22.

Leer' ich deiner Lippe Becher,

Wo verweilt die Klugheit dann?

Schau' ich dein berauschtes Auge,

Wer dann wohl mich halten kann?

Bin dein Sclave; wolltest aber

Du von mir befreien dich,

So verkaufe in der Schenke

An den Krugverkäufer mich.

Hoffend in der Schenke fänd' ich

Einen Krug gefüllt mit Wein,

Geh' ich, eine Zecherkanne

Auf der Achsel, nun hinein.

Lust nach deiner Lippe zwinget

Den Săkā des Trinkergau's

Augenwasser aufzugiessen

Vor des Weinverkäufers Haus.

Sage mir doch nimmer: »Schweige,

Oder zieh' den Athem ein!«

Kann man doch nicht: »Schweige!« sagen,

Zu dem Vogel in dem Hain.

Forsche ich nach deinen Spuren,

Die Geduld, wo bleibt sie dann?

Spreche ich von deinen Thaten,

Wer dann masst Verstand sich an?

Seelen mit erstarrtem Herzen

Gibt man Wein, gekocht und gahr;

Wein ist helle Gluth; es sieden

Die Gekochten immerdar.

Als man mit des Liebesultan's

Ehrenkleid mich angethan,

Rief man laut: »Du mög'st es tragen,

O Hafis, doch schweigen dann!«

Quelle:
Diwan des großen lyrischen Dichters Hafis. 3 Bände, Wien 1858, Band 2, S. 133-135.
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