71.

Liebchen, du aus heil'gen Fluren,

Sprich, wer löst dein Schleierband,

Und wer reicht dir Korn und Wasser,

Vogel, du aus Eden's Land?

Meinem Aug' entfloh der Schlummer,

Weil mich der Gedanke quält,

Wessen Arm du dir zum Lager

Und zum Schlummerplatz erwählt?

Mir, dem herzenswunden Manne,

Gingst du schnell weg aus dem Arm':

Doch wo fand'st du eine Stätte

Um zu schlummern liebewarm?

Mein Gejammer, mein Geklage,

Nimmer reicht es an dein Ohr:

Schönes Bild, wie hoch du stehest,

Geht daraus ganz klar hervor.

Um den Armen fragst du nimmer,

Und darum besorg' ich sehr,

Fromme Werke und Verzeihung

Kümmern dich wohl nimmermehr.

Du o Schloss, der Herzen Schimmer,

Bist das Haus, wo Freundschaft wohnt:

Vor dem Unglück des Verfalles

Halte dich der Herr verschont!

Wasserlos ist diese Wüste:

Lass es deine Sorge sein,

Dass dich kein Gespenst der Wüste

Täusche je durch Wasserschein.

Meines Herzens Ziel verfehlte

Deine Wimper, pfeilbewehrt;

Doch was hast du jetzt ersonnen,

Das als treffend sich bewährt?[231]

Wie, o Herz, wirst du nun wandeln

Auf des Greisenalters Bahn,

Da die schöne Zeit der Jugend

Dir entschwand in eitlem Wahn?

Auf verliebte Herzen stürmte

Jenes trunk'ne Auge ein:

Nur zu klar zeigt dies Benehmen,

Ein Berauschter sei dein Wein.

Nein, Hafis ist nicht ein Sklave,

Der da seinem Herrn entwich;

Übe Huld und kehre wieder,

Denn dein Zorn verwüstet mich.

Quelle:
Diwan des großen lyrischen Dichters Hafis. 3 Bände, Wien 1858, Band 1, S. 229-233.
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