〈34. Bemerkungen zu: L.N. Tolstoi, Was ist Kunst?*

〈Seite 12〉

Tolstoi behandelt diese wichtige weitreichende Frage zu einfach. Die höhere schulmäßige Ausbildung auf den musikalischen Akademien ausschalten heißt zugleich die musikalische Erziehung des Ohres (– denk an Deine Mutter, – auch an Dich) auf sehr bedenkliche Weise wieder aufgeben. Es ist auch nicht ganz wahr, daß das Volk, das die Kuh hergibt, nichts dafür empfängt. Wir haben nicht nur Hofopern, sondern auch Volkskonzerte, der gute Wille besteht zweifellos, dem Volke Musik zu geben. Das Volk selbst schafft zum größten Teil sehr schlechte Musik, sentimentale und noch mehr frivole; wir haben die Seele unsres Volkes entschieden erzogen zu ernsterer Musik und wäre es auch durch kriegerische und erotische Musik (Beethoven – Wagner). Das Volk hat eben hauptsächlich kriegerische und erotische Neigungen, außerdem religiöse, die wir durch Kirchenmusik befriedigen. Aber auch sie ist zum größten Teil sehr sinnlich, aufregend und durch Pracht bethörend, – aber was sollen wir eigentlich aus dem Volk machen? Tolstoi geht viel zu einseitig an den schwersten Volksproblemen vorbei. Genau antworten kann ich aber auch nicht. In der Malerei ist es natürlich gänzlich übel. Hier folgt das Volk seinen dümmsten Instinkten, – vielleicht doch mangels an Bildung nach musikalischem Muster. In der kirchlichen Kunst haben wir ein solches (Gotik) und das Volk folgte willig; aber natürlich war die Kunst auch sehr sinnlich und mystisch aufregend, – man trifft nie ganz Tolstoi's Linie, – das muß an Tolstoi's Gedanken liegen, nicht an uns.

Die Antwort auf Seite 13 unten ist auch nur halb, denn es ist nicht richtig, daß es uns auf die »Begeisterung eines kleinen Kreises« ankommt, weder Monet, Seurat, van Gogh noch Kandinsky, Klee und ich wollen nur diesen kleinen Kreis, sondern wir wollen Wahrheit: Unser moralisches Wollen ist rein, aber vielleicht ist unser Weg falsch.


〈Seite 38〉

Hegels Idee von der Schönheit ist sehr fein; sie erscheint mir durchaus nicht besonders dunkel, sondern klarer als die Vorstellungen der meisten Anderen. Aber im Grunde finde ich, daß alle Ästhetiker viel mehr alle dasselbe sagen[174] als daß sie sich innerlich widersprechen. Sie wählten nur verschiedene Formeln – z.B. Helmholtz Seite 42! –, verschiedene Gesichtspunkte, je nach ihrer zeitlich bedingten philosophischen Schulung u.s.w. Es wäre ebenso leicht, ihre überraschende Gemeinsamkeit nachzuweisen als ihre schroffen Gegensätze wie Tolstoi meint. Allen merkt man an, daß sie die Wärme mit der Elle messen wollen, also ein Sache logisch definieren wollen, die nie in Worte und Wortlogik eingehen kann. Aber immerhin deuten sie alle (d.h. mit unbedeutenden Ausnahmen) nach einer großen Richtung; alle fühlen sie das Wahre so wie die Religionen Gott fühlen; auch sie widersprechen sich alle und meinen doch dasselbe.

Fein finde ich Seite 39 Ruge. Er ahnt, daß die produktiven Künstler irgend einen Defekt haben und nach einem Ausgleich ihres kranken Wesens suchen, – auch Nietzsche's Anschauung.


Schopenhauer spottet über Hegel, – von einem dritten Standpunkt stehen sie sich so nahe!! Viele der vermeintlichen Gegensätze entstehen nur 〈dadurch〉, daß der eine den Begriff Schönheit und Kunst enger oder weiter faßt, – jeder hat auf seine Weise recht und diese verschiedenen Fassungen sind kein Einwand gegen die Sache selbst, die alle fühlen.


