〈28. Vorrede zum geplanten zweiten Buch*

Noch einmal und noch vielemale wird hier der Versuch gemacht, den Blick des sehnsüchtigen Menschen von dem schönen und guten Schein, dem ererbten Besitz der alten Zeit hinweg zum schauerlichen, dröhnenden Sein zu wenden.

Wo die Führer der Menge nach rechts weisen, gehen wir nach links; wo sie ein Ziel zeigen, kehren wir um; wovor sie warnen, da eilen wir hin.

Die Welt ist zum Ersticken voll. Auf jeden Stein hat der Mensch ein Pfand seiner Klugheit gelegt. Jedes Wort ist gepachtet und belehnt. Was kann man thun zur Seligkeit als alles aufgeben und fliehen? als einen Strich ziehen zwischen dem Gestern und dem Heute?

In dieser That liegt die große Aufgabe unsrer Zeit; die eine, für die es sich lohnt zu leben und zu sterben. In diese That mischt sich keine Verachtung gegen die große Vergangenheit. Wir aber wollen Anderes; wir wollen nicht wie die lustigen Erben leben, leben von der Vergangenheit. Und wenn wir es wollten, könnten wir es nicht. Das Erbe ist aufgezehrt; mit Surrogaten macht sich die Welt gemein.

So wandern wir fort in neue Gebiete und erleben die große Erschütterung, daß alles noch unbetreten, ungesagt ist, undurchfurcht und unerforscht. Die Welt liegt rein vor uns; unsre Schritte zittern. Wollen wir wagen zu gehen, so muß die Nabelschnur durchschnitten werden, die uns mit der mütterlichen Vergangenheit verbindet.

Die Welt gebiert eine neue Zeit; es gibt nur eine Frage: ist heute die Zeit schon gekommen, sich von der alten Welt zu lösen? Sind wir reif für die vita nuova? Dies ist die bange Frage unsrer Tage. Es ist die Frage, die dieses Buch beherrschen wird. Was in diesem Buche steht, hat nur Beziehung zu dieser Frage und dient keiner anderen. An ihr soll seine Gestalt und sein Wert gemessen werden.[152]


* Vorrede zum geplanten 2. Buch (Februar 1914)

Unterzeichnet: »Fz. Marc«

Manuskript verschollen

Geschrieben im Februar 1914

Erstdruck in: Der Blaue Reiter. Dokumentarische Neuausgabe von Klaus Lankheit. München 1965, S. 325 f.


Quelle:
Franz Marc: Schriften. Köln: DuMont, 1978.
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