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[141] 13.IV.15


Liebste, wenn ich Zeit finde, sehe ich mir hier immer die Gärten an, meist sehr alte Anlagen von einem merkwürdig kühnen und dabei klugen, besonnenen Stil; die Art der Weganlage ist einfach vorbildlich, läßt sich aber natürlich nie nachbilden, da sie stets so vollkommen dem jeweiligen Haus und Gelände angepaßt ist, daß man nie zwei gleiche oder nur ähnliche Anlagen findet. Ich denke oft an Ried, und wie wir das Grundstück einmal gliedern wollen. Alles hängt natürlich davon ab, ob wir die Nebenwiese bekommen oder nicht. Auch in der Beeteanlage hab ich sehr merkwürdige Sachen gesehen. Alles treibt jetzt schon heraus; es ist ganz erregend, in einem solchen reichen alten Garten zu stehen, wo einen der Frühling mit Millionen kleinen Augen ansieht. Ich bin noch mehr als je in die Blumen und Blätter verliebt. Ich seh sie jetzt so anders an, irgendein Gefühl von Mitleid ist immer dabei, eine Art Mitwissertum; man sieht sich einander an, stumm und mit der Geste: ›wir verstehen uns schon; die Wahrheit ist ganz woanders; wir beide stammen alle von ihr und kehren einst zu ihr zurück‹. Mit Menschen kann man fast nie so verkehren; da stoßen immer die Ichs aufeinander; am wenigsten viel leicht noch bei Klee; nur lugt oft etwas der Schweizer Spießbürger heraus, etwas, das mich frösteln macht. Kaminsky scheint ja eher ein reiner Mensch zu sein; aber ich muß erst etwas von seiner eigenen Musik hören, auf die ich furchtbar gespannt bin. Ich bin in meinem ganzen Wesen so sehr produzierender Charakter (– es steckt wie eine Krankheit in mir), daß mir harmlose Güte im Leben wenig sagt. Vielleicht wenn ich älter und ruhiger werde; mir wurde bei meinen Gedanken über Kam[insky] soviel wohler, als Du schriebst, daß er ganz produzierender Mensch sei und sich quält, – dann geht es schon immer besser im gegenseitigen Verkehr. Ich werd ihn sicher gern haben. Ja, einen Freund haben! Wie viel hab ich heimlich um Niestlé gelitten; daß mir dieser Charakter so entgleiten mußte! Mit Kam[insky] werde ich immer eine Art Männerfreundschaft halten, trotz allem und allem; freilich: an eine Zusammenarbeit glaub ich auch nicht mehr. Aber ich muß so viel an ihn denken. Ich weiß, daß dieser Mensch innerlich fürchterlich leidet. Sein ganzes Wesen, vor allem, wenn ich jetzt an ihn zurückdenke, verrät es. Augusts Tod ist eine unersetzliche Lücke für mein Leben. Seine Kunst strahlt zwar nicht stark zu mir herüber, – aber der Mensch!! Er war meine ›Erholung‹ im Jahr. Wenn er da war, hatte man ›Ferien‹! Was wohl aus Lisbeth wird? ... Wenn nur Kaminsky glücklich wiederkehrt! Das Schicksal abenteuert wirklich sehr bedenklich mit seinem teuren Menschenmaterial. Eine derartige Sterbelust und Opferdrang hat doch die Menschheit noch nie erfaßt wie heute. Die Disziplin ist ja nur die Organisation dieses Dranges, dieses Herandrängens an den Tod. Die Verwundungen sind die Enttäuschungen: Das Ich erwacht[142] und bemerkt, daß es nichts gewonnen, aber seinen dummen Finger oder Arm verloren hat. Das ist das Satyrspiel der großen Tragödie. Aber die Toten sind unsagbar glücklich. Wenn aus diesem Krieg kein Dichter und keine Musik hervorgeht, dann gibt es überhaupt keine mehr. Du schüttelst sicher wieder den Kopf und meinst: ich fasle; aber ich sag Dir: Du weißt nichts vom Krieg. Vielleicht ist es auch so, daß ich ihn nicht anders sehen will oder kann; beim Anblick dieses Kämpfens und Sterbens geht es mir genauso, wie wenn ich die Natur ansehe, in der es auch nicht anders zugeht; aber man fingert eben nicht kurzsichtig an ihrem Bilde herum, sondern sieht ganz weit hinter nach dem Geist, der das einzig Lebendige und Mögliche von dem allem ist. Wir haben kolossal angestrengte Tage und Nächte hinter uns, aber es wird hier nicht mehr lange dauern. Gute Nacht und Kuß Dein Fz.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 141-143.
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