〈Seite 47〉

Gerade Definitionen wie die von Véron, die Tolstoi so vernünftig findet, erscheinen mir sehr unklar. Diese »Zusammenstellung« von Linien Formen etc, – was heißt das: »Zusammenstellung«? und der »ge wisse Rhythmus«? Wie wenn ich ein Pferd definieren wollte und sage: eine Zusammenstellung von Zellen nach einem gewissen Rhythmus, der ein Pferd ergibt. Diese Definition ärgerte mich schon früher bei Kandinsky, der auch damit anfangt und alle Kunstschreiber über unsre Bilder haben's ihm nachgemacht.

Damit ist gar nichts Wesentliches gesagt; abstrakte Formen entstehen ganz anders!


〈Seite 57.〉

Tolstoi operiert mit vielen irrigen oder nur halbrichtigen Voraussetzungen, z.B. daß die Ästhetik »reine Wissenschaft« sei und daß wir als Wissenschaftler an die Untersuchung der »Schönheit« gegangen sind. Ruskin, Burckhardt, Nietzsche, Rhode 〈sic!〉, Hegel und wie sie alle heißen, sind Empiriker, d.h. sie[175] gehen von ihrer Erfahrung aus, (– ihre logischen Deduktionen, deren sie sich bedient haben, sind wahrscheinlich so falsch und schief wie die von Tolstoi.) Seite 58 kommt er selbst zur Erkenntnis, daß es sich bei den Ästhetikern um einen wandelbaren Kanon handelt, aber statt dies anzuerkennen, verlangt er von ihnen etwas Unmögliches: eine wissenschaftliche einwandfreie Definition, was Kunst ist! Seine Sache wäre und ist: den Kanon anzufechten und zu berichtigen, (das ist auch die Grundidee seines Buches und das Wertvolle an seinen Gedanken) – aber wozu dann das endlos lange Gerede über die Ästhetik? Es könnte alles soviel einfacher und wahrer gesagt sein, aber immer wieder, auch im späteren Verlauf des Buches verirrt und verklauselt er sich in die Fallstricke logischer Schlüsse, die auf etwas Richtiges zielen, es aber nie umfassen können. Die Definition der Kunsttheorie Seite 59 unten ist so selbstverständlich richtig, daß er mit ihr ohne lange Rede gleich hätte beginnen können. Nur ist sie einseitig, denn neben dem Gutheißen hätte er auch das Ablehnen erwähnen müssen; eine rein empirische Geschmackstheorie – Geschmack im allerweitesten und ernsthaftesten Sinne genommen, wo Geschmack an Wille und Urinstinkt grenzt, – das ist Ästhetik.


〈Seite 60〉

Der Vergleich mit der physiologischen Ernährung verblüfft auch mehr wie jede Sophistik, ohne uns der Sache näher zu bringen. Der arge Fehlschluß hegt in dem Begriff »Genuß«, den er ganz ungerecht aus unsern Schönheitsgedanken ableitet. In der Ernährung ist es übrigens auch so: es ist gar nicht wahr, daß der Wilde sich vom Genuß leiten läßt und der Gebildete von der Nahrungsmitteluntersuchung. Beide suchen letztenendes nicht den Genuß (der ist Begleiterscheinung, Hilfsmittel des Naturinstinktes), sondern werden vom Instinkt geleitet, von einer inneren meist un bewußten Notwendigkeit. Der nordische Mensch ißt nicht Speck, weil er ihm schmeckt, sondern weil er ihn braucht (und deswegen schmeckt er ihm). Der Südländer braucht viel Flüssigkeit, darum schmecken ihm die Früchte. Der geistige Arbeiter und Stubenmensch verlangt nach viel Eiweiß und ißt darum unmäßig Fleisch. Er spannt seine Nerven übermäßig an und braucht Narkotikas. Unzähligemale wird die Notwendigkeit überschritten und eine perverse Gewohnheit daraus, – wie in der Kunst und dann muß man wie der ehrliche Tolstoi versuchen, die Grenze zu sehen und die seelischen und physiologischen Vorgänge im Menschen und seine vermeintlichen Bedürfnisse zu regenerieren und wieder dem wahren Instinkte seine Rechte zu geben. Das ist so einfach und es ist mir eigentlich unbegreiflich,[176] wie Tolstoi die Sache sophistisch so verdrehen kann. Er verdirbt sich seine eigene schöne und gute Sache.


