109.

Nirgends kann ich Freundschaft schauen:

Wo die Freunde doch geblieben?

Ging die Freundschaft denn zu Ende,

Und wo blieben nur die Lieben?

Trüb erscheint der Quell des Lebens:

Kömmt kein Chiser Glück zu künden?

Farbe änderte die Rose:

Was geschah den Frühlingswinden?

Niemand spricht von einem Freunde,

Der ihm wäre treu geblieben:

Lebt kein Mensch, der Dank empfände,

Und wo weilen nur die Lieben?

Hingeschleudert in die Mitte

Ward der Ball der Gunst und Ehre;

Niemand naht dem Tummelplatze:

Was geschah dem Reiterheere?

Hunderttausend Rosen blühen,

Und kein Vogelruf will schallen:

Was begegnete den Sprossern?

Was geschah den Nachtigallen?

Nimmer spielt Sŏhrē; – die Laute

Scheint den Flammen preisgegeben;

Niemand hat mehr Lust am Rausche:

Wo doch wohl die Trinker leben?

Freundestadt und Liebesscholle

Hiess man ehmals diese Gauen:

Ging die Liebe denn zu Ende,

Und ist kein Monarch zu schauen?

Kein Rubin – schon sind es Jahre –

Ward dem Schacht der Huld entnommen:

Wo doch wohl die Gluth der Sonne,

Wind und Regen hingekommen?

Die geheimen Wege Gottes

Kennt kein Mensch, Hafis; drum schweige,

Denn von wem willst du erfahren

Was der Zeiten Schooss entsteige?

Quelle:
Diwan des großen lyrischen Dichters Hafis. 3 Bände, Wien 1858, Band 1, S. 585-587.
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