247 [204] Brief an Elisabeth Macke

Hagéville, 5.11.1914


Liebe Lisbeth, ich weiß nicht, ob Dir jetzt ein paar Zeilen, so recht ›nichts-sagende‹ Zeilen lieb sind – aber ich möchte so gern mit dir reden, und wäre es auch nur, um Dir ein bißchen die Hand zu streicheln. Ich erhielt Deine traurige Karte mit der ungewissen Nachricht über den armen August, ich wußte inzwischen schon durch Maria und Koehler, daß doch noch eine kleine Ecke Hoffnung besteht,[204] ihn wiederzusehen, – möchte es doch sein! An französische Grausamkeit und mangelnde Pflege glaube ich absolut nicht. Die gewissenlose Kopflosigkeit, die in dieser Beziehung am Anfang des Krieges herrschte – übrigens auch bei uns, ich war in Sâles selbst Zeuge, – ist längst einer strafferen Disziplin und auch reiferen, männlicheren Überlegung gewichen; es wird bei den Franzosen nicht anders sein. Der Postverkehr ist andrerseits so gänzlich abgeschnitten, daß er vielleicht wirklich keine Nachricht geben kann, vor allem, wenn er in einem Feldlazarett liegt. Ich erhalte mir wenigstens immer noch ein bißchen Hoffnung und hoffe, Du tust es auch, liebe arme Freundin. Ich denke jetzt so oft an Dich, an alle Einzelheiten unsrer lieben, gemeinsamen Erinnerungen, an Augusts Atelier, und was aus unsrer Freundschaft und gemeinsamen Arbeit noch hätte werden können! Was mich für Dich tröstet, ist, daß Du wenigstens die beiden lieben Buben von ihm hast, in denen August immer lebendig bleibt. Was mir den Abschied von Maria schwer macht, war gerade der schwermütige Gedanke, daß ich sie ganz allein zurücklasse, wenn ich nicht wiederkomme, ohne jede Zukunft und Aufgabe. Im Felde fürchtet man den Tod ja gar nicht. Man streift ihn so oft, man geht zwischen all dem fürchterlichen Sterben schließlich ganz kühl unter; aber der Gedanke, kein Kindchen, keine Erben des Blutes, daß man sterbend vergießt, zurückzulassen, ist für mich das einzige ganz Traurige. Ich bin ja im allgemeinen wenig exponiert und glaube mit keinem Gedanken, nicht zurückzukehren; aber ebenso felsenfest hab ich an Augusts Stern geglaubt, und doch schimmert er jetzt so trübe, daß man verzweifeln möchte. Nichts hat mich in diesem Kriege so erschüttert und deprimiert als diese Nachricht. Sie quält mich oft des Nachts und taucht zwischen ganz anderen Gedanken immer wieder auf, daß ich erst jetzt ganz schwer fühle, was ich und wir alle an ihm verlieren würden. – Wir arbeiten immer noch an der Reorganisation unserer Truppe und vor allem unseres Pferdematerials, das in einem trostlosen Zustand aus den Vogesenkämpfen kam; unsere ganze Division ist aus dem Gefecht gezogen; ich hab viel ruhige Stunden für mich und arbeite an meinen Gedanken, die der Krieg in ganz neue Bahnen getrieben hat. Wen werde ich finden, mit dem ich über das alles reden kann, wenn ich August nicht mehr habe? Du kannst es mit noch größerem Recht sagen, aber was Dir Freunde sein können, das sollst und wirst Du an uns finden. Grüße Deinen lieben Bruder vielmals von mir; ich freu mich riesig, daß er sich wenigstens gut erholt, grüße auch herzlich Deine Angehörigen und laß Dir einen Freundschaftskuß geben von Deinem treuen Franz.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 204-205.
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