〈Seite 65〉

Das ist gar nicht wahr, daß »in all diesen Definitionen als der Zweck der Kunst der Genuß und nicht die Aufgabe im Leben des Menschen« angegeben ist. Es stimmt am ehesten auf die ganz schlechten Definitionen (die Tolstoi noch am ehesten gefallen und die er Seite 63 angibt!).


〈Seite 69〉

Die Definition ist sehr schön und wahr, aber das Problem ist damit nicht erschöpft, da sie nur die Thätigkeit, Bethätigung der Kunst kennzeichnet, nicht aber ihre geheimnisvollere Frage, wie so eine künstlerische Bethätigung möglich ist und worauf sie beruht. Jeder Künstler, der jemals etwas Künstlerisches aus sich hervorgebracht hat, weiß, daß mit dieser ehrlichen Definition, die so wahr ist, nicht alles gesagt ist. Daß ihre künstlerische Produktion möglich wurde, führen die einen (vor allem die Dichter und Musiker, aber auch die Maler) auf Inspiration zurück (Abfassung der Evangelien und Propheten-Gesänge!), andere reden von den »geheimen Gesetzen, denen sie nach einem innern Drang gehorchen«, – kurz: das ganze ästhetische, künstlerische Problem erhebt immer wieder sein Haupt. Tolstoi will es negieren, aber er übersieht es nur, indem er es gewaltsam vereinfacht. Er konstatiert nur, daß die Menschen »die Fähigkeit haben, durch Kunst angesteckt zu werden«, das merkwürdige daran, eben das Problem sieht er gar nicht.


〈Seite 76, Zeile 3 hinter »Griechen«〉

und italien. Renaissance


〈Seite 80, letzter Absatz, erster Satz〉

– eine Behauptung, die in ihrer Verallgemeinerung erst sehr nachgeprüft werden müßte. Ich glaube, Tolstoi thut hier denen, die dem kirchlichen Glauben durch ihre bessere Einsicht entfremdet wurden, sehr unrecht. Es erscheint mir sogar heute noch immer fraglich, ob wir recht thäten, dem europäischen Bauern seine alte heidnisch-christliche Kirche zu nehmen und blos mehr von der[177] christlichen Liebe zu predigen; ich kann aber auf das was nun folgt, – bis Seite 85, nicht in ein paar Worten antworten. Tolstoi wird in seiner geschichtlichen Darstellung wohl recht haben. Der durch und durch orientalische Jesus konnte eben das europäische Romanen- und Germanentum sich nie völlig angleichen. Die griechisch-römische Antike sowohl wie das germanische Blut zwang und verwandelte die Lehre Jesu nach ihrem Typus. Franz von Assisi, Pascal und andere große Sektierer blieben ganz vereinzelte Ausnahmen, die sich meist in die Klöster flüchteten! – Tolstoi erkennt ganz richtig, daß der Maßstab, mit dem man die Kunst mißt und wertet, von der jeweiligen herrschenden Gesamtstimmung (Religion) abhängt. Z.B. die italienische Hochrenaissance prachtliebend, Feier und Würde, zu der auch äußerer Reichtum gehört, Schönheitsliebe zu Frauen (Madonna!), Mächtigkeit des Typus (Michelangelo, Raffael). Als Gegenbeispiel deutsche Gotik. Die Renaissance verlor sich dann bald in's Barocke (Schwulst und Phrase); innre Spannung war nicht sehr groß, – die bürgerlich werdende Zeit konnte sie nicht halten. Da kamen aus dem Germanentum neue seelische Kräfte: Luther und die deutsche Musik und die Wissenschaft: ein ungeheures neues Leben, das das Christentum nur noch als Form mit sich führte; wir sind aus dieser Bewegung noch nicht heraus. Die dazugehörige Kunst wird von dieser allgemeinen Bewegung, dieser völkischen Gesamtstimmung gewertet; die Ästhetik hat ihren Teil daran. Es ist nicht wahr, daß sie nur den Genuß als Endzweck feiert (85).


〈Seite 92〉

Daß Baumgarten von den Griechen ausgehen mußte, ist ja selbstverständlich, Epigone der Renaissance. Aber die Griechen ein »halbwildes Völkchen von Sklavenbesitzern« zu nennen, ist einfach dumm. Mit Witzen kann man alles in der Welt umkehren. Es klingt nach einem Barfußchristentum, das mir eklig ist.


