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[151] 23.VI.15


Liebste, heut kam Dein Brief vom 20. Sei unbesorgt: ich lege gar keine besondere Wichtigkeit in diese Beförderungsfrage, auch finanziell nicht; mich langweilt nur mein ewiger Unteroffizier-Gehalt, wenn ein so hoher Offiz.-Gehalt meiner Dienstzeit gewissermaßen zusteht; ... Ich setze mein Leben und mein Werk, an das ich glaube, nicht leichtfertig ein für eine Sache wie diesen Krieg, die mich nur äußerlich interessiert. Ich kann ja immer noch nicht über den Krieg schimpfen und ihn hassen wie Du, – als ob die Menschen vor dem Kriege und nach dem Kriege und je besser gewesen wären. Was ist denn der Krieg andres als der bisherige Friedenszustand in anderer, eigentlich ehrlicherer Form; statt Konkurrenz gibt es jetzt Krieg. Ob die Menschen auf Schlachtfeldern sterben oder durch Stubenluft und in Bergwerken, ist kein wesentlicher Unterschied; der Tod selbst und die Wunden verderben die Seele nicht. Den Tod als Zerstörung erkenne ich überhaupt nicht an. Der Tod meines Vaters war mir doch noch furchtbarer und erschütternder als der Tod Wilhelms; ich weiß nicht, ob Du das verstehst. Faß es jedenfalls nicht auf, als ob ich jetzt abgestumpft wäre oder den Kriegstarantelstich hätte, wie Du schreibst; ich fühle hierin, wie ich immer gefühlt; vielleicht erinnerst Du Dich, wie ich schon immer früher über den Tod sprach; er ist absolut Erlösung. Dazu braucht man kein Pessimist sein, nicht einmal Buddhist, höchstens Christ. ›Tod, wo ist dein Stachel‹? – Es ist nicht einmal wahr, daß ich mich ›an den Krieg gewöhne‹, wie Du annimmst; aber ich taste immer ehrlicher an die Wurzeln von dem allem, auch an die Wurzel der Friedenszeiten. Ich glaube nicht an die ›menschenwürdigeren Zeiten‹, von denen Du so viel sprichst; sie sind nur latent, übertüncht, – aber immer, im Frieden und im Kriege, gibt es noch ein anderes Leben, das kein Tod, kein Mord und kein Sterben, keine Wunden und keine Krankheiten bezwingt und das von Weltverböserung sowenig als von Weltverbesserung beeinflußt werden kann. ›Mein Nerv wurde hart in mancher roten, schöpferischen Stunde‹, – vielleicht ist es das; denn ich bin sonst, als Mensch, nicht grausamer, hartherziger geworden; Du kennst mich ja. Aber wenn ich im Leben etwas tue, meinem Nächsten oder auch dem Nächstbesten christliche Liebe erweise, will ich es immer so tun, daß meine rechte Hand nicht weiß, was die linke tut, – nicht aber als Programm, als Welttendenz und um was zu bessern. Ich dachte auch viel[151] über Livingstone nach; er ist verehrungswürdig wie Franz von Assisi, Pascal und Christus; aber liegt ein Erbfehler nicht auch in seiner Organisation der Mission? was wurde heute daraus? Denkst Du heute über Heidenmission auch schon anders? Ich nicht. Gibt es heute weniger Sklaven? Werden die Menschen heute nicht mehr verkauft? Die Formen ändern sich, sonst nichts. Es gibt nur einen Segen und Erlösung: den Tod; die Zerstörung der Form, damit die Seele frei wird. Du mußt nicht denken, daß ich die Bibel ›poetisch‹ lese; ich lese sie als Wahrheit, wie ich Bach als Wahrheit höre und reine Kunst als Wahrheit sehe. Kannst Du mich verstehen? Ach könntest Du doch! à propos: zum ›Leben‹ zurück: ... Ja, das Leben! und die Menschen! Sie können einem sehr leid tun; aber man kann sie nicht bessern. Wir müssen auf ein anderes Leben warten. Für manche brennt das läuternde Fegefeuer schon hienieden – hoffentlich gehören wir 2 unter diese – manche – und die meisten leider – spüren hienieden davon noch gar nichts. Wirst Du mich verstehen? Das frag ich mich jetzt so oft! Dich glaub ich schon zu verstehen; Du meinst ganz das Richtige, nur drückst Du es anders aus als ich; scheinbar einfacher, ohne Scheu vor den Enttäuschungen; ich liebe Dich darum nicht weniger; aber ich möchte sie Deinem guten Herzen ersparen und Dich gleich zum Wesentlichen wenden. Vieles in meinen Aphorismen kommt mir jetzt wieder in den Sinn, als ob ich's erst heute verstünde, was ich damals, meist sehr unklar, gestammelt. Mit lieben Grü ßen Kuß Dein Frz.

Nach dem ersten Urlaub
Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 151-152.
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