der Ermüdung. Die Fenster klirren oft stundenlang von dem Bombardement vor Toul; die armen braven Menschen, die dort kämpfen, auf beiden Seiten! Um ein Ziel, das sie nicht wissen und das doch ist. Europa tut heute dasselbe an seinem Leibe, was Frankreich in der großen Revolution an sich tat. Hoffentlich bleibt uns der Napoleon des Empire erspart! Davor hab ich freilich oft Angst, daß die Gelegenheit in Europa noch einmal verpaßt wird! Daß es nochmals zu früh war, das große Blutopfer. Daß das Vordergrundspiel der Politik, die große dumme Spinne ihr Netz behält; es muß zerrissen werden. Schreiben Sie mir doch mal, über den großen Strom, der zwischen uns fließt. Haben Sie Lust! Ich erfuhr Ihre Adresse durch Klee. Grüßen Sie, wen Sie sonst von unserm Kreis in der Nähe wissen, herzlich von mir und nehmen Sie und Frau Münter einen festen Händedruck und Gruß von Ihrem Fz. Marc

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 203-204.
Lizenz:
Kategorien: