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[172] 24.XI 15.


Liebste, ich lese und lese immer noch im Emanuel Quint; es wird einem so warm und frei bei diesem reinen Werk zumute. Es erklärt mir ja auch soviel von Deinem neuen Denken, für das ich mir keinen rechten Schlüssel wußte, weil es immer so stark durchsetzt war von Nebenschlüssen und Folgerungen, die aus einer andren Quelle stammten und die mir die reine Linie Deiner Gedanken verwischten und verzerrten. Aber in diesem Buch liegt die reine Linie, die ich selbst immer suche; wenn ich Dir einen Rat geben sollte, wäre er: lege den höchst mißverständlichen, weil immer sophistischen Tolstoi zur Seite; ich will gar nicht anzweifeln, daß Tolstoi dasselbe im Herzen will wie Hauptmann, aber er ist sprachlich, d.h. in seiner Logik eitel; ich fühle das absolut sicher, so oft ich ihn lese, er ist tendenziös und darum trotz seines ehrlichen Ringens unrein. Und ebenso, d.h. in viel größerem Maß unrein, sind die ›neuen Wege‹. Die liegen voller Schlacken und führen von der reinen Linie unweigerlich ab. Ich verstehe jetzt natürlich auch Kaminskys Wesen viel besser, da ich sein greifbares geistiges Vorbild kenne. Auch er wird sich zu hüten haben, daß er nicht in Dilettantismus und in ir gendeine Art von Eitelkeit gerät.

Eines bleibt mir gänzlich unbegreiflich: die geringe geistige Aufnahmefähigkeit unsrer Zeit. Ein Egidy, ein Haeckel u.a. werden tausendfach verschlungen, und ein solches Buch bleibt ungelesen, – wenigstens nach meinem Wissen und scheinbar ohne Wirkung auf den Geist unsrer Zeit. Ob Kandinsky es gekannt hat?? Ich halte es für möglich; denn wir kannten Kand. selbst sehr wenig. Kennt es Kubin,[172] Klee und Wolfskehl? Schenke es vor allem Niestlés; Du kannst es ihnen von mir aus zu Weihnachten schenken. Ich möchte unbedingt einmal Hauptmann kennenlernen; vielleicht machen wir einmal eine Reise nach Schlesien. Die Erklärung, warum das Buch sowenig Einfluß gewinnen konnte, kann nur in der Unreife der Menschen liegen; sie mißverstehen das ganze Buch sicher gründlich, nehmen es literarisch und können es bis zur geistigen Reinheit nicht durchdenken. Hauptmann macht ihnen, vielleicht aus einer inneren Güte und einem Mitleids- und Schamgefühl heraus, leicht, ihn mißzuverstehen. Gerade darin liegt ein unglaublich feiner geistiger Takt in ihm, der ihn in dem Buch nie verläßt. Lieber tun, als wären es Kieselsteine und keine Perlen, die man vor die Säue wirft; nur die Sehenden dürfen merken, daß es keine Kieselsteine sind. Das macht mir diesen Geist so vertrauenswürdig. Nun noch einen lieben Kuß; ich muß schnell schließen, damit der Brief noch wegkommt.

Dein Fz.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 172-173.
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