102.

Wenn Kranke, die da Wünsche nähren

Und denen es an Kraft gebricht,

Von dir mit Hohn behandelt werden,

Erfüllst du nicht des Mitleid's Pflicht.

Von dir erfuhr ich keine Unbild;

Missfällt dir selbst doch immerdar

Was nicht als Glaubenspflicht erkannte

Des Liebespfades greise Schaar.

Ganz gleichen sich, wenn Reinheit fehlte,

Die Kába und das Götzenhaus:

Wohnt Keuschheit nicht in einem Hause,

So zieht daraus die Wohlfahrt aus.

So lang der Zaub'rer deines Auges

Nicht Hilfe leiht dem Zauberwort,

So lang auch glimmt der Liebe Fackel

Nur immer matt und lichtlos fort.

Das Aug' erblinde, dessen Wasser

Das Liebesfeuer nicht verzehrt,

Und finster sei das Herz für immer,

Das nicht das Licht der Liebe nährt!

Ich wurde erst durch deine Schönheit

Mit meiner Lage ganz bekannt:

Mag ich zu keiner Zeit entbehren

Des Glückes hilfereiche Hand!

Erwarte nur vom Königsvogel

Und seinem Schatten Glück für dich:

Bei Krähen und bei Raben findet

Des Glückes Fittich nimmer sich.

O schmäle nicht, wenn nur in Schenken

Nach hohem Sinne ich gestrebt,

Da – nach dem Worte meines Alten –

Kein hoher Sinn in Klöstern lebt.

Hafis, betreibe stets das Wissen

Und das was feine Sitte lehrt:

Nicht ist, wem feine Sitte mangelt,

Des Umgang's mit dem König werth.

Quelle:
Diwan des großen lyrischen Dichters Hafis. 3 Bände, Wien 1858, Band 1, S. 567-569.
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