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[154] Daß er – wiewohl mit all' der Bescheidenheit, die dem seingebildeten Manne ziemt – von dieser Erlaubnis Gebrauch machte, versteht sich von selbst, und da die Anmuth seiner Persönlichkeit und der feine Tact fürs Schickliche, der ihm angeboren war, ihn wirklich zu einem sehr angenehmen Gesellschafter machte, durfte er bald keinen[154] Tag mehr im Hause des Gesandten fehlen, ohne sich vermißt, um die Ursach befragt und aufgesucht zu sehen.

Mächtiger noch als diese freundlichen Veranlassungen zog ihn die eigene Neigung und die Wunderkraft an, die durch Erna's Schönheit eine so unwiderstehliche Gewalt über ihn übte. Immer fester webten sich die Zauberfäden, die ihn an sie fesselten, und je mehr er Gelegenheit hatte, sie im engen häuslichen Kreise zu beobachten, wo das Gemüth sich freier als in großen geräuschvollen Zirkeln entschleiert, oder wenigstens sich öfterer unwillkührlich verräth, je mehr bestärkte sich die Ueberzeugung in ihm, daß die liebenswürdigen Eigenschaften ihres Charakters die Reize ihrer Gestalt und die seltene Ausbildung ihrer Talente noch übertrafen.

Zwar schien sie, ihm gegenüber, sich unerschütterlich fest innerhalb der sich streng vorgezeichneten Gränzlinie einer vorsichtigen, selbst kalten Zurückhaltung erhalten zu wollen; aber ihr Wesen, in dem jede Regung Ausdruck der reinsten Natur und der Wahrheit war, konnte nur mühsam und doch nicht täuschend erkünsteln, was sie nicht empfand.

Wenn zuweilen sein Auge plötzlich sie faßte, schien eine rührende Wehmuth in dem ihrigen zu schwimmen, und zarte Theilnahme, die sich[155] durch eine stete leise Achtsamkeit auf alles, was er sagte und that, verrieth, bewies ihm, daß eine geheime Stimme – ihr selbst vielleicht kaum vernehmbar – für ihn in ihrem Busen sprach.

Daß der öftere Wechsel ihrer Farbe, wenn er ihr insbesondere nahte, oder vorzugsweise sie unvermuthet anredete, eher aus einer Aufwallung des Wohlwollens als der Abneigung oder des Unwillens entstand, durfte er, wenn er wahr gegen sich selbst seyn wollte, nicht bezweifeln.

Denn sie duldete seine Bemühungen um sie, wenn sie sich auch Mühe gab, sie scheinbar zu übersehen. Sie wich nicht scheu zurück, wenn er sich mit der eifrigen Gewandheit, als gälte es einen Thron zu erobern, herbei drängte, den Platz neben ihr am Theetisch oder bei der Tafel zu erhaschen, und hatte ihn irgend einmal Konvenienz oder Klugheit gezwungen, dies süße Ziel seines täglichen Strebens einem Anderen zu überlassen, so dünkte ihn eine unbefriedigte Stimmung in ihr und ein leiser Anstrich von Schwermuth in ihren Zügen es zu beklagen. Wie die Sonnenwende die Blüthe ihres Antlitzes stets dem Strahle entgegen neigt, in dem allein sich die erhöhte Kraft ihres Daseyns spiegelt, so war alsdann auch ihre Aufmerksamkeit nur ihm zugewandt, so viel nämlich[156] feiner Weltton und gesellige Rücksichten es nur immer gestatteten.

Gleichwohl, wenn auch alle diese kleinen verrätherischen Kennzeichen eines nicht unbefangenen Herzens ihm Muth gaben, einer förmlichen Erklärung näher und immer näher zu rücken, so vermochte doch schon die zarteste Aeußerung seiner Gefühle, sobald er ihr Worte zu leihen wagte, sie sichtbar zu verschüchtern, und statt einen Schritt vorwärts dadurch auf der Bahn seiner Hoffnung zu gelangen, fand er sich immer um mehrere dadurch zurückgesetzt.

Durch solche Erfahrungen gewitzigt, hüthete er sich wohl, ihr irgend eine Schmeichelei zu sagen, aber unvermerkt wurde sein Ton gegen sie herzlich, und dies schien ihr nicht zu misfallen, ja sie erwiederte sogar zuweilen, wenn es ohne Beziehung auf sich selbst geschehen konnte, die trauliche Innigkeit, mit der er sich an sie anschloß, indem sie mit warmem Antheil ihm zuhörte, und in das, was er erzählte oder behauptete, einging. So wie er aber ihre mild erweichte Stimmung benutzen wollte, sie in ein näheres, heißer von ihm ersehntes Interesse zu ziehen, schien der finstere Genius der Vergangenheit sich wieder zu regen, und mit seinen eiskalt beschattenden Fittigen jeden hellen, freundlichen Eindruck in ihr zu verlöschen. Sie zog sich alsdann,[157] ihm ausweichend, gleichsam in sich selbst zurück, und träumend, sinnend, trauernd, als bemühe sie sich vergebens, die Widersprüche eines dunklen Schicksals zu lösen, dauerte es lange, ehe die genaueste Wachsamkeit auf sich selbst von seiner Seite sie wieder in das vorige ruhige Gleis des freundlich unbefangenen Umgangs zurückbrachte.

Deshalb aber verzagte er keineswegs. Nicht mit stürmender Hand, das fühlte er wohl, durfte er dem mit dem heiligsten Flor bedeckten Geheimnis ihres Lebens seinen Schleier entreißen. Von selbst mußte er dereinst fallen, wenn eine immer nähere Bekanntschaft mit ihm sie nach und nach überführt hatte, daß seine Fehler gebessert, seine Tugenden nicht mehr zufällig, sondern auf die sichere Basis fester Grundsätze gestützt waren, und da er sich wirklich besser fühlte, und auf dem Wege, es mit jedem Tag mehr zu werden, so rückte sein nicht auf Eigendünkel, sondern auf das Bewußtseyn seines moralischen ihm zurückgegebenen Werths gegründetes Selbstvertrauen das schöne Ziel, wo er sie sein nennen dürfe, in keine allzu ferne Zukunft hinaus.[158]

Quelle:
Charlotte von Ahlefeld: Erna. Altona 1820, S. 154-159.
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