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[175] 2.XII 15.


... Was Du von Norenscher Musik sagst, ist ja sicher richtig und auch richtig definiert. Ob es kubistische echte Musik heute gibt, weiß ich ja auch nicht. Gehört hab ich noch keine. Im Geiste, d.h. latent gibt es sie sicher; sowie es in der Malerei im Geiste noch verborgen echte reine neue Bilder gibt. Vielleicht sind schon welche da, – wir sind nur noch nicht zur klaren Entscheidung reif, welche es sind und wo die besten Ansätze stecken; ich halte das für sehr gut möglich; denn wir übersehen heute in dem großen geistigen Gewühle, in dem Europa steckt, durchaus noch nicht die wahren Linien und Formen. Vielleicht sind die Ansätze in der Malerei prominenter als in der[175] Musik, – aber auch da werden sie sein; man muß nur sehr scharf horchen, – nicht in Konzerten, sondern nach innen horchen, sowie man die neue Malerei nicht in Ausstellungen suchen darf, sondern auf der Straße, im Leben und in der Nacht. Ich sehe sogar deutlich die neue Musik, den ganzen neuen Kontrapunkt: im Sternenhimmel. Auch wir können heute unser Geschick und die Wahrheit in den Sternen lesen, – es kommt nur darauf an, wie man sie ansieht. Ich sag das nicht aus Spielerei oder irgendwelcher mystischen Mei nung, sondern ganz schlicht, aus meiner Empfindung und Erfahrung heraus. Natürlich kann man dasselbe im Tageslicht, in der Tagesnatur sehen, oder auf menschlichen Gesichtern lesen oder im Wind hören, – es scheint mir nur im Sternenhimmel alles viel klarer, unzerstörter, unverwischter, abstrakter und klarer gesagt. Wenn man einmal drin sehen gelernt hat (für Musiker z.B. das Tempo, in dem die Figuren auftreten, gebunden sind und gegen einander singen) hat [man] hier eine unerschöpfliche Anregung. Ich gehe oft mit Sternenbildern im Kopf umher; trotz der wahrlich saudummen Wirklichkeit und dem schlechten Menschengeruch, der mich hier umgibt. Die Menschen hier haben wirklich nichts anderes im Kopf als persönliche Eitelkeit, auf ganz Wertloses gerichtetes Strebertum; ich spiele eine unmögliche Figur hier, – das ›Unmögliche‹ liegt vor allem darin, daß die anderen dies gar nicht so empfinden; man respektiert mich sehr, auch als Offizier, aber alle denken, ich müßte doch auch irgendwie ein bißchen wie sie empfinden; sie wundern sich dann immer, daß ich mich über dies und jenes ›nicht ärgere‹. Sie können nicht sehen, daß ich überhaupt gar nicht da bin, – noch weniger dringt ihr Blick je zu der Linie, wo ich wirklich stehe. Ich muß im Gegenteil mich in vielen kleinen Momenten freiwillig auf ihre Bank setzen, um zu vermeiden, daß sie meinen seelischen Abstand fühlen und sich da durch gekränkt fühlen; denn das geht gegen meine Natur. Mein ganzes Bestreben geht nur dahin, daß sie nicht merken, wie dumm dieses Verhältnis zwischen uns ist. So ist doch manchmal das Verschweigen und die bewußte Täuschung des Nächsten die einzig anständige Lebensform, und nicht das: ›die Wahrheit sagen‹, jene fürchterliche, seelenkränkende Manie mancher Wahrheitsfanatiker. Was ich jetzt im Sternenhimmel sehe, ist wohl was Ähnliches wie das, was Du in Blumenbeeten siehst; wenn Du Sternenhimmel und Blumenbeete vergleichst, wirst Du wohl verstehen, was ich mit meiner Sternenliebe meine. Was macht wohl das arme Schlickchen? Ich erhielt gestern Deine Karte. Warum Briefsperre ist, weiß ich auch nicht. In unserer Gegend ereignet sich wohl sicher nichts. Zuweilen wird heftig geschossen, aber es bleibt bei Artillerie- und Minenkämpfen, – die Infanterie wird nicht eingesetzt. Und die Artillerieduelle sind meist demonstrativ, Bedrohungs- und