IV.

[176] Anna Ssergejewna kam jetzt öfters zu ihm nach Moskau. Alle zwei, drei Monate verließ sie S. unter dem Vorwande, sie müsse nach Moskau, um einen Professor wegen ihres Frauenleidens zu konsultieren: der Mann glaubte ihr nur halb. In Moskau stieg sie jedesmal im »Slavischen Bazar« ab und schickte sofort nach ihrer Ankunft einen Mann mit roter Mütze zu Gurow. Gurow besuchte sie im Hotel, und kein Mensch erfuhr etwas davon.

So ging er an einem Wintermorgen zu ihr; der Dienstmann war schon gestern abend dagewesen, hatte ihn aber nicht zu Hause getroffen. Es begleitete seine Tochter ins Gymnasium, das unterwegs lag. Es, schneite große, nasse Flocken.

»Es sind jetzt drei Grad über Null, und doch schneit es,« sagte Gurow zu seiner Tochter. »Aber nur an der Erdoberfläche ist es so warm, in den höheren Luftschichten herrscht eine ganz andere Temperatur.«[176]

»Papa, warum gibt es im Winter keinen Donner?«

Er erklärte ihr auch dies. Und während er zu ihr sprach, dachte er daran, daß er jetzt zu einer Frau ginge, daß es kein Mensch wisse und wohl auch niemals erfahren werde. Er lebte ein Doppelleben: das eine Leben war offenbar, allen sichtbar und bekannt, voller konventioneller Wahrheiten und konventioneller Lügen und glich vollkommen dem Leben seiner Freunde und Bekannten; und das andere Leben verlief im geheimen. Die Umstände hatten sich aber seltsamerweise so gefügt, daß gerade das, was ihm wichtig, interessant und notwendig erschien, worin er aufrichtig war und sich niemals betrog, was den Kern seines Daseins bildete, in jenem geheimen Leben enthalten war, während alles, was Lüge und eine Maske war, hinter der er die Wahrheit verbarg, – wie sein Bankdienst, die Debatten im Klub, seine Redensarten von der »niedern Rasse«, die Festessen, die er mit seiner Frau besuchte, – zu seinem sichtbaren Leben gehörte. Er beurteilte auch alle anderen Menschen nach eigenem Maßstabe, mißtraute einem jeden und glaubte, daß auch jeder andere Mensch ein zweites, geheimes Leben habe, in dem sich alles Wichtige und Interessante abspiele. Alles persönliche Leben wird von uns als ein Geheimnis behandelt; das ist vielleicht der Grund, warum jeder Kulturmensch so nervös um die Wahrung[177] der Diskretion in seinen Privatangelegenheiten besorgt ist.

Nachdem er seine Tochter ins Gymnasium gebracht hatte, ging er in den »Slavischen Bazar«. Er legte seinen Pelz unten beim Portier ab, ging die Treppe hinauf und klopfte leise an die Türe. Anna Ssergejewna hatte das graue Kleid an, das er so liebte; sie war von der Reise und der Erwartung leicht ermüdet: sie erwartete ihn ja seit dem gestrigen Abend. Sie war blaß und sah ihn ohne zu lächeln an. Als er ins Zimmer trat, fiel sie ihm um den Hals und schmiegte sich an seine Brust. Ihr Kuß war so leidenschaftlich und lang, als ob sie sich seit zwei Jahren nicht gesehen hätten.

»Nun, wie ging es dir zu Hause?« fragte er. »Was gibt's Neues?«

»Warte, ich werde es dir gleich sagen, ich kann noch nicht sprechen.«

Sie konnte nicht sprechen, denn sie weinte. Sie stand von ihm abgewendet, das Taschentuch an die Augen gepreßt.

»Soll sie sich nur ausweinen, ich werde warten ...« sagte sich Gurow und setzte sich in einen Sessel.

Etwas später schellte er und ließ sich Tee geben; solange er den Tee trank, stand sie am Fenster und kehrte ihm den Rücken. Sie weinte vor Rührung und vor dem[178] schmerzlichen Bewußtsein, daß ihr Leben sich so traurig gestaltet hatte; nur im geheimen konnten sie sich sehen, und mußten sich immer wie Diebe verstecken! War denn ihr Leben nicht verdorben?

»Höre doch auf!« sagte er.

Er war ihm klar, daß diese Liebe nicht so bald ein Ende nehmen werde. Anna Ssergejewna hing immer mehr an ihm, sie vergötterte ihn, und es wäre ganz undenkbar, ihr zu sagen, daß das Ganze einmal ein Ende nehmen müsse; sie würde es auch niemals glauben.

Er ging auf sie zu und nahm sie bei den Schultern. Er wollte sie trösten, mit ihr scherzen. Und er erblickte sich im Spiegel.

Sein Kopfhaar war ergraut. Und es fiel ihm auf, wie alt und häßlich ihn die beiden letzten Jahre gemacht hatten. Die Schultern, auf denen seine Hände ruhten, waren warm und bebten. Und er spürte tiefes Mitleid mit diesem noch so warmen und schönen Leben, das aber wohl bald ebenso verwelken würde wie das seinige. Warum liebte sie ihn so sehr? Er erschien allen Frauen anders, als er in Wirklichkeit war, und sie liebten in ihm nicht ihn selbst, sondern einen Menschen, den ihre Phantasie geschaffen hatte, den sie ihr Leben lang suchten: wenn sie auch später ihren Irrtum einsahen, so hörte ihre Liebe doch nicht auf. Und keine von ihnen war mit ihm glücklich gewesen. Die Jahre gingen, er[179] machte neue Bekanntschaften, trennte sich von den alten, liebte aber eigentlich nie; alles war dabei, nur keine Liebe.

Und erst jetzt, da sein Kopf schon grau war, liebte er heiß und wahr – zum erstenmal in seinem Leben.

Anna Ssergejewna und er liebten einander wie zwei verwandte Seelen, wie Eheleute, wie zärtliche Freunde; sie glaubten, daß das Schicksal selbst sie für einander bestimmt hatte, und sie wunderten sich, warum er und sie verheiratet waren; sie kamen sich vor wie zwei Zugvögel, Männchen und Weibchen, die man eingefangen und in getrennte Käfige gesperrt hat. Sie hatten einander alles vergeben, dessen sie sich in ihrer Vergangenheit schämten, sie vergaben sich auch heute alles und fühlten, wie sehr sie die Liebe verändert hatte.

Früher pflegte er sich in schweren Stunden mit allen möglichen Überlegungen zu trösten, die ihm gerade in den Kopf kamen; aber jetzt lagen ihm alle Überlegungen fern, er spürte nur tiefes Mitleid und hatte das Verlangen, aufrichtig und zärtlich zu sein ...

»So hör' doch auf, meine Gute,« sagte er. »Nun hast du genug geweint ... Wollen wir nachdenken, vielleicht läßt sich noch ein Ausgang finden.«

Sie sprachen lange hin und her und berieten, wie sie sich von der Notwendigkeit, zu lügen, sich zu verstecken und in verschiedenen Städten zu leben, befreien[180] könnten. Wie wird man diese unerträglichen Fesseln los?

»Wie? Wie?« fragte er und griff sich an den Kopf. »Ja, wie?«

Und es schien ihnen, daß sie bald eine Lösung finden würden, und daß dann ein neues herrliches Leben beginnen könnte; und es war beiden klar, daß das Ende noch in weiter Ferne liege und daß das Schwierigste erst jetzt anfange.

Quelle:
Tschechow, Anton: Die Dame mit dem Spitz, in: Von der Liebe, Weimar 1917, S. 151–181, S. 176-181.
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