〈Seite 95〉

Die Betrachtungen über das Wahre sind auch so halb. Die Definition von Wahrheit deckt sich durchaus nicht mit dem, was die deutsche Sprache unter wahr versteht. Warum sollen wir nicht von wahren und unwahren Bildern sprechen, – Du sagst dafür rein und unrein, meinst aber dasselbe. Und die, welche im Wahren das Schöne, Reine und das Unschöne als unwahr bezeichnen, meinen auch das Gleiche. Tolstoi reißt ganz unnötig ein sprachliches Einverständnis[178] auseinander und macht dadurch alles unklarer und – unsittlicher als es ist. Wenn die Kunst in die Irre gegangen ist, sind dafür ganz andere Gründe verantwortlich als das Streben, in der Kunst das Schöne dem Wahren anzugleichen. Diese Begriffe sind tatsächlich dasselbe; das Unwahre ist das Böse, das Äußerliche, Egoistische, das »Falsche« in seiner ältesten biblischen Sprachbedeutung. Es kann aber wohl sein, daß im Russischen diese Begriffe weiter auseinanderliegen, – dann müßte man solche Kapitel eben ganz anders verdeutschen.


〈Seite 103〉

Hier endlich kommt Tolstoi wieder auf festen Boden. Kein Mensch wird vor allem 104/5 bestreiten. Nur ist halt vieles durch das Temperament Tolstoi's gesehen, z.B. die Sache mit dem »Müßiggang« der gebildeten Klasse. Geistige Arbeit ist nicht nur nicht Müßiggang, sie wird auch nicht einmal von der (Hand-)arbeitenden Klasse für Müßiggang gehalten. Der Bauer und Handwerker fühlt sogar Mitleid mit der ihm qualvoll erscheinenden geistigen Arbeit des Gelehrten, des »Studierenden«, wie ein Bauer, der einmal hinter mir stand, als ich im Lochhauser Moor einen »Sonnenuntergang« malte, und lange schweigend zusah, mit den einzigen Worten wegging: »Oh mei, dös is a schwermütigs Gschäft!« Es gibt gewiß Müßiggänger in den oberen Klassen, edle (Siemssen) und unedle (Sport, Dandy), – aber gar soviel sind ihrer in Deutschland gar nicht; in Rußland mag es ihrer mehr geben. Aber gleichviel: Hier geht Tolstoi einem tiefen, urchristlichen Gedankengang nach. Mir erscheint Tolstoi's Ziel: die Vernichtung des Kapitals und der Wertunterschiede und Klassen ziemlich utopi[sti]sch; gewissermaßen wie Ibsens »ideale Forderung« – darin liegt das Feine und in der Kunst dürfen wir sie nie aus dem Aug verlieren. Der Schritt Tolstoi's, aus der idealen Forderung eine reale Forderung zu machen, scheint mir das Verhängnisvolle seiner Ethik. Denn mit diesem Schritt gerät der Geist in's Gegenständliche, in die Niederung des Volkstümlichen und wir müssen alle unsre Heroen begraben. Dieser sonderbare Begriff: Müßiggang! Die größten Müßiggänger sind die Blumen, dann die Tiere, dann der primitive Mensch, dann der Ackerbauer, dann der Europäer. Die schwerste Arbeit leistet der geistige Europäer. Ich will Deinem Urteil über Marées nicht ganz widersprechen, aber seine Arbeit, seine sittliche Kraftleistung erscheint mir unbedingt wertvoll. Die Menschheit kann solche Arbeiter nicht missen, son dern muß sie ehren. Ich glaube sogar: mancher Bauer und Arbeiter wird das vor seinen Bildern fühlen. Geh einmal in die Pinakothek und sieh Dir sie an![179]