Warnungsschießen ohne ernstere und weiterreichende taktische Absichten. Baron Stengel hat leider[176] und ganz gegen seinen eigenen Willen eine Batterie in einer anderen Abteilung bekommen, was mir sehr leid ist; ich hatte mich recht auf seine Gesellschaft gefreut. – Ich bin heilfroh, zur Ausbildung der Aspiranten nicht kommandiert worden zu sein; bei diesem elenden Wetter, – Haumont schwimmt schier weg – wäre es nichts für mich. Eine Erkältung oder Rheumatismus hat man doch gleich, wenn man auf nassen Wiesen stehen und in Wind viel kommandieren muß. Für den Ausbildenden ist es gefährlicher als für die Aspiranten selbst, die nicht zu kommandieren brauchen und in ordentlicher Bewegung bleiben. Gegen das bißchen Theaterspielen am Exerzierplatz hätte ich nichts; es wirkt auf mich völlig abstrakt, so wie ich auch in unserm Kurs meinen innerlichen Spaß hatte. Nun adio, sei nicht zu traurig, sticke schön und freu Dich auf die Zeiten, die für uns noch blühen werden. ... Ja, was Du schreibst vom Christentum; die Frage lautet momentan fast so: von dem, wie ich Emanuel Quint lese. Vielleicht gibt Dir mein vorgestriger Brief schon in manchem Antwort; ich schrieb Dir darin, was ich als mein Gewissen fühle: meine Arbeit; nicht mein Leben als solches; ich kann gar nicht anders meine Unvollkommenheiten und die Unvollkommenheiten des Lebens überwinden, als indem ich den Sinn meines Daseins in's Geistige hinüberspiele, in's Geistige, vom sterblichen Leib Unabhängige, d.h. Abstrakte hinüberrette. Es ist nicht eigentlich das spätere Leben, das ich unter Geistigem verstehe; darin mißverstehst Du mich. Ich bin allerdings dem Läuterungsgedanken nicht fremd, – er erscheint mir sehr natürlich; (nach dem bekannten: wenn ich geboren werden konnte, dann muß ich doch auch vorher einmal gestorben sein, – denk an die Blumen! Es ist von einer rührenden beseligenden Einfachheit). Aber unter geistigem Leben verstehe ich: das Wesentliche vom Unwesentlichen trennen. Der Starke subsummiert unter das Unwesentliche mehr als der Schwächere. Ich werfe jeden Tag mehr auf den Scheiterhaufen des Unwesentlichen, – das Schöne bei diesem Tun ist das, daß das Wesentliche dabei nicht kleiner, enger wird, sondern gerade mächtiger und großartiger. Lies sehr aufmerksam im Quint, – da steht alles außerordentlich fein und tief gesagt. Du mußt Dir nur immer klar bleiben, daß unsre Sprache und unsre Logik am wenigsten berufen sind, in dem Lebensgeheimnis das ›letzte Wort zu reden‹, – Du scheinst mir immer zu sehr noch nach der Wortformel zu suchen, nach einer wörtlichen Definition des göttlichen Inhalts, – die gibt es nicht; sowenig man Kunst mit Worten erklären kann. Man kann schon reden, aber man muß sich stets der Grenzen bewußt bleiben, über die hinaus das Wort nichts mehr besagt und in seinen dummen Grammatiksinn zurückfällt. Wenn ich wieder zu Hause bin und wir unser Leben zusammen leben, wirst Du sehr schnell genau verstehen, wie ich das alles meine, – es gibt da gar kein Mißverstehen. Die ganz unmöglichen Verhältnisse, in die der Krieg[177] meine Persönlichkeit geschoben hat, haben mein Wesen und meine Gedanken gerade durch ihren Gegensatz außerordentlich geklärt und gewissermaßen zur Entscheidung gezwungen. Lebewohl, Grüße Kam[insky] und streichle den armen alten weißen Russl und die kleinen Rehchen. Mehr kann man diesen nicht tun, als sie zum Heufressen nötigen und Hasel- und Eichenzweige bringen. Mit Küssen und in aller Liebe Dein Fz. M.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 175-178.
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