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[173] Samstag 27.XI.15.


Liebste, einliegend 2 Bilder, noch aus meiner Offizier-Stellvertreterzeit, in Cherey aufgenommen mit den Herren der II. Abt. und meinem jetzigen Chef Oberleutnant Grüner, (der 5. von links, mit seinem Dantegesicht.) Der rückwärts an der Hauswand neben mir steht, ist Leutnant Bittel, der Schwager des Dürnhauser Barons. Gestern fiel Schnee; heut ist es ganz klar und kalt, richtiger strenger trockner Winter. Man hört den ganzen Tag keinen Schuß. An den Krieg läßt sich schwer noch glauben; der Balkanfeldzug hat etwas so unwahrscheinlich Glückhaftes, die Fehler der Gegner, aus denen wir unser ganzes Glück ziehen, etwas noch Unwahrscheinlicheres, – es liegt für mich viel Shakespearisches in diesem langen Drama, nicht zum wenigsten durch Griechenlands zweideutige Haltung, die die Spannung theaterhaft erhält und durch das Eingreifen des ›jungen Bulgariens‹ als deus ex machina. Ich hätte nie gedacht, daß die europäische Welt noch derartiger romantischer Dramen fähig wäre. Wenn ich heut an den Krieg denke, gerate ich ganz in Shakespearische Vorstellungswelt und Dichtung. Ich sag das nicht leichtsinnig – es gibt im Gegenteil sehr zu denken, nach der Seite der Dichtung und der Kunst hin als nach der Seite des Lebens und des Menschengeistes. Ich bin jetzt bis zum Ende des Quintbuches gekommen; es ist geistig sternenklar; wenn ich an das Leben Quints denke, beglückt und bedrängt mich eine ähnliche Empfindung als beim Anblick eines reinen Sternenhimmels, der mir in diesen Kriegs jähren ein solcher Freund geworden ist. Durch Quints Leben geht jene abstrakt reine Linie des Denkens, nach der ich immer gesucht habe und die ich auch immer im Geist durch die Dinge hindurch gezogen habe;[173] es gelang mir freilich fast nie, sie mit dem Leben zu verknoten, – wenigstens nie mit dem Menschenleben, (– darum kann ich keine Menschen malen), Quint hat wohl seine reine Idee manchmal mit dem Leben verknotet; daß er dabei doch rein geblieben ist, darin liegt seine göttliche Größe. In tiefer Liebe Dein Fz.

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Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 173-174.
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