〈Seite 106〉

Dein Fragezeichen ist sehr richtig. Hier kennt sich Tolstoi in seinem Begriffswirrwar selbst nicht mehr aus und kommt auf Schlußfolgerungen, die seinen Forderungen selbst widersprechen, wenigstens der Realisierung seiner Forderungen. »Ein neues Gefühl in den Kreislauf des Lebens fügen«, – ja das wollen und thun wir und halten an der idealen Forderung fest, daß das Gefühl ein reines, reineres als die früheren ist und allgemeine Gültigkeit hat, – aber der Bauer hat gar kein Bedürfnis, dies neue Gefühl sofort aufzunehmen; er will gar nicht, daß seine Religion sich ändert, er kann sich's meist gar nicht vorstellen. Wir aber besorgen es in stiller und uneigennütziger Arbeit gegen seinen Willen und ohne daß er es weiß. So fasse ich unsre künstlerische Forderung auf. So faßte sie auch Manet, Renoir, Seurat, Marées, Cézanne, Derain und Picasso und Delaunay, Kandinsky und ich auf, mit mehr oder weniger Glück und Talent und Irrwegen. Das Übel sind die geschickten, profitgierigen oder dumm-fanatischen Mitläufer und die blöde nachhumpelnde Kritik. Der blaue Reiter hat auch viel gesündigt; ich bedaure unsre ganze Schrei berei und unklare Ausstellerei unendlich; aber ich fühle durch die moderne Kunst irgendwo die reine Linie, den roten Faden des religiösen Bedürfnisses durch; wir müssen uns nur viel mehr prüfen und mehr Selbstzucht üben als bisher. Daß wir für Müßiggänger malen ist unwahr.


〈Seite 116〉

Über Mallarmé, Prosper Mérimée, Baudelaire, Gourmond (und z.B. die Bandeaux d'or aus dem Kreise Lefauconniers), Prévôt u.s.w. denke ich genau wie Tolstoi; äußerstes Ichtum und so schwächlich und dünnfädig und überelegant-sinnlich, daß es darum unverständlich und für jede reine Natur langweilig und uninteressant ist. Genau dementsprechend und ebenso fad ist Knopff, der Brüsseler Kreis. Aber genau so uninteressant ist auch ihr Gegenteil Meunier, Egger-Lienz, Leehmpool. Das Wesentliche ist nicht, ob sich ein Werk formal und gegenständlich an wenige oder viele richtet, also die soziale Seite und ihre Nützlichkeit und mögliche Nutzbarmachung und Allgemeinverständlichkeit, sondern gerade ihre absolute Freiheit von dem allen, die Stärke des Weltgefühls (das nicht aus Mitleid, oder Trost oder Anfeuerung, Freude und Hingabe an den Nächsten besteht, – dies alles sind nur Stücke, Teilgefühle, nicht das Entscheidende im künstlerischen Wirken), sondern das visionäre Schauen, das sich gar nicht erklären und in soziale Formen, überhaupt nicht in Wort-Erklärungen zwängen läßt. Bach ist das nächstliegende und erhabenste Beispiel; er war[180] wahrscheinlich ein guter Christ seiner Zeit, aber sein künstlerisches Weltgefühl und dessen Gestaltung ist Intuition, ist innere Kraft, wie Mallarmé's Weltgefühl innere Schwäche ist.

Nicht nur das Ichtum schließt künstlerische Reinheit aus, auch das Nächstentum, die Absicht auf den Nächsten stört die innere Reinheit eines Wirkens. Wie frei davon ist der Meister des Marienlebens! Das ist ganz abgeklärt. Gegen ihn steckt in Bertram zu viel Absicht, – Du empfindest ihn ganz richtig. Hast Du Dir einmal das frühitalienische Porträtwerk in der Pinakothek angesehen, von dem ich Dir schrieb (Mann, Frau, Knabe und Falke)?


〈Seite 118〉

immer derselbe Fehler, den er den wahren Künstlern fälschlich unterschiebt. Es genügt natürlich nicht, poetische Stimmung bei den best natured men hervorzurufen. Cézanne, Klee, Picasso, Kandinsky fällt es gar nicht ein, so etwas zu beabsichtigen. Ich nenne mit Absicht auch Picasso. Vielleicht mache ich mir ein falsches Bild von ihm; ich kann es aber nicht glauben. Seine Bilder sind voll echter Liebe und Weltgefühl, dagegen Legér weit nicht so rein ist.


