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[198] Das Wissen ist ein sehr später Erbe der Philosophie. Die Disciplinen, die sich einst unter den Fittichen ihrer Erzeugerin wärmten, haben sie alle längst verlassen und traten in den Dienst des Positivismus des Lebens. In seiner Schule streiften sie die letzten Reste ihrer philosophischen Herkunft ab und, was tausendmal wichtiger ist, verwissenschaftlichen sich in ihr. Daß Wissenschaft aus ihnen wurde, ist die unsterbliche That des Europäers.

Wechselvoll und lange getrennt lief das Schicksal der einzelnen Disciplinen, bis in unsre Gegenwart, die das Schauspiel erlebt, wie sie alle wieder kristallisch zusammenschießen zu einer Disciplin, der exakten Erkenntnis, deren Formel die Lehre von den Naturgesetzen ist.

Schon Leibniz wollte erkannt haben, daß die Materie ›auch‹ Geist ist. Aber was für eines langen Weges (und Umweges über den Materialismus) hat es bedurft, um zu erkennen, daß die Welt nur Geist, nur Psyche ist und die zaubervollen Naturgesetze nur unsre zweite, geistigere, tiefere Form und Formel für die Psyche, für unsre eigne Psyche bedeuten.

Die Naturgesetze sind das Werkzeug unsrer zweiten, besseren Einsicht, unsres zweiten Gesichts, mit dem wir das Weltgeschehen heute betrachten.

Quelle:
Franz Marc: Schriften. Köln: DuMont, 1978, S. 198.
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