〈Seite 141〉

Es ist mir zu ermüdend, über das alles zu schreiben und immer wieder dasselbe zu antworten. Nichts ist unwahrer als zu behaupten, daß das Volk stets die Gleichnisse der Bibel, die Propheten etc. verstanden habe. Wenn irgendwo, so liegt hier Angewöhnung zu Grunde. Die Menschen haben sich sogar an die ganz unverständliche Offenbarung Johannis gewöhnt. Wo die Bibel über die volkstümliche Legende (Märchen und Volkslied) hinausgeht (Propheten, Hohelied, Psalmen und vieles aus dem Evangelium Johannis), setzte jahrhundertlange Auslegung ein, um das Volk nur einigermaßen und in sehr beschränktem, unvollkommenem Maße zu irgend einem Verständnis zu bringen. Man hat ihm solange vorgelesen und vorgeredet, daß diese Gedichte hohe und wahre Bestandteile des christlichen Weltwissens sind und zur Bibel gehören und die Bibel »das Buch« ist, bis sie es glaubten und aßen wie tägliches Brot. Tolstoi will (wie Seite 110 ersichtlich) nur reine Volkskunst als nützlich, notwendig und wahr gelten lassen und die Welt sozial so vereinfachen, daß man damit auskommt; aber er wird keine starke, edle 〈,〉 arbeitende Periode finden, in denen die Menschheit damit ausgekommen ist. Von David und Salomon über Johannes zu Dante, Bach und Beethoven führt eine Ahnenreihe, die heute nicht aussterben wird und nie aussterben kann und soll.[181]


〈Seite 147〉

Darin liegt des Pudels Kern. Um der 1000 Schlechten willen, über die er richtig urteilt, verurteilt er die 3 Guten mit, – statt es umgekehrt zu machen! Die Beispiele, die er im Folgenden bringt, widerlegen ihn am besten; mit boshaft und einseitig gewählten Beispielen läßt sich alles belegen. Er sollte einmal Daumier, Cézanne, Flaubert, van Gogh hervorholen, – da würde er auf Granit beißen.


〈Seite 157〉

Hierin liegt viel Wahres. Aber die Volkskunst wirkt auch immer stark als Augenkunst und auf die Nerven; z.B. die Anwendung des Goldes und die Mystik des gotischen Baustiles und der bethörenden farbigen Innenwirkung. Vieles in der modernen Kunst ist gewiß stark Augen- und Nervenkunst; man muß eben unterscheiden, wo dies nur gute Begleiterscheinung (wie das Gold der Alten) ist neben dem Wesentlichen: dem Lebensgefühl, oder wo es nur Augenkunst, Kitzel ist.


〈Seite 164/65〉

sehr fein!


〈Seite 178〉

ist wunderschön; könnte aber eher Kandinsky geschrieben haben als Tolstoi. In der Volkskunst geht es jedenfalls nicht so genau her! Diese überraschende Seite wirkt ganz unvermittelt und fremd in diesem Buche.


〈Seite 183/184〉

Die ganze Beweisführung scheint mir sehr erkünstelt und unglücklich. Sie wendet sich letzten Endes stark gegen die illustrative Kunst des Volkes; gerade Volkskunst kennt die reinsten Verbindungen der Künste, Tanz mit Musik, Musik mit Wort, Bild mit Legende u.s.w.


〈Seite 202/203〉

famos![182]


〈Seite 212/213〉

ist prachtvoll; ausgezeichnet Schluß 213; das Gefühl hab ich auch so oft.

Du schriebst in Deinem Bleistiftbrief über die Stelle 214/15. Das eine ist sicher: die Absicht, ein Bild zu malen ist ein ganz unkünstlerischer und unreiner Anlaß zum Schaffen. Dagegen gibt es keine Vorschrift oder Theorie, wie man mit seinem Weltgefühl die seltsame Schwelle der Kunst zu überschreiten hat. Der Eine stützt sich auf direkte Erlebnisse, die ihm keine Ruhe lassen, bis er sie in irgend einer Gestaltung los wird, – er trägt sie meist lang herum wie eine Schwangere. Der Andere beginnt aus einem ihm selbst rätselhaften Drang zu arbeiten und bringt Werke hervor, die ihm ebenso Gottesgeschenke scheinen wie mancher Mutter ihr Kind. Der Drang ist grob dem Hunger vergleichbar, – man sucht Nahrung und ißt, aber man steht nicht mit der Absicht auf: ich will heute essen. Man ißt eben, wenn der Instinkt des Hungers einen treibt, – sonst denkt man kaum an's Essen, – so arbeite ich wenigstens oft.

Tolstoi behält aber ganz Recht in dem was er sagt. Die Absicht verstimmt immer und ist immer Unkunst.


〈Seite 276 oben〉

Das ist so schön gesagt und trifft alles im Kern, ohne daß man den Absatz: »Kaum aber ...« ganz hinzunehmen muß; er enthält die Trugschlüsse und Fehlgriffe, die das ganze Buch erfüllen. Tief und wahr ist dann Seite 277; man kann nicht leicht etwas Zwingenderes lesen als diesen Vergleich.

Im Späteren 280 – 83 verliert er sich sehr in seine Volkskunst-Ideen. 283 Ende ist so falsch! Was ihm vorschwebt (z.B. Hans Sachs vielleicht) war einmal möglich und wird vielleicht wieder möglich werden, aber die Menschheit hat sich nie mit dieser Produktion allein begnügt, sowie auch der sociale Staat Tolstoi's eine langweilige Utopie ist. Tolstoi scheint keine Ahnung vom Menschen zu haben. Darüber werden wir noch viel reden. Mir fällt übrigens da ein Unsinn ein, den Wolfskehl in Deinem Briefe sagt: Shakespeares Dramen seien Gelegenheitsarbeiten. Bitte, lies Shakespeare!! Wenn äußere Anlässe bei seiner Produktion mitspielten, -ja warum das nicht? Aber das sagt doch gar nichts und ist doch nicht das Wesentliche seines Schaffens! Bach hatte auch äußere kirchliche Anlässe, – wer denkt heute daran? Beim Schaffen mag er sie oft schön vergessen haben! Beethoven und Michelangelo auch und jeder Geringere ebenso. Wie man nur so mutwillig Dinge beim falschen Namen nennen mag! Ein äußerer Anlaß gibt eben dem Schaffenden »den äußeren Anlaß« (der immer und überall im Leben seine thätige Rolle spielt, z.B. auch zur [183] Bildung des Charakters!), seinen Gefühlen [Luft zu machen] durch Werke Ausdruck zu verleihen. Selbst in der Volkskunst ist es genau das Gleiche. Aber Kunst und Charakter werden nicht von den zufälligen äußeren Anlässen bestimmt. Hätte dieser Anlaß gefehlt, hätte eben der Künstler irgend einen andern Anlaß ergriffen. Schon der Stoff in den Werken ist äußerer Anlaß. Michelangelo ging zwischen den Marmorblöcken umher und suchte seine Form. Insofern ist jedes Werk Gelegenheitswerk, aber die Wurzel und die Triebkraft steckt nie in der Gelegenheit oder Absicht.


〈Seite 294/95〉

Die ganze Ungerechtigkeit Tolstoischer Kritik spricht allzu deutlich aus diesen Zeilen über die Wissenschaft. Er hat keine Ahnung was exakte Forschung und exakte deutsche Wissenschaft ist.

298/99 berühre ich sehr ähnlich in meinen Aphorismen. Die Anwendung der Wissenschaft, also ihr Zweckdasein ist kein Fortschritt, sondern nur eine Kräfteverschiebung. Aber die Forderung an die Wissenschaft auf Seite 300 leugne ich gänzlich. Sie interessiert mich überhaupt nicht.[184]


* Bemerkungen zu: L.N. Tolstoi, Was ist Kunst? (Frühjahr 1915)

Handschriftliche Eintragungen und Zusätze in dem Band: L.N. Tolstoi, Was ist Kunst? / Übersetzt von M. Feofanoff. Jena 1911

Unveröffentlicht

München, Nachlaß Franz Marc


Quelle:
Franz Marc: Schriften. Köln: DuMont, 1978.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Frau Beate und ihr Sohn

Frau Beate und ihr Sohn

Beate Heinold lebt seit dem Tode ihres Mannes allein mit ihrem Sohn Hugo in einer Villa am See und versucht, ihn vor möglichen erotischen Abenteuern abzuschirmen. Indes gibt sie selbst dem Werben des jungen Fritz, einem Schulfreund von Hugo, nach und verliert sich zwischen erotischen Wunschvorstellungen, Schuld- und Schamgefühlen.